Meine Toten

[85] Wer eine ernste Fahrt beginnt,

Die Mut bedarf und frischen Wind,

Er schaut verlangend in die Weite

Nach eines treuen Auges Brand,

Nach einem warmen Druck der Hand,

Nach einem Wort, das ihn geleite.


Ein ernstes Wagen heb' ich an,

So tret' ich denn zu euch hinan,

Ihr meine stillen strengen Toten;

Ich bin erwacht an eurer Gruft,

Aus Wasser, Feuer, Erde, Luft,

Hat eure Stimme mir geboten.


Wenn die Natur in Hader lag,

Und durch die Wolkenwirbel brach

Ein Funke jener tausend Sonnen, –

Spracht aus der Elemente Streit

Ihr nicht von einer Ewigkeit

Und unerschöpften Lichtes Bronnen?
[85]

Am Hange schlich ich, krank und matt,

Da habt ihr mir das welke Blatt

Mit Warnungsflüstern zugetragen,

Gelächelt aus der Welle Kreis,

Habt aus des Angers starrem Eis

Die Blumenaugen aufgeschlagen.


Was meine Adern muß durchziehn,

Sah ich's nicht flammen und verglühn,

An eurem Schreine nicht erkalten?

Vom Auge hauchtet ihr den Schein,

Ihr meine Richter, die allein

In treuer Hand die Waage halten.


Kalt ist der Druck von eurer Hand,

Erloschen eures Blickes Brand,

Und euer Laut der Öde Odem,

Doch keine andre Rechte drückt

So traut, so hat kein Aug' geblickt,

So spricht kein Wort, wie Grabesbrodem!


Ich fasse eures Kreuzes Stab,

Und beuge meine Stirn hinab

Zu eurem Gräserhauch, dem stillen,

Zumeist geliebt, zuerst gegrüßt,

Laßt, lauter wie der Äther fließt,

Mir Wahrheit in die Seele quillen.


Quelle:
Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1973, S. 85-86.
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