Sämund der Sieger

[259] Odhins Sohn war

Sämund, der Sieger,

Sämund, der Sieger

In See und in Saal:

Es mochten ihn Männer und Maide,

Wo er nahte, der mächtige Mann!
[259]

Zaubernd zog er

– Kein Zweiter zwang ihn –

Über die Erde

Mit goldenem Apfel:

Drob mühte sich manches Mädchen

Umsonst, zu bemeistern den Mann.


In den Frau'nsaal

Freundlich der Fremde

Trat, wo die trefflichen

Töchter thronen:

Er war schimmernd und schön zu schauen,

Wie der schiere Sonnenschein.


»Die den Apfel

Achtsam auffängt,

Welchen ich werfe,

Darf Wunsch sich wählen:

Was das minnige Mädchen meine, –

Mag alles, muß alles ihr sein.


Aber ins Auge

Muß sie mir aufschau'n,

Während den Wunsch

Und den Wurf wir wagen:

Und vermag nicht zu haschen die Maid ihn, –

Muß sie bieten zum Kuß mir den Mund.«


Lang durchzog er

Lächelnd die Lande;

Manches Mädchen

Mußte den Mund ihm

Errötend, den rosigen, reichen, –

Den Rundapfel erreichte sie nicht:
[260]

Glanz geblendet

Glitt ihr Blick,

Schaute sie scheu

In das Schimmerauge:

Es umfing ihr wie Ohnmacht den Atem,

Und zur Erde irrte der Apfel.


Also siegreich

Segelte Sämund. –

Nun nach Niördhland

Nahte sein Nachen:

Da hauste die herrliche Halla,

Die Herrscherin hehr und hold.


Sie sah vom Söller

Ihn seeher schreiten:

Sättigte – sicher! –

Sich der Anschau:

»Nun, Frigg und freundliche Freya,

Nun befreundet mich morgen früh.« –


In den Frau'nsaal

Früh trat der Fremde:

Da ragte die Reizende

Hoch aus der Reihe:

»Wirf, wirf nur den Apfel! doch wisse

Zugleich auch der Wirtin Wunsch!«


Schauernd erschaut' er

Die Schimmerndschöne:

Wirre ward ihm,

Weh und wonnig:

Und er wußte nicht, wie zu werfen

Und er wagte nicht, wegzusehn.
[261]

Nur ganz nah flog

Und niedrig der Apfel:

Doch springend sprach sie

Das sprühende Wort:

»Mein ward schon der Wurfapfel: –

Ich wünsch' mir den Werfer dazu!«


Hoch in Händen

Den Apfel hielt Halla:

Knieend küßte

Die Hand ihr der Kühne:

»Mein ward er, der Meister der Minne,

Keinem Mädchen mehr müht er den Mund.«

Quelle:
Felix Dahn: Gesammelte Werke. Band 5: Gedichte und Balladen, Leipzig 1912, S. 259-262.
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