Der verstockte Chrysander

[300] Als Gottlieb jüngst ins frische Gras sich setzte,

An einem reinen Bach, und sahe, wie die Fluth,

Bestrahlet durch der Sonnen Gluht,

Durch Schilf und Bluhmen lieblich rann;

Bezeugt' er, wie ihn dieß recht inniglich ergetzte,

Und priese seine Lust Chrysandern an,

Der, wegen einiger Processen,

Ihn zu besuchen kommen war.

Wer kann die Herrlichkeit, sprach er, genug ermessen,

Die die Natur so wunderbar

An allen Orten uns vor Augen leget?

Mein Auge siehet sich nicht satt, wenn es erweget

Den dick-belaubten Wald, den bunt-beblühmten Klee,

Die helle Reinigkeit der gläntzenden Krystallen,

Woran den gantzen Tag ich mich nicht müde seh'.


Das würde mir unmöglich fallen,

Fiel ihm Chrysander ein. Was seh' ich mir daran?

Die Au' ist bunt, der Wald ist grün, der Bach ist klar.

Recht schön ist alles, das ist wahr:

Weil ich dieß aber schnell beschauen kann;

Warum soll ich die Zeit, worin ich was verdienen

Und Geld erwerben mag, hier, wie ein Frosch im Grünen,

Im faulen Müßiggang, verderben?

Sollt' ich nichts anders thun, ich wollte lieber sterben,

Als hier so müßig seyn.


Dem Gottlieb kamen zwar die Thränen in die Augen;

Allein er sagte nichts. Ihm war bewust,

Daß nichts, als Geitz, Chrysanders Brust[301]

Mit gelber Sucht erfüllt, daß folglich alle Lehren,

Ihn aus dem Labyrinth auf rechten Weg zu kehren,

Nur gantz vergeblich sind, und nichts zu wircken taugen:

Weswegen er von andern Dingen sprach,

Ihm einig' Höflichkeit erwies',

Und, ohn' ihn gar zu sehr

Zu nöthigen, ihn von sich ließ.


Kaum war er fort, so dachte Gottlieb nach,

Was doch die Ursach sey, daß aller Farben Schein,

Daß aller Bildung Pracht, der Menschen Hertz nicht rühret;

Daß keiner fast daran was recht behäglichs spüret;

Daß sie fast jedermann

Vor Augen zwar, doch nicht im Hertzen, liegen,

Da jeder sich so schnell daran,

Mit einem blinden Blick, vergnügen,

Und so geschwinde sätt'gen kann;

Daß keiner sie mit Lust betrachtet,

Daß keiner sie des Anblicks würdig achtet,

Muß gleich ein jeder, daß sie schön,

Beym ersten Anblick schon, gestehn.

Bis daß er sich zuletzt auf folgendes besann:

Die Ehrgier, Geld-Sucht, Fleisches-Lust,

Die uns, im Geistlichen, zu Gott den Zugang wehren,

Verriegeln, leider! auch der Menschen Brust,

Daß wir von Gottes Werck nichts sehen und nichts hören.


Ein altes Sprich-Wort sagt: Kein Auge sieht,

Wenn das Gemüth

Beschäfftigt ist mit andern Dingen.

Mehr als zu wahr. Da wir von Jugend an

Die Seel' auf Wollust, Ehr' und Geld zu dencken zwingen;

Wird, durch die leidige Gewohnheit, jedermann[302]

Dadurch in solchen Stand gesetzt, daß wir,

In aller Creatur Glantz, Ordnung, Pracht und Zier,

Für Gottes Wunder taub, für Gottes Wercke blind,

Geschmack- Geruch- und Fühl- los sind:

Einfolglich ist sein Werck für uns vergebens.


Ob aber dieses nun der Endzweck unsers Lebens,

Das Ziel der Seelen ist, und ob man nicht die Spur

Von Gottes Gegenwart in seiner Creatur,

Wenn man sich ihrer freut, entdecket:

Hingegen, ob man sie, wenn man sie nicht betrachtet,

Nicht gleichsam von sich stösst und sie verachtet?

Ist eine Frage, die mich schrecket.

Denn sollte Gott dich so an jenem Tage fragen,

Was meynst du? würd'st du wohl, ohn' Angst und Zittern, sagen:


Mein Gott, ich hab' auf Erden,

Mit solcher Aemsigkeit, getrachtet, reich zu werden,

Daß ich, vor Sorgen, Fleiß, Müh', Arbeit, Laufen, Rennen,

Unmöglich Dein Geschöpf und Dich betrachten können.


Quelle:
Barthold Heinrich Brockes: Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem Irdischen Vergnügen in Gott. Stuttgart 1965, S. 300-303.
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