XXVI.

Ein Mädchen, welcher in einem Jahr vier tausendmal zur Ader gelassen wurde.

[45] »Die Aderlässe ist ein beträchliches Hülfsmittel, dessen man sich aber mit Maas bedienen muß, wie uns der Apostel befiehlet, daß wir uns der Weisheit bedienen sollen, (sapere ad sobrietatem) welches unsere Absicht ist; und diejenigen, welche eine andere Absicht von uns vermuthen, kennen uns entweder nicht recht, oder stellen sich wenigstens als ob sie uns nicht kenneten.1 Unser ganzer Vorsatz zielet dahin, den Mißbrauch des Aderlassens einzuschränken,[46] und den rechtmäßigen Gebrauch desselben zu behaupten, und wir sind vollkommen überzeuget, daß alle unsere Mitbrüder mit uns in diesen wichtigen Absichten willig und gerne übereinstimmen werden.


Man muß gestehen, daß man, wenn hiebey, das rechte Mittel soll getroffen werden, in Frankreich vieleicht mehr des Zaums als des Sporns, und in Deutschland mehr des Sporns, als des Zaums benöthiget ist; ob schon auch nicht zu laugnen ist, daß diese Materien in ein ziemliches Licht gesetzet worden, und die Gemüther und Gesinnungen einander sehr nahe gekommen sind, und daß die Ausschweifungen so wohl in der einen als der andern Art, von Jahr zu Jahr viel seltsamer zu geschehen pflegen.


Die geheiligten Gänse, die vor diesem das Capitolium retteten, sind ein Muster der periodischen Schriftsteller. Da wir so wachsam, und von so unwandelbarer Treue wie selbige seyn sollen, so dörfen wir auch die Ruhe unsers stillen Mitbürgers durch keinen blinden Lermen stöhren; wir müssen aber nach dem Maas, so wie die Gefahr dringender wird, die Stimme erheben, und durch ein verdoppeltes Geschrey einen Manlius und Camillus ihren eigenen Heerden zu Hülfe ruffen.
[47]

War es nicht Zeit, die Vertheidiger des Vaterlandes zu erwecken, da wir in einem gewissen Journal gelesen haben, daß man einem Mädchen vier tausendmal in einem Jahr zur Ader gelassen hatte? Sollte man erst erwarten, bis man die Sache noch weiter treiben würde? Wir wollen bey einer jeden dieser Aderlässen zwey Laß-Becken, oder acht Unzen annehmen, so hat man ihr folglich 32000. Unzen oder zwey tausend Pfund abgelassen, welches tausend Maaß Blut wohl gemessen ausmachet? Ist sich nicht zu verwundern, daß ihr noch welches übrig geblieben ist? Wir wollen die Sache aus einem andern Gesichtspunct be trachten, und zum Grund setzen, daß man ihr alle drey Stunden Tag und Nacht vom ersten Jenner bis zum letzten December zur Ader gelassen habe, wir wollen noch ferners annehmen, daß es ein Schaltjahr gewesen; so machen 366. Tage, an jedem acht Aderlässen gerechnet, in allen nicht mehr als 2928. Aderlässen, und fehlen also doch noch 1972. wenn die Anzahl voll seyn soll. Demnach hat man ihr also fast ohne Unterlaß zur Aderlassen, und Zweifels ohne Wundärzte und Lanzetten wie Postpferde unterlegen müssen, um die Aderlässen fast zu allen Stunden bey Tag und bey Nacht ein ganzes Jahr lang wiederholen zu[48] können.« Eine Beobachtung von dieser Art, sollte, wenn es auch möglich wäre, daß sie wahr seyn könnte, wohl nicht in einem so kostbaren Schaz, wie das medicinische Journal ist, aufgezeichnet werden. Es scheinet alles verdächtig, jedermann merket so gleich die Unwahrheit derselben, wenn man auch schon nicht augenblicklich den Grund davon anzugeben weis, weil das wunderbare insgemein unsere Betrachtungen einige Augenblicke lang aufhält, so wird doch bey angestellter Ueberlegung der Betrug in kurzem von der Wahrheit verdunkelt, gleichwie ein schöner Blumen-Strauß nicht lange betrüget, wenn er anstatt eines angenehmen, einen widrigen Geruch von sich giebet. Ueberdieses stammet diese Bemerkung von keinem Arzt her, und man weis wohl, wie viel der Wundarzney daran lieget, die Aderlässen in Ansehen zu bringen, es möge auch kosten was es wolle.

Fußnoten

1 Es redet hier der Verfasser der medicinischen Zeitung. Alles was in diesem Wochenblat von seiner Arbeit vorkame, hat meiner Meynung nach von der feinsten Critick gezeiget; und ich wünsche für meinen Theil recht sehr, daß diese Schrift einmal wieder zum Vorschein kommen, und man ihr mehr Gerechtigkeit wiederfahren lassen möge, sie sollte wenigstens deswegen wieder an das Tageslicht kommen, damit wir der schönen Sachen nicht beraubet wären, welche der Verfasser so zierlich darinnen ausdruckte. Diese Zeitung war von einer ganz andern Beschaffenheit, als das Medicinische Journal, und hätte ganz wohl für sich und ohne diese kostbare Sammlung bestehen können.


Quelle:
[Dumonchaux, Pierre-Joseph-Antoine] : Medicinische Anecdoten. 1. Theil, Frankfurt und Leipzig 1767 [Nachdruck München o. J.], S. 45-49.
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