Sechstes Kapitel.

[231] Madame Miller stattet bei Sophie einen Besuch ab.


Es hielt keineswegs schwer, bei Sophie vorgelassen zu werden; denn da sie jetzt auf einem sehr freundschaftlichen Fuß mit ihrer Tante lebte, so hatte sie ihre völlige Freiheit, alle Besuche anzunehmen, die ihr gefielen.

Sophie war im Ankleiden begriffen, als man ihr meldete, daß unten ein wohlgekleidetes Frauenzimmer wäre, die ihr aufzuwarten wünschte. Da sie sich weder fürchtete noch schämte, sich vor jeder Person ihres Geschlechts sehen zu lassen, so ward Madame Miller augenblicklich angenommen.

Nachdem die Verbeugungen und Zeremonien, welche unter zwei einander sich völlig unbekannten Frauenzimmern gewöhnlich sind, abgethan waren, sagte Sophie: »Ich habe nicht das Vergnügen, Madame, Sie zu kennen.« – »Nein, mein gnädiges Fräulein,« antwortete Madame Miller, »und ich muß um Vergebung bitten, daß ich so frei bin, mich Ihnen aufzudringen. Wenn Sie aber vernehmen, was mich vermocht hat, Ihnen beschwerlich zu fallen, so hoffe ich« – »Ich bitte, Madame, eröffnen Sie mir Ihr Begehren,« sagte Sophie mit einer kleinen Gemütsbewegung. – »Mein gnädiges Fräulein, wir sind nicht allein,« versetzte Madame Miller mit leiser Stimme. – »Bis ich Sie wieder rufe, Betty!« sagte Sophie.

Als Betty hinausgegangen war, sagte Madame Miller: »Mein gnädiges Fräulein, ich bin von einem sehr unglücklichen jungen Manne ersucht worden, Ihnen diesen Brief zuzustellen.« Sophie entfärbte sich, als sie die Aufschrift erblickte, weil sie die Hand sehr gut kannte, und nach einigem Besinnen sagte sie: »Aus Ihrem Aeußern, Madame, hätte ich nicht schließen sollen, daß Ihr Anliegen von einer solchen Art sei. – Von wem Sie aber auch diesen Brief bringen mögen, ich zum wenigsten werde ihn nicht erbrechen. Es sollte mir leid thun, von irgend jemand eine ungerechte Meinung zu fassen, aber Sie wissen, ich kenne Sie ganz und gar nicht.«

»Wenn Sie Geduld haben wollen, mein gnädiges Fräulein,« antwortete Madame Miller, »so will ich Ihnen sagen wer ich bin und wie ich zu diesem Briefe gekommen.« – »Ich bin nicht so neugierig, Madame, das geringste wissen zu wollen,« rief Sophie, »nur[231] muß ich Sie bitten, diesen Brief derjenigen Person wieder zuzustellen, die Ihnen denselben gegeben hat.«

Madame fiel auf ihre Kniee und bat aufs innigste um ihr Mitleiden, worauf Sophie antwortete: »Gewiß, Madame, es ist höchst wunderbar, daß Sie sich so stark für diese Person interessieren können. – Ich möchte nicht gerne glauben, Madame« – »Nein, mein bestes Fräulein,« sagte Madame Miller, »Sie müssen nichts glauben als was Wahrheit ist. Ich will Ihnen alles erzählen und dann wird Sie's nicht wundern, daß ich mich so interessiere. Es ist der edelmütigste junge Mann, der jemals geboren ist.« – Hierauf begann sie die Geschichte des Herrn Anderson zu erzählen und als sie damit zu Ende war, rief sie: »Dies, gnädiges Fräulein, dies sind Züge seines vortrefflichen Herzens, aber ich habe ihm Dinge zu verdanken, die meinem Herzen noch weit näher angehen. Er hat mein Kind gerettet.« Hier erzählte sie, nachdem sie erst einige Thränen verweint hatte, alles und jedes, was sich auf diesen Umstand bezog, und ließ nur bloß einige kleine Nebendinge aus, die einen zu starken Schatten auf ihre Tochter geworfen haben möchten, und beschloß endlich damit, daß sie sagte: »Nun, mein teuerstes Fräulein, mögen Sie urteilen, ob ich wohl jemals genug thun kann für einen so gütigen, so edlen, so großmütigen Herrn! Und gewiß, einer der besten und würdigsten von Gott geschaffnen Menschen ist Er!«

Sophiens Gesichtsentfärbung war bis jetzt hauptsächlich zu ihrem Nachteile ausgefallen, und ihre feine weiße Haut hatte fast eine zu blasse Tinte angenommen, aber jetzt färbte sich solche röter als der feurigste Zinnober, und sie sagte: »Was soll ich dazu sagen? Das was die Dankbarkeit einflößt kann man nicht tadeln. – Was aber kann es Ihrem Freunde nützen, wenn ich seinen Brief lese? da ich einmal fest entschlossen bin, niemals« – Madame Miller legte sich von neuem aufs Bitten und Flehen und sagte, sie könne ihn ja doch nicht wieder mit zurücknehmen. – »Gut, Madame,« sagte Sophie, »ich kann es nicht hindern, wenn Sie mir ihn mit Gewalt aufdringen wollen – Sie können ihn freilich allemal da lassen, ob ich will oder nicht.« Was Sophie hiermit meinte, oder ob sie überhaupt etwas meinte, das will ich hier nicht entscheiden; Madame Miller aber verstand es als einen Wink und legte alsobald den Brief auf den Tisch und nahm ihren Abschied, nachdem sie vorher um die Erlaubnis gebeten hatte, Sophien wiederum aufwarten zu dürfen, auf welches Begehren ihr weder mit Ja noch Nein geantwortet ward.

Dieser Brief blieb nicht länger auf dem Tische liegen, als bis Madame Miller aus dem Gesichte war, da ihn dann Sophie öffnete und las.

Der Brief that der Sache des Herrn Jones sehr geringe Dienste, denn er enthielt fast weiter nichts als Geständnisse seines eignen Unwerths und sehr bittere Klagen der Verzweiflung, nebenher die feierlichsten Beteurungen seiner unwandelbaren Treue gegen Sophie, wovon er sie, wie er sagte, zu überzeugen hoffte, wenn er jemals wieder die Ehre erhalten sollte, in ihre Gegenwart kommen zu dürfen, und daß er sich über den Brief an die Frau von Bellaston auf eine[232] solche Art erklären könnte, daß wenn es ihm auch kein Recht auf ihre Verzeihung gäbe, er doch dadurch diese Verzeihung von ihrer Güte würde hoffen können. Er schloß mit der Beteurung, daß ihm niemals etwas weniger in den Sinn gekommen sei, als die Frau von Bellaston zu heiraten.

Obgleich Sophie den Brief zweimal mit großer Aufmerksamkeit durchlas, so blieb ihr seine Meinung noch immer ein Rätsel, und ihre ganze Erfindungskraft wollte ihr nichts an die Hand geben, womit sie Jones entschuldigen könnte. Sie blieb gewiß sehr verdrießlich über ihn, obgleich allerdings die Frau von Bellaston für sich von ihrem Zorne einen so großen Teil hinwegnahm, daß ihrer sanften Gemütsart davon nur sehr wenig für irgend eine andre Person übrig blieb.

Jene ältere Dame war zu allem Unglück gerade an dem Tage bei ihrer Tante Western zum Essen gebeten und des Nachmittags war die Abrede getroffen, daß sie alle drei in die Oper und von da in eine große Spielgesellschaft oder Drum fahren wollten. Sophie hätte sich sehr gerne von allem losgesagt, sie wollte aber ihrer Tante nicht mißfällig werden und die Kunst des Krankwerdens war ihr so ganz und gar unbekannt, daß ihr nicht einmal davon ein Gedanke einfiel. Sobald sie demnach angekleidet war, ging sie hinunter, fest entschlossen, gegen die entsetzliche Langeweile des Tages anzukämpfen, und höchst unangenehm ward er ihr in der That, denn Frau von Bellaston nahm jede Gelegenheit wahr, ihr sehr höflicher-und listigerweise eins zu versetzen, auf welches alles sie wegen ihrer Niedergeschlagenheit außer stande war, eine Antwort zu geben, und die Wahrheit zu bekennen, war sie wirklich auch eben nicht stark in witzigen und stachligen Repliken.

Noch ein andres Unglück, welches die arme Sophie überfiel, war die Gesellschaft des Grafen, den sie in der Oper antraf und welcher sie nach dem Drum begleitete. Und obgleich beide Orte zu öffentlich waren, um besondere Vertraulichkeiten zu gestatten, und ihr auch überdem an dem einen Orte die Musik und an dem andern die Karten eine Erleichterung gaben, so war ihr Gemüt dennoch in seiner Gesellschaft nicht ruhig, denn Frauenzimmer haben ein gewisses so zartes Gefühl, welches sie in Gesellschaft eines Mannes kaum gleichgültig bleiben läßt, von dem sie wissen, daß er solche Ansprüche auf sie macht, die sie nicht gesonnen sind zu begünstigen.

Da ich in diesem Kapitel zweimal das Wort Drum genannt habe, welches unsre Nachkommenschaft, wie zu hoffen steht, in dem Sinne, worin es hier genommen wird1, nicht verstehen wird, so wollen wir, ungeachtet unsrer gegenwärtigen Eilfertigkeit, einen Augenblick darauf verwenden, die Art von Lustbarkeit zu beschreiben, welche es anzeigt, und das um so mehr, weil wir solche in einem Augenblicke beschreiben können.

Ein Drum also ist eine Versammlung von wohlgekleideten Personen beiderlei Geschlechts, wovon die meisten Karten spielen[233] und die übrigen gar nichts thun; unterdessen daß die Frau vom Hause die Rolle einer Gastwirtin in einer Schenke spielt und sich, gleich einer Gastwirtin, mit der großen Anzahl ihrer Gäste brüstet, ob sie gleich nicht immer, wie eine Gastwirtin, einigen Gewinst davon hat.

Kein Wunder also ist es, da so viele Munterkeit erfordert wird, in diese Auftritte der Langeweile auch nur einiges Leben zu bringen, wenn wir von Standespersonen die ewige Klage führen hören, daß ihnen dabei Zeit und Weile lang werde, eine Klage indessen, die sich bloß auf die vornehme Welt einschränkt. Wie unerträglich müssen wir uns dieses ewige Einerlei von leerem Zeitvertreibe in Sophiens dermaliger Gemütslage vorstellen! Wie schwer muß es ihr geworden sein, ihre Blicke zu einem Schein von aufgeräumtem Wesen zu zwingen, derweil ihr Gemüt nichts als die zärtlichste Traurigkeit empfand und jeder ihrer Gedanken mit qualvollen Bildern belastet war!

Die Nacht führte sie indessen wieder zu ihrem Kopfkissen, woselbst wir sie ihrer Melancholie wenigstens nachhängen lassen wollen, ob sie gleich, wie wir fürchten, eben keiner Ruhe fähig war, und wir wollen in unsrer Geschichte fortfahren, welche, wie uns etwas ins Ohr raunt, nunmehr auf eine große Begebenheit zueilt.

Fußnoten

1 Heißt zu deutsch eigentlich eine Trommel.


Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 3, S. 231-234.
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