Der 90. Psalm

[842] Domine, refugium factus:


Mosis des Manns Gotes Gebett.


1.

Herr GOT, du vnser zuflucht bist

von Gschlecht zu Gschlecht, zu jder frist:

Eh dann geschaffen wurd die Welt,

eh dann die Erd vnn Berg bestellt,


2.

Bistu, GOT voller Gütigkait,

von ewigkait zu ewigkait,

Der du die Menschen last sterben

vnd durchs Wort bald schafst neu Erben.


3.

Der du die Lent last sterben hin

vnd sprichst ›komt wider, Menschensün.‹

Dann tausent Jar sint für dir gring

wie der Tag der gester verging.


4.

Wie ain Nachtwach vnd virtail nacht

sind für dir tausend Jar geacht:

Du läßst sie hinfahrn wie ain strom,

das sie sind wie ain Schlaf vnd Traum,


5.

Gleich wie ain Gras, welchs welket bald,

wie die Früplüst, die bald abfallt,

Ja sie sind wie vertorret Hau,

das noch am Morgen stund zur schau.


6.

Das macht dein Zorn vber die Sünd,

dz wir vergehn also geschwind.

Dein Grimm ist vns der gröste schreck,

der vns so plözlich raumt hinwegk.


7.

Dann du stellst für dein Grechtigkait

vnser mißthat vnd gprächlichkait,

Ja vnser vnerkante Sünd

bekant im Licht deins Angsichts sind.


8.

Drum durch dein Zorn vnd gsante plag

faren dahin all vnser tag,

Wir pringen zu all vnser Jar

als im Gschwez, des man kaum wurd gwar.


9.

Vnser längst zeit dahin verschwind

wie das Wort, welchs hinnimt der Wind,

Wie ain gedanken sie vergeht,

wie ain Einbildung, die nicht bsteht.


10.

Vnser zeit ist Sibenzig Jar,

wanns hoch komt sind es Achzig gar,

Vnd wans köstlich ist gwesen hie,

so ists arbeit, sorg, angst vnd muh.


11.

Dann es dahin fährt schnell vnn leicht

als flögen wir davon vileicht:

Der Gsundst hat fünf vnd zwanzig Jar,

noch hat solch Plüh auch jr gefar.


12.

Noch wer ist, der glaub vnd empfind

das du so zörnst vm vnser Sünd?

Wer förcht sich für solch deinem grimm,

erkent das jm solch Straf gezimm?


13.

Darum, O HERR, lehr vnser sinn

zu bdenken, das wir sterben hin,

Auf das wir werden klug vnd gscheid

vnd wol ausrechnen vnser zeit.


14.

HERR, dich doch wider zu vns kehr

vnn sei dein Knechten gnädig mehr,

Erfull mit deiner Gnad vns frü,

so rümen wir dich ie vnd ie.


15.

Erfräu du vns, der vns machst bang,

nach dem du vns nun plagst so lang,

Nach dem so lang vnglück vns quelt:

mit guten die bös tag vergelt.[842]


16.

Zaig deinen Knechten deine Werk,

jren Kindern dein Ehr vnd stärk,

Vnd der Herr, vnser Hoher GOT,

sei vns freuntlich vnd vns begnod.


17.

Der Herr, der förder vnd vollend

bei vns das Werke vnser händ,

Ja er wöll vnser hände Werk

fördern nach seiner Kraft vnd Stärk.


Quelle:
Philipp Wackernagel: Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des XVII. Jahrhunderts, Leipzig 1874, S. 842-843.
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