Nro. 5

[393] Welchem ihr euch begebet zu Knechten in Gehorsam des Knechte seid ihr, sagt Paulus; Ουδεις ελευϑερος έαυτου μη κρατων, sagt Pythagoras beim Stobäus. Usw.

Dieser fremde Einfluß auf den Willen des Menschen von Dingen die tief unter ihm und sein nicht wert sind, dies »radikale Böse in der menschlichen Natur«, diese Abhängigkeit und Knechtschaft, dieser Mechanismus in einem Wesen das die Freiheit von fern reucht und zur Herrschaft wiehert, dieser Flecken[393] in der Sonne, diese Kette um die Flügel des Engels – ist die große Angelegenheit des ganzen Geschlechts, und das Crève-cœur jedes rechtlichen Mannes. Und: die Aussicht und Hoffnung, dieser schmählichen Kette los; das Mittel, recht frei zu werden – ist das Größte und Höchste unter dem Himmel das in des Menschen Verstand, ist das Fröhlichste und Seligste das in sein Herz kommen kann, nach welcher Seligkeit auch gesuchet und geforschet haben die Propheten und alle wahre Weisen von der Welt her.

Und dies Mittel ist das ursprüngliche und eigentliche Geheimnis der Religion. – Nicht Zweckvorstellung – nicht Gottesverehrung, die findet sich dann von selbst und will nicht ausbleiben.

Von diesem Geheimnis nun weiß die bloße Vernunft nicht, und kann es nicht begreifen.

»Die Religion innerhalb den Grenzen der bloßen Vernunft, vorgestellt von Immanuel Kant.« S. 49. »Wie es nun möglich sei, daß ein natürlicherweise böser Mensch sich selbst zum guten Menschen mache, das übersteigt alle unsre Begriffe«.

S. 7. »Der erste subjektive Grund der Annehmung moralischer Maximen ist unerforschlich.«

S. 61. »Die Tiefe des Herzens (der subjektive erste Grund seiner Maximen) ist ihm selbst unerforschlich.«

»Kritik der Praktischen Vernunft etc.« S. 128. »Wie ein Gesetz für sich und unmittelbar Bestimmungsgrund des Willens sein könne, das ist ein für die menschliche Vernunft unauflösliches Problem, und mit dem einerlei, wie ein freier Wille möglich sei.« Usw.

Was die menschliche Vernunft hier selbst von sich und ihrer Unzulänglichkeit und Unwissenheit gesteht, das bestätigt und beweist sie auch durch die Art und Weise, wie sie Besserung bewürken will, und durch die Mittel die sie dazu vorschlägt, als die zwar, an sich, sehr respektabel und nützlich, und, in Ermangelung eines Bessern, sehr annehmlich und dankenswert, aber nur Palliative sind, und kein Rat.

Wenn Kant. Z.E., der vor andern mit Scharfsinn feiner Gewandtheit und oft Erhabenheit über die moralische Angelegenheiten spricht, wenn der den Leser (Pr. V. 154) »mit der Pflicht, die nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in sich faßt, sondern Unterwerfung verlangt und bloß ein Gesetz aufstellt – vor dem alle Neigungen verstummen, wenn sie[394] gleich im geheim ihm entgegenwürken«, und mit der »Heiligkeit, Größe und Majestät des moralischen Gesetzes«, bekannt gemacht; wenn er ihn (R. 38) vom »Herausbringen des faulen Flecks unserer Gattung, der den Keim des Guten hindert, sich, wie er sonst wohl tun würde, zu entwickeln«, und davon (Pr. V. 144 etc.) daß »der Mensch sich ohne alles Interesse bloß durchs Gesetz«, »nicht allein dem Gesetz gemäß sondern um des Gesetzes willen«, »bestimme etc.«, unterhalten und belehrt hat, und der warm und auf Rat und Weg und Mittel zu so großen herrlichen Dingen lüstern gewordene Leser nun Herz und Ohren offenhält; so ist die Rede: von »Maximen« und »Aufnehmen des moralischen Gesetzes in seine Maximen«; von »Umkehren des obersten Grundes böser Maximen durch eine einzige unwandelbare Entschließung« (R. 54 etc.); von »Regemachen des Gefühls der Erhabenheit seiner moralischen Bestimmung« (59); von »Darstellung der Menschheit in ihrer moralischen Vollkommenheit, als Beispiel der Nachfolge für jedermann« (112) usw. So »gibt es« (R. 115) »schlechterdings kein Heil für die Menschen als in innigster Aufnehmung echter sittlicher Grundsätze in ihre Gesinnung«; so ist (P.V. 139) »Achtung fürs moralische Gesetz die einzige und zugleich unbezweifelte moralische Triebfeder« etc. Summa: du sollst keine andre Götter haben neben dem moralischen Gesetz; sollst das moralische Gesetz über alle Dinge fürchten lieben und vertrauen.

Ja, das wußten wir lange. Das hat uns Moses schon vor drei- bis viertausend Jahren gesagt. Aber:


Vom Fleisch will nicht heraus der Geist,

Vom G'setz erfodert allermeist.


Was den Maximen unmöglich ist, sintemal sie durch das Fleisch geschwächt werden, das war's was wir wissen wollten, und das ist's was die bloße Vernunft uns nicht sagt, und nicht sagen kann, weil sie es nicht weiß.

Wenn's hoch kommt, so sieht sie, nach der Bibel, noch wohl ein, wovon eigentlich die Rede ist und was dazu erfodert wird; so weiß sie noch: daß (R. 53) »Tugend nach und nach und durch allmähliche Reformen seines Verhaltens erworben werden könne«; daß aber das (R. 54) »daß jemand nicht bloß ein gesetzlich, sondern ein moralisch guter Mensch werde, welcher, wenn er etwas als Pflicht erkennt, keiner andern Triebfeder weiter bedarf als dieser Vorstellung der Pflicht selbst«: daß das »nicht durch allmähliche Reform, solange die Grundlage der Maximen[395] unlauter bleibt, bewürkt werden kann, sondern durch eine Revolution in der Gesinnung im Menschen (einen Übergang zur Maxime der Heiligkeit derselben) bewürkt werden« muß, und daß »er ein neuer Mensch nur durch eine Art von Wiedergeburt, gleich als durch eine neue Schöpfung und Änderung des Herzens werden kann«.

Das ist aber auch das letzte was sie weiß, und gleichsam der Grenzhügel, von dem sie, wie Moses, ins Gelobte Land hineinsieht. Aber selbst kann sie nicht hinein.

Statt nun, daß sie hier demütig stehenbleiben, und ihre Stirn auf die Erde legen sollte, fängt sie an zu klügeln und allerhand Bedenklichkeiten, Einwendungen und Zweifel zu machen, und meint am Ende, da sie nicht hinein kann, daß gar kein Weg hineingehe.

There was never yet fair woman but she made mouths in a glass.

Das sollte sie aber nicht tun, ihrer eignen Ehre wegen. Denn, wenn sie einmal selbst gestanden hat, daß sie, von der Möglichkeit eines freien Willens und dem Wege dazu, nichts verstehe und sagen könne, so sollte sie auch davon nichts verstehen und sagen wollen. Auch ist es gar zu klar, was es mit diesen Zweifeln und Einwendungen auf sich haben könne, und wie gleichgültig es für die Religion und für den Glauben an sie sei, ob sie gemacht oder nicht gemacht, beantwortet oder nicht beantwortet werden.

Man sollte doch fast denken, daß etwas, das der Philosoph nicht weiß, darum noch gewußt werden könne. »Every reader«, sagt Hume, »may not trust so far to his own penetration as to conclude, because an argument escapes his enquiry, that therefore it does not really exist.« Und hier ist der Fall noch etwas anders, als zwischen reader und reader.

Die Vernunft kann über die Neben- und Außenwerke der Religion, über religiöse After- und Truggemächte etc. urteilen, recht oder unrecht; sie kann Menschen, die es nicht besser wissen, durch Einwendungen und Zweifel und, durch ein Schattenspiel der Religion an ihrer Wand, irremachen; aber die Religion selbst, ihr Wesen und Geheimnis kann sie nicht treffen.

Das liegt ja nicht innerhalb den Grenzen der bloßen Vernunft, und bleibt, bei allem was diese sagen und tun kann, unverletzt und unbewegt liegen wie Myrons Kuh, oder, besser, wie die Sonne hinter der Wolke, die durch die gegen sie abgeschossene[396] Pfeile nicht beleidigt wird, und großmütig fortfährt auf den Schützen zu scheinen.

O du großmütige Sonne hinter der Wolke – du scheinest im Verborgenen. Der Mensch siehet dich nicht, und kennet dich nicht. Aber die Sage von dir ist je und je unter den Menschen gewesen; und aller Menschen Herz begehret dein, und sehnet sich nach dir. –

»Der Instinkt«, sagt Kant (R. 20), »ist ein gefühltes Bedürfnis etwas zu tun oder zu genießen, wovon man noch keinen Begriff hat.« – Der Instinkt ist denn selbst zugleich ein Beweis, daß es einen solchen Genuß gibt. Es muß also doch wohl für den Instinkt der besseren Natur, für den alleredelsten Instinkt, auch einen Genuß geben, gesetzt auch daß nicht alle Menschen einen Begriff davon hätten, oder zu einem Begriff darüber kämen. –

Die sichtbare Welt ist der Spiegel, darin wir die unsichtbare Welt sehen sollen. Nun finden und sehen wir, daß Gott für alle Keime der körperlichen Natur gesorgt, und zu ihrer Entwickelung Veranstaltungen gemacht hat. – Und er hätte den Keim, der ihm vor allen der liebste, der ihm nahe verwandt und seines Geschlechts ist, den Keim zum Guten der in des Menschen Brust wohnt, vergessen und Waise gelassen? –

Ist eine neue Schöpfung unmöglicher als die erste, die wir doch nicht leugnen können? –

Wohl ist diese »neue Schöpfung«, diese »Herzensänderung«, diese »Revolution in den Gesinnungen im Menschen«, dieser »Übergang zur Heiligkeit derselben«, diese »Wiedergeburt«, diese Auferstehung eines neuen Lebens aus dem Tode – etwas Übergroßes, ϑαυμαστον τι Aber:


περι ϑεων μηδεν ϑαυμαστον απιστει μηδε περι

ϑειων δογματων


sagten die Pythagoreer.

»Wenn von den Göttern und göttlicher Lehre die Rede ist, soll dir, wie übergroß es auch laute, nichts zu groß und unglaublich dünken.«

Denn, wie der Himmel über die Erde, sind ihre Gedanken, und ihre Fülle ist wie die Fülle des Meers. Tritt ans Ufer und siehe hin auf seine Höhe – Das Wasser wird ihm nicht fehlen, wenn deine Rosse trinken.

Es ist zugleich hieraus klar, wie wenig die Leute ihre Sache und ihren Vorteil kennen, die ihre Religion von allem Geheimnisvollen[397] freien und reinigen wollen. Freilich »alles, auch das Erhabenste, verkleinert sich unter den Händen der Menschen«, und so wollte das Geheimnis der Religion unter ihren Händen auch wohl verkleinert und vergrößert, verstümmelt, verstellt und verkannt, und der Herkules viel oft an Händen und Füßen gelähmt und untüchtig gemacht werden, Schlangen zu erdrücken und bis ans Ende der Welt zu gehen. Indes ist die Wahrheit immer gerne verdeckt und im Dunkel gewesen – ac si, wie Baco sagt, divina Majestas innoxio illo et benevolo puerorum ludo delectaretur, qui ideo se abscondunt ut inveniantur – und, wenn in einer Religion überhaupt Wahrheit wohnt; so wohnt sie in ihren verhüllten Punkten und Rätseln. Wenn also die Menschen ohne Unterschied aufräumen, applanieren oder über Bord werfen, anstatt daß sie suchen sollten, durch innerliche Tätigkeit durch Hungern und Dürsten nach der Wahrheit und durch Geduld in guten Werken und Gesinnungen, aufzulösen; so handeln sie nicht klug, und wider sich selbst.

Ebenso unklug ist es auch, wenn einige Künstler ihre Religion verbessern wollen. Die Wahrheit bedarf keiner Verbesserung.

Wie gesagt, die Neben- und Außenwerke oder wenn es Religionen gibt die nur Außenwerk sind, das kann die Vernunft wohl verbessern; aber weiter nicht. Wie soll sie verbessern, wovon sie nicht weiß und was sie nicht begreift? Religion ist nicht Ideenkrämerei, sondern Sache, eine Kraft Gottes selig zu machen die sie ergreifen können. Moral führt freilich zur Religion, aber kurz und gut, wie Armut und Bedürfnis vor die Tür des reichen Mannes führt. – Sokrates sagt beim Plato: es sei nicht leicht zu erklären, wie die Menschen gut würden. Doch vermute er: daß die guten Menschen auf ebendie Art würden, wie die göttlichen Seher, nämlich ουτεω φυσει ουτε τεχνη αλλ' επιπνοια εκ των ϑεων. Man könnte dies auch umkehren, und sagen: die Menschen würden Seher, auf ebendie Art, wie sie gut werden. Die verschiedenen Kräfte, in einem Wesen wie ein Geist ist, hangen zusammen und machen Eins, und keine kann berührt und verändert werden ohne die andre. Wie influiert nicht schon der Wille des Menschen, nach den kleinen alltäglichen Verschiedenheiten und Nuancen, auf seinen Verstand? Es ist also abzusehen, daß eine Revolution in den Gesinnungen der Menschen nicht möglich sei, ohne eine Revolution in seinen denkenden Kräften, und daß, wenn jene zur Heiligkeit übergehen, diese[398] nicht zurückbleiben können. Von einer solchen etwanigen Veränderung scheint zu einigen alten Philosophen ein halbes Wort gekommen zu sein. Sie sprechen von einer trockenen Seele, von einem trockenen Licht, das nämlich von dem feuchten Nebel und den Dünsten des heterogenen Einflusses befreiet und gereinigt worden, und sprechen von dieser Verbesserung in einem solchen Ton, daß niemand die Logik und derlei Mittel in Verdacht haben kann, als ob die daran schuld gewesen wären oder jemals sein könnten.

Kurz, die Wahrheit verbessert. Und wer sie hat, des ganzes Geschäft ist, sie zu nutzen, und sie heiligzuhalten und für ihre Erhaltung zu sorgen.

So machte es auch Äneas. Als die Trojaner ihre eigne Mauern eingerissen, und selbst die Griechen hereingeführt hatten, und die ganze Stadt in Flammen stand, sagte er zum Anchises:


Tu genitor, cape SACRA manu, patriosque PENATES.

Me, bello e tanto digressum et caede recenti,

Attrectare nefas; donec me flumine vivo

Abluero.

Und trug so die Heiligtümer in den Händen des Vaters auf dem Rücken aus dem Feuer heraus nach dem alten Tempel und Zypressenbaum vor der Stadt, dahin er seine Genossen beschieden hatte.

Quelle:
Matthias Claudius: Werke in einem Band. München [1976], S. 393-399.
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