[34] Die Nacht verstrich. Der Morgen schummert.
Hat unser Bählamm süß geschlummert?
Kennst du das Tierlein leicht beschwingt,
Was, um die Nase schwebend, singt?
Kennst du die andern, die nicht fliegen,
Die leicht zu Fuß und schwer zu kriegen?
Betrachte Bählamm sein Gesicht.
Du weißt Bescheid, drum frage nicht.
[34]
Hier auf dem Dreifuß unterm Flieder
Sitzt er bereits und dichtet wieder.
Der Knabe Jörg, in froher Laune,
Bemerkt ihn durch ein Loch im Zaune,
Er zieht die Nadel aus der Mütze,
Durchbohrt damit die Hakenspitze
[35] Und hat verschmitzt auch schon begonnen
Den kleinen Scherz, den er ersonnen.
Der Dichter greift sich ins Genicke.
Mal wieder, denkt er, eine Mücke.
[36]
Er nimmt die Hand in Augenschein.
Es mußte doch wohl keine sein.
Kaum hat er dies als wahr befunden,
So kommt ein Stich direkt von unten.
[37] Um diese Gegend zu beschützen,
Kann man das Sacktuch auch benützen.
Insoweit wäre alles gut.
O weh! Wohin entschwebt der Hut?[38]
»Ein leichtes Kräusellüftchen!« rief er,
Holt seinen Hut und setzt ihn tiefer.
Ganz arglos will er sich soeben
Zurück auf seinen Sitz begeben.
Doch die gewohnte Stütze mangelt.
Der Dreifuß wird hinweggeangelt.
Anstatt in den bequemen Sessel,
Setzt er sich in die scharfe Nessel.[39]
Und hell durchblitzt ihn der Gedanke:
Es sitzt wer hinter dieser Planke!
Sehr gut in solchen Fällen ist
Bedachtsamkeit, gepaart mit List.
Verlockend und zugleich gespannt
Setzt er sich wieder vor die Wand.[40]
Aha! Und jetzt wird zugefaßt,
Und trefflich hat er's abgepaßt;
Denn grad im Zentrum bohrte sich
Durch seine Hand der Nadelstich.
Natürlich macht ihn das nervos.
Der Jörg entfernt sich sorgenlos.
[41]
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