Unverantwortliche Unempfindlichkeit der Menschen, über entferntes Unglück

[706] Gefühl-los menschliches Geschlechte,

Mehr unempfindlich, als ein Stein!

Mit welchem Fug, mit welchem Rechte

Verlangest du, beglückt zu seyn?

Vortrefflich sind dir alle Dinge,

So lange du sie nur nicht hast:

Kaum sind sie dein, sind sie geringe,

Ja werden dir oft gar zur Last.

Ein Mittel, uns ein Ding zu nehmen,

Ist, wenn man uns dasselbe schenckt.

Denn, wenn wir alles überkämen,

Verliert mans, wenn man dran nicht denckt,

Um dieser Plag' uns zu entziehen,

Um danckbar und vergnügt zu seyn;

Will ich anietzo mich bemühen,

Nur erstlich die entfernte Pein,

Die uns iedoch betreffen können:

Auch nachmahls das, so in der That

Des Schöpfers Güt' uns wollen gönnen,

Und man von Ihm empfangen hat,

Mit frohem Ernst zu überlegen.

Vom Unglück will ich viererley,

Wofür uns Gott bewahrt, erwegen:

Krieg, Hunger, Kranckheit, Sclaverey.

Gieb, höchster Herrscher, Deinen Segen,

Daß es nicht ohne Nutzen sey!
[707]

Wie schrecklich sind die Krieges-Plagen!

Wie jammerlich ists anzusehn,

Wann, durch der Bomben schmetternd Schlagen,

Selbst Gottes-Häuser untergehn!

Wann, durch das donnernde Geschütze,

Haus, Hof und Wohnung umgekehrt,

Wann, in der Minen rothem Blitze,

Der Stadt-Wall in die Lüfte fährt!

Wann uns die Blut-besprützten Klingen

Durch Adern, Sehnen, Fleisch und Bein,

Mit zischendem Geräusche, dringen:

Erwegt, was dieß für Plagen seyn!


Wann solch ein Jammer uns verletzet,

Wie hoch wird, zu derselben Zeit,

Der edle Friede nicht geschätzet!

Deß man sich, im Genuß, nicht freut.

Sollt' ieder, der von solchen Plagen,

Durch Gottes Huld, nichts fühlt, nichts weis,

Nicht oft mit froher Seele sagen:

Mein Gott, Dir sey Lob, Ehr' und Preis?


Nicht minder schrecklich ist der Jammer

In einer heissen Hungers-Noth:

Wann in der Scheun' und Speise-Kammer

Kein Vorrath von Getraid' und Brodt.

Wann in den gantz verschrumpften Magen,

Für Hunger schwartz, verdorrt und wild,

Die Menschen Mäus' und Ratzen jagen,

Ja man sich gar mit Unrath füllt:

Wann sie, für Hunger, Aeser fressen,

Ja gar für Angst, für Pein und Muth[708]

Fast selbst der Menschlichkeit vergessen,

Und wüthen in ihr eigen Blut:

Da Weiber eigne Kinder schlachten,

Und durch ihr eigen Eingeweid'

Ihr Eingeweid' zu füllen trachten:

Das heisst wohl recht ein Hertzeleid!

Ja wie wir aus Geschichten wissen,

Daß sie aus ihrem eignen Arm'

Ihr eigen Fleisch heraus gerissen,

Zu füllen ihren leeren Darm.


Wann solch ein Jammer uns verletzet,

Wie wird das Glück zur selben Zeit,

Wann man sein Brodt hat, nicht geschätzet!

Deß man sich, im Genuß, nicht freut.

Sollt' ieder, der von solchen Plagen,

Durch Gottes Huld, nichts fühlt, nichts weis,

Nicht oft mit froher Seele sagen:

Mein Gott! Dir sey Lob, Ehr' und Preis?


Ach! wenn wir auch erwogen hätten,

Wie jämmerlich die Sclaverey,

Wie unerträglich Band' und Ketten,

Und der Verlust der Freyheit, sey!

Wann wir nicht können, was wir wollen;

Wann unser Leib nicht unser ist;

Wann das gequetschte Fleisch geschwollen,

Und uns das Ungeziefer frisst;

Wann wir tyrannischer Barbaren

Spott, Frevel, Bosheit, Uebermuth,

Grimm, Marter, Plag' und Schläg' erfahren,

Die uns zerhenckern bis aufs Blut;

Die, mit fast stündlichem Entseelen,

Selbst in des Kerckers Dunckelheit,[709]

Uns mit der strengsten Arbeit quälen,

Ohn' Aufschub, ohn' Barmhertzigkeit.


Wann solch ein Jammer uns verletzet,

Wie hoch wird zu derselben Zeit

Die süsse Freyheit nicht geschätzet!

Der man sich, im Genuß, nicht freut.

Sollt' ieder, der von solchen Plagen,

Durch Gottes Huld, nichts fühlt, nichts weis,

Nicht oft, mit froher Seele, sagen:

Mein Gott! Dir sey Lob, Ehr' und Preis?


Nicht minder elend und entsetzlich

Ist, wann die nimmer satte Pest

Uns in gesundem Blute plötzlich

Ein wildes Feuer wüthen lässt:

Wann uns ein unerträglichs Brennen,

Als wie ein Blitz, den Leib durchfährt;

Wodurch, eh' wir es hindern können,

Der gantze Cörper fault und gährt.

Wann uns ein Höllen-Durst die Zunge,

Die bittern Geifer schäumet, plagt;

Und unser' eiterichte Lunge

Den Gift durch alle Adern jagt:

Wann wir der besten Freund' auf Erden,

In der durch uns verderbten Luft,

Vergifter, Hencker, Mörder werden,

Durch unsrer Cörper faulen Duft.

Man sieht nicht nur an Krancken kleben

Den Todes-Gift; es scheint der Tod

Noch in den Todten selbst zu leben.

O welch ein Stand! o welche Noth![710]

Wann man, von aller Welt verlassen,

Voll Schmertzen, Elend, Angst, Verdruß,

In solchem Jammer-Stand' erblassen,

Und unbegraben faulen muß.

Ja von den allergrösten Plagen

Der Menschen-mörderischen Pest,

Die uns vertilgt, nicht einst zu sagen:

Sprich, wann dich nur ein Fieber presst;

Wie elend ist schon dann dein Leben?

Wie foltert dein beklemmtes Hertz,

Bey ausserordentlichem Beben.

Ein kaltes Feur, ein wilder Schmertz!

Wie klopft es! scheinet nicht den Rücken,

Als wollt' er in dem strengen Frost,

Nebst allen Knochen sich zerstücken?

Kein Saft, kein Thee, kein Bier, kein Most

Taugt, den erhitzten Durst zu stillen;

Wann, nach verjagtem Frost, das Blut

In Adern, lauter Flammen füllen;

Wann uns die ungestüme Gluht

Auch in den kleinsten Adern wühlet;

Wann ein ergrimmter Feuer-Geist,

Den man bis in die Seele fühlet,

Blut, Sehnen, Fleisch und Marck durchreisst.


Ach! wann uns solcher Schmertz verletzet,

Wie hoch wird zu derselben Zeit

Nicht der Gesundheit Schatz geschätzet!

Deß man sich, im Besitz, nicht freut.

Sollt' ieder, der von solchen Plagen,

Durch Gottes Huld, nichts fühlt, nichts weis,[711]

Nicht oft mit froher Seele sagen:

Mein Gott! Dir sey Lob, Ehr' und Preis?


Es ist ja wohl ein grosses Glücke,

Von solcher herben Quaal und Pein,

Und so entsetzlichem Geschicke,

Gesichert und entfernt zu seyn.

Ach lobt denn Gott, wenn er hienieden,

Statt Sclaverey, Krieg, Hunger, Pest;

Gesundheit, Nahrung, Freyheit, Frieden,

Uns schenckt, und uns erleben lässt!

Mein Gott, gieb mir es zu erkennen,

Und laß mich stets zu Dir allein

In froher Danck-Begierde brennen,

Und, fern von Unglück, fröhlich seyn!

Gieb, daß, wenn etwan Kleinigkeiten,

Wie leider stets bey uns geschicht,

Mich zum Verdruß und Murren leiten,

Ich selbst mir diesen Unterricht

Mit einem frohen Nachdruck gebe:

Da ich gesund, genähret, frey,

Und in erwünschtem Friede lebe,

Trag' ich zu murren billig Scheu.

Wofern man nun an diesen Schätzen

Mehr, als man leider sonsten pflegt,

Zu Gottes Ehren, sich ergetzen,

Und stets zur Danckbarkeit bewegt,

Aus allen Kräften Ihn zu lieben,

Und Seinen Namen zu erhöhn,

Zeit Lebens wird seyn angetrieben;

Wird man sich recht beglücket sehn.
[712]

Quelle:
Walter Killy (Hg.): Deutsche Lyrik von den Anfängen bis zur Gegenwart in 10 Bänden, Band 5: Gedichte 1700–1770, München 1969.
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