An ersten Sonntage in der Fasten

[588] Ev.: Von der Versuchung Christi.


»Sprich, daß diese Steine Brode werden!

Laß dich deine Engel niedertragen!

Sieh die Reiche dieser ganzen Erden!

Willst du deinem Schöpfer nicht entsagen?«

Dunkler Geist, und warst du gleich befangen,

Da du deinen Gott und Herrn versucht,

Ach, in deinen Netzen zahllos hangen

Sie, verloren an die tück'sche Frucht;


Ehrgeiz, Hoffart, dieser Erde Freuden,

Götzen, denen teure Seelen sterben –[588]

O, mein Gott, laß mich nicht ewig scheiden,

Laß mich selber nicht den Tod erwerben!

Ganz verwirrt, weiß ich mich nicht zu fassen,

Drohend schwankt um mich der falsche Grund;

Ach, der eignen schwachen Kraft gelassen,

Tret' ich sinnlos in den offnen Schlund!


Jesu mein, zu dir steigt auf mein Flehen,

Auf der Kreuzesleiter meine Stimme!

Du berührst die Meere, sie vergehen,

Und die Berge rauchen deinem Grimme,

Doch mit tausend Himmelszweigen blühet

Dein unendlich Gnadenwort empor:

»Du verlöschest nicht den Docht der glühet

Und zerbrichst nicht das geknickte Rohr.«


Herr, ich bin ein arm und kaum noch glühend

Döchtlein am Altare deiner Gnade,

Sieh, mich löscht ein mattes Lüftchen fliehend,

Mich ein Tropfen von der Welt Gestade!

Ach, wenn nicht in meinem Herzen bliebe

Nur ein einzig leuchtend Pünktlein noch,

Jener heiße Funken deiner Liebe,

Wie so ganz erstorben wär' ich doch!


Herr, du hast vielleicht noch viel beschlossen

Für dies kurze ruhelose Leben,

Ob ich soll in Qualen hingegossen,

Ob ich soll in allen Freuden weben:

Darf ich wählen, und will Lust mich trennen,

Brenne mich in Leidensflammen rein!

O, die Not lehrt deinen Namen nennen!

Doch die Ehre steht so gern allein.


Lauscht vielleicht verborgen eine Spitze

In dem Lob, das mir die Menschen bringen,

Daß ich noch die letzte Kraft besitze,[589]

Dich zu rühmen, deinen Preis zu singen,

Sind auch hier die Netze aufgeschlagen,

Wo der Mund zu deiner Ehre schafft!

Und ich wär' zu schwach das Lob zu tragen,

Und es bräche meine letzte Kraft!


Herr du weißt, wie trüb in meiner Seele,

Wie verloren die Gebete stehen,

Daß ich möchte wie um große Fehle

Büßen, daß ich es gewagt zu flehen,

Mein Gebet ist wie von einem Toten,

Ist ein kalter Dunst vor deinem Thron;

Herr, du hast es selber mir geboten!

Und du hörtest den verlornen Sohn.


Laß mich, Herr, es immerdar empfinden,

Wie ich tief gesunken unter allen,

Laß mich nicht zu allen meinen Sünden

Noch in frevelhafte Torheit fallen!

Meine Pflichten stehen über vielen,

Unter allen meiner Tugend Kraft,

Ach, ich mußte wohl die Kraft verspielen

In dem Spiel mit Sünd' und Leidenschaft!


Willst du mehr der Erdengüter schenken,

Soll ich die besessenen verlieren,

Laß in Lust und Jammer mich bedenken,

Was der fremden Armut mag gebühren!

Trag' ich alles Erdenglück zu Grabe,

Es ersteht vielleicht unsterblich mir,

Wenn ich treulich meine arme Habe

In Entbehrung teile für und für.


Selber kann ich diesen Kampf nicht wagen,

Deine Gnaden hab' ich all' verloren,

Wenn du mich verläßt, ich darf nicht klagen,

Hab' ich doch die Finsternis erkoren,[590]

Hoffart, Ehrgeiz, dieser Erde Freuden;

O mein Jesu, ziehe mich zurück!

Ach, was hab' ich denn um sie zu meiden,

Als zu dir den angsterfüllten Blick!


Quelle:
Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1973, S. 588-591.
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