4.

[60] Noch einen muß sein Fuß zertreten;

Noch ist Garcia nicht am Ziel.

Der Zufall trieb sein grausam Spiel

Mit der Verzweiflung des Athleten;

Wer richtet dieses Mannes Thun?

Er weiß zu lieben und zu hassen. –

Zehn volle Jahre sind es nun,

Seit Weib und Tochter er verlassen.

Das Schicksal hat mit rauher Hand

Ihm manchen Racheplan zertrümmert,

Erschöpft, gealtert, tiefbekümmert,

Ein Bettler, pilgert er durchs Land.

Drei Wanderjahre sind verloren,

Pferd, Sattelzeug und Silbersporen

Verkauft, die Kräfte aufgerieben;

Doch trotzig ist sein Herz geblieben,

Feurig sein Grimm, sein Wille mächtig.

Und endlich, langsam und bedächtig,

Hat er vermocht, durch Wälder, Steppen,

Bis Cuyabá sich hinzuschleppen.

Nicht lange rasten will er dort,

Nein, von dem weitentlegnen Ort,

Brasiliens Grenze überschreitend,

Den Paraguay hinunterfahren.

Vor Trägheit weiß er sich zu wahren,

Solange, seine Schritte leitend,[61]

Ihn ewig schwankende Gerüchte,

Die seines Fleißes letzte Früchte

In immer dichtern Nebel hüllen,

Mit immer neuer Wut erfüllen.


Bestäubt, mit wunden Füßen, krank,

Steht er, durchbebt von Fieberschauern,

Vor eines schmucken Hauses Mauern

Und sinkt auf eine Gartenbank.

Da wird ein Fenster aufgerissen,

Und eine Stimme fragt: »Woher

Des Weges, Freund?« – »Ihr glaubt es schwer;

Doch meinetwegen mögt Ihr's wissen,

Ich komme von Sanct-Paul,« entgegnet

Garcia. – »Was? Und etwa gar

Ein Paulistaner?« – »Ja, fürwahr!« –

»O, diese Antwort sei gesegnet!

Ermattet scheint Ihr, altersschwach,

Herein! Ich will Euch schon verpflegen.«

Garcia läßt sich leicht bewegen.

Schon ist er unter Dach und Fach

Und denkt: Hier ist es gut zu wohnen;

Wie gastlich hier die Leute sind! –

Bald kommt ein blondgelocktes Kind

Und bringt ihm seine schwarzen Bohnen,1[62]

Ein Fleischgericht, ein volles Glas,

Und spricht: »Die Mutter schickt Euch das,

Die vor der Hausthür Euch gefunden,

Und sagen soll ich: Laßt's Euch munden!

Und ferner: Wenn Ihr dann gespeist,

Kommt sie hieher und hört Geschichten,

Die müßt Ihr selber uns berichten,

Weil Ihr so weit herumgereist.«

Der Kleine fühlt sich sehr geschmeichelt,

Daß ihn Garcia plaudern läßt,

Ihm seine feinen Haare streichelt

Und sie mit heißen Thränen näßt.

Dann fährt er fort: »Ich mag Euch gerne,

Weil Ihr so weit gewandert seid;

Das thut auch meiner Mutter leid.

Doch wißt, wir kamen auch von ferne,

Von Sorocaba kamen wir;

Großmutter seh' ich manchmal weinen,

Auch meine Mutter weint mit ihr;

Großvater aber hab' ich keinen,

Er ist es grade, den sie meinen,

Wenn heimlich sie zusammen sprechen.« –

Garcia überläuft es kalt;

Doch, sich bemeisternd, ruft er: »Halt!

Ich muß die Rede unterbrechen;

Wie hieß – wie hieß Großvater? Sprich!

In deinen Augen kann ich's lesen,[63]

O, wenn er seinem Enkel glich,

Ist er ein ganzer Mann gewesen!«

Das stimmt den Knaben doppelt heiter,

»Januario hieß er, so wie ich!«

Antwortet er. – »Und weiter – weiter?« –

»Garcia.« – – Auf das Zauberwort

Ist zwar der Frager vorbereitet,

Doch die Gewißheit reißt ihn fort;

Er hat die Arme ausgebreitet,

Er will in stürmischem Entzücken

Das Kind an seinen Busen drücken.

Ja, jeder Zweifel ist gehoben,

Ja, diese Fügung kam von oben,

Die unerhörte, wundersame –

Der Herr verläßt die Seinen nie!

»Jetzt aber,« ruft Garcia, »wie,

Mein Sohn, ist denn des Vaters Name?«

»Bento da Silva.« – – Gott der Gnade!

So schleuderst du auf dunkle Pfade

Den Wetterstrahl, den Donnerkeil?

So lenkst du den verlornen Pfeil,

Der kraftlos durch die Lüfte zittert

Und bald des Adlers Schwingen streift

Und bald sein stolzes Herz zersplittert?

Bento da Silva! – – Kaum begreift

Garcia diese Schreckenskunde –

Weib, Tochter gegen ihn im Bunde,[64]

Verkauft, verraten von den Seinen? –

Sprachlos, bis in den Tod erschrocken,

Entsetzt, betrachtet er den Kleinen,

Und plötzlich hört er ihn frohlocken:

»Nach meinem Vater fragt Ihr? Seht,

Hier ist er!« – Auf der Schwelle steht

Ein junger Mann von feinen Zügen,

Der freundlich auf Garcia blickt.

»Daß hier ein Landsmann sich erquickt,«

Ruft er herein, »macht mir Vergnügen.«

Da spricht mit neubelebter Kraft

Garcia diese Worte: »Prahle

Du nicht mit unsrer Landsmannschaft,

Bento da Silva, sondern zahle

Dem Gaste seinen Finderlohn:

Sei mir willkommen, Schwiegersohn,

Zum ersten und zum letzten Male! –«

Von namenlosem Schmerz erfaßt,

Erwidert sein Besucher: »Müssen

Wir hier uns wiederfinden, laßt,

O Vater, Eure Hand mich küssen!

Mein Leben ist verwirkt – Ihr könnt

Es nehmen, wann Ihr wollt; ich stehe

Wehrlos Euch gegenüber, flehe

Nicht um Erbarmen; doch vergönnt

Mir, den Ihr Schwiegersohn geheißen,

Der nur mit Trauer Euch betrachtet,[65]

Ein Herz, das nach Verzeihung schmachtet,

Vor Euern Blicken aufzureißen.

Die tiefe, nie vernarbte Wunde,

Sie brennt, sie blutet immerdar

Seit jener unglücksel'gen Stunde.

Garcia, hört mich an: Ich war

Ein Kind, ein vierzehnjähr'ger Knabe,

Der jüngste Eurer Feinde, habe,

Von meiner Brüder Wut bethört,

Als sie ihr armes Opfer fanden,

Der grausen That nicht widerstanden ...

Ihr wendet Euch von mir, empört –

Antwortet nicht, bis ich vollendet.

Ich war nicht grausam, nur verblendet;

Ich weiß nicht, wie es zugegangen

An jenem Tage voller Schrecken,

Weiß nur, daß mich die andern zwangen,

Auch meine Hände zu beflecken.

Gott hört es, was ich hier beteure:

Ich war verführt und eingeschüchtert,

Und doch – wie hat das Ungeheure

Des Frevels plötzlich mich ernüchtert!

Die Reue brannte lichterloh

In meinem Busen, – ich entfloh

Der Greuelstätte, und geschieden

Von meinen Brüdern, stets allein

Und ohne Hoffnung, ohne Frieden,[66]

Nicht, weil ich Euch gefürchtet, nein!

Weil vor mir selber ich erbebte,

Bin ich durchs Land geflohen. – Ach!

Was ich zu töten mich bestrebte,

Ward immer, immer wieder wach.

Was half's, die Welt mir zu beschauen?

Verloren war mein Lebensglück,

Und endlich trieb es mich zurück

In unsre heimatlichen Gauen. –

Gereift durch jahrelange Leiden,

Kein Kind und auch kein Jüngling mehr,

Fand ich mein Haus verödet, leer –

Dennoch der Reich're von uns beiden:

Denn Euer Herd lag in Ruinen.

Verwundrung spricht aus Euern Mienen, –

Das habt Ihr freilich nicht bedacht

In Eurer väterlichen Würde: –

Gattin und Tochter, welche Bürde!

Wer seinen Herd nicht überwacht,

Der tritt sein eignes Herz mit Füßen.

Das Elend stand vor ihrer Thür –

Sagt an, was konnten sie dafür?

Was hatten Weib und Kind zu büßen?

Die Mutter, krank und lebensmatt,

Die Tochter, eine blasse Rose.

Ich sah die Holde, Vaterlose,

Verlass'ne – und an Eurer Statt,[67]

In tiefempfundner, süßer Reue,

Was Ihr versäumt, hab' ich gethan.

Und sie? – – Sie schloß sich an mich an,

Und – ward mein Weib, das liebe, treue.

Wohl hatten wir gekämpft, gelitten,

Bis wir der Mutter Herz bezwungen;

Doch war auch dieses uns gelungen

Mit unsern thränenreichen Bitten.

Der Himmel sei mir dessen Zeuge,

Nur eines hat sie nie erfahren:

Daß ich in meinen Knabenjahren

Dem Morde beigewohnt. – Ich beuge

Mein Haupt vor dem, der alles weiß;

Er wird die Lüge mir vergeben.

Mir aber schien es sein Geheiß,

Noch einmal wieder aufzuleben. –

Es hieß bei uns, daß Ihr gestorben,

Drei meiner Brüder schon gefallen,

Drei ausgewandert, von uns allen

Ich, der um Euer Kind geworben,

Der letzte – fragt mich nicht, warum

Der Heimat dennoch ich entsagte;

Ihr wißt, was mir am Herzen nagte.

Versilbert ward mein Eigentum,

Und eilig zogen wir von dannen,

Bis endlich hier in Cuyabá

Ein neues Dasein wir begannen,[68]

Der Herr hat uns gesegnet. – Ja,

Wenn von der blutgetränkten Stelle

Uns weite Länderstrecken trennen,

Darf ich auf dieses Hauses Schwelle,

Vor Eurem strengen Angesicht

Euch weinend Schwiegervater nennen.

Denn fragt die Meinen, ob sie nicht

Dankbar des Schöpfers Hand erkennen,

Die zwei verwaiste Herzen heilte!

Er hat ein Söhnchen uns beschert

Und so sein Füllhorn ausgeleert. –

Wenn Euer Zorn nur mich ereilte,

Ich läge nicht auf meinen Knieen;

Habt Ihr der Unschuld nichts verziehen,

Müßt neue Thränen Ihr erpressen,

Garcia, könnt Ihr nichts vergessen –

Wohlan, der Schuldner ist bereit!

Er gibt Euch Weib und Tochter wieder;

An ihnen übt Barmherzigkeit

Und an dem Enkel. – Meine Zeit

Ist abgelaufen – stoßt mich nieder!«


Da schaut, in tiefer Ueberlegung,

Garcia zögernd, halb besiegt,

Auf seinen Wirt; doch bald verfliegt

Die zarte, ungewohnte Regung;

Das Mitleid ist wie weggeblasen –[69]

»Bah!« denkt er, »lauter glatte Phrasen,

Entschuldigungen, faule, hohle,

An mir verschwendet, armer Tropf!«

Reißt aus dem Gürtel die Pistole,

Jagt ihm die Kugel durch den Kopf,

Die lange schon für ihn gegossen –

Und Frauenstimmen hört er schrein.

Weib, Tochter stürzen rasch herein;

Doch er, von Pulverdampf umflossen,

In voller Mannesmajestät

Ruft ihnen zu: »Ihr kommt zu spät!

Es war in Jenes Rat beschlossen,

Der mich zum Richter eingesetzt. –

Laß deine Donner niederbrausen,

O Herr, ich bin gerächt! – Und jetzt

Betrachtet ihn mit Stolz und Grausen,

Den allerletzten von den Sieben.

Dann, euch begrüßend, meine Lieben,

Darf ich getrost die Hände falten –

Ich habe treulich Wort gehalten!

Ich bringe dir ein Prachtgeschmeide,

O Weib, zu deinem Trauerkleide:

Sieh her, vollendet ist es schier

Und deiner würdig, wenn ich hier

Ein letztes Ohr herunterschneide.«

Fußnoten

1 Das brasilianische Nationalgericht.


Quelle:
Ludwig Ferdinand Schmid: Dranmor’s Gesammelte Dichtungen, Frauenfeld 41900, S. 60-70.
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