Venus Fantasia!

[112] Leih mir noch Einmal die leichte Sandale;

sage, wer bist du, holde Gestalt?

Reich' mir die volle, die funkelnde Schale,

die du mir fülltest so viele Male!

Bist du die Jugend? Werde ich alt?


O! dann fülle die funkelnde Schale;

warum entweichst du mit aller Gewalt?

Leihe, o leih mir deine Sandale!

Willst du verschwinden mit einem Male,

weil ich Tor dich einst Törin schalt?


Jetzt, jetzt preis'ich die leichte Sandale;

horch, o horch, wie mein Loblied schallt!

Reich' mir noch Einmal die volle Schale!

Laß sie mich schlürfen zum letzten Male,[112]

eh du verschwindest – o halt! halt! halt –


. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .


Ach – muß jeder Traum so enden?

Nüchtern lichtet bald der Tag

meine dämmergrauen Wände.

Und von Stern zu Stern hin sinn'ich nach,


wie doch jüngst dein flüchtiger Trost mich freute,

hoch in einer hellen Nacht,

die ich ruhelos wie heute

unter Geistern zugebracht,

Quelle:
Richard Dehmel: Die Verwandlungen der Venus. Berlin 1907, S. 112-113.
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