Kirsch-Blühte bey der Nacht

Ich sahe mit betrachtendem Gemüte

Jüngst einen Kirsch-Baum, welcher blüh'te,

In küler Nacht beym Monden-Schein;

Ich glaubt', es könne nichts von gröss'rer Weisse seyn.

Es schien, ob wär' ein Schnee gefallen.[105]

Ein jeder, auch der klein'ste Ast

Trug gleichsam eine rechte Last

Von zierlich-weissen runden Ballen.

Es ist kein Schwan so weiß, da nemlich jedes Blat,

Indem daselbst des Mondes sanftes Licht

Selbst durch die zarten Blätter bricht,

So gar den Schatten weiß und sonder Schwärze hat.

Unmöglich, dacht' ich, kann auf Erden

Was weissers ausgefunden werden.

Indem ich nun bald hin bald her

Im Schatten dieses Baumes gehe:

Sah' ich von ungefehr

Durch alle Bluhmen in die Höhe

Und ward noch einen weissern Schein,

Der tausend mal so weiß, der tausend mal so klar,

Fast halb darob erstaunt, gewahr.

Der Blühte Schnee schien schwarz zu seyn

Bey diesem weissen Glanz. Es fiel mir ins Gesicht

Von einem hellen Stern ein weisses Licht,

Das mir recht in die Sele stral'te.

Wie sehr ich mich an GOtt im Irdischen ergetze,

Dacht' ich, hat Er dennoch weit grös're Schätze.

Die gröste Schönheit dieser Erden

Kann mit der himmlischen doch nicht verglichen werden.


Quelle:
Walter Killy (Hg.): Deutsche Lyrik von den Anfängen bis zur Gegenwart in 10 Bänden, Band 5: Gedichte 1700–1770, München 1969, S. 105-106.
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