Eilfter Tag

Ich erwachte von einem tiefen, dröhnenden Schalle. Es mußte eine Glocke in meiner Nähe seyn. – Doch hatte ich zuvor sie niemals gehört. Ich sah mich um – welch ein Zimmer! – Ich kannte es nicht.

Beim Kamine eine Lampe, auf einem weißen hölzernen Tische. Davor ein kleiner schlafender Mensch! – O Himmel, ein Mädchen! – Ich sprang auf – Ein junges, wunderschönes Mädchen! – Hier in meinem Zimmer! – aber es war ja nicht mein Zimmer. – Ein Traum! Ein Traum![129] – Aber sie athmete ja, – sie war ja so rührend, so unaussprechlich schön! – Der ganze Zauber der Jugend und der Unschuld strahlte von dem lieblichen Engelgesichte! – An meinem bebenden Herzen fühlte ich es ja, daß sie lebte.

Ach so hatte ich niemals empfunden. – Ihr Anzug war reinlich; aber ärmlich: und doch schien mir jede Berührung Entheiligung.

Aber jetzt konnte ich mich nicht mehr halten. – Einer von ihren schönen Füssen – ach, er war so rein, so zart, schien nur die Erde berührt zu haben – ruhte ohne Bedeckung auf einem kleinen Schemmel. Dicht neben diesem ragte ein abscheulicher Nagel aus dem Boden hervor. Der Fuß sank hinunter – schnell fing ich ihn auf – nun, lag er in meiner Hand. –

Leise beugte ich mich nieder. – Mein Athem stockte, – meine Lippen zitterten,[130] – welch ein unbekanntes, namenloses Wonnegefühl! – ach mein Mund – er ruhte auf dem Fuße.

War ich ein anderer Mensch geworden! – Die heftigen, stürmischen Begierden – sie waren alle verschwunden. Ich wünschte nichts mehr – ich war glücklich, unaussprechlich glücklich. –

Lange blieb ich so in ihrem Anblicke versunken, vergaß mich und die Welt. Aber endlich kehrten die traurigen Erinnerungen zurück. – Ich dachte an den vorigen Tag, und eine brennende Thräne fiel auf den Fuß. – Sie erwachte.

»Ach Gott!« – rief sie – »sind Sie aufgestanden? Ist Ihnen denn wieder besser?« –

Welch ein Flötenton! ich konnte nur hören, nicht antworten.

»Ist Ihnen denn wieder besser?« – fragte sie noch einmal –[131]

»War ich denn krank?« – sagte ich sehr leise. – Ich fürchtete, sie würde vor meiner Stimme erschrecken. Ich fürchtete die Flamme des Kamins, die Zugluft des Fensters. –

Mich dünkte, ich müsse das zarte Wesen vor jedem heftigen Eindrucke bewahren. Wer sie angerührt hätte, – mit dem Leben würde er es haben büßen müssen.

Und so plötzlich war das alles gekommen. – Mir war, als schlage ein anderes Herz, als denke eine andere Seele in mir, als könne ich nie wieder etwas schlechtes thun oder wollen.

Schon lange hatte sie mir erzählt; noch hatte ich nichts davon begriffen. Die unaussprechliche Grazie ihrer Bewegungen, die hohe göttliche Einfalt ihrer Züge, das Alles fühlte ich tief in meiner Brust – aber was sie sagte – in der That – ich[132] hatte nichts davon gehört. Ich mußte sie bitten, es zu wiederholen.

Der Kutscher hatte lange vor dem Hotel gewartet, und glaubte, da ich ihm zurief, ich sey derselbe, den er hergebracht habe. Da er aber still hielt, um mich aussteigen zu lassen, fand er mich ohne Bewußtseyn in der Ecke des Wagens. Er sah, daß ich der schnellsten Hülfe bedurfte, und brachte mich zu seiner Schwester in das Häuschen, worinn ich erwachte.

Lange war man umsonst bemüht gewesen, mich aus der tiefen Ohnmacht zu wecken. Endlich erholte ich mich wieder, und nachdem ich einige unvernehmliche Worte zu den Umstehenden gesprochen hatte, fiel ich in einen tiefen anhaltenden Schlummer.

Das theure Mädchen war schon zur Ruhe gegangen, und hatte nichts von dem allen gehört. Jetzt aber, da die Mutter, nach der harten Arbeit des Tages, dem[133] Schlafe nicht widerstehen konnte, ging sie, die Tochter zu wecken, und empfahl ihr, so bald ich erwachte, sie augenblicklich zu rufen.

»Ich weiß nicht, wie es kommt« – setzte das liebliche Wesen in hoher Unschuld, und eben darum ganz ohne Erröthen hinzu – »aber ich habe an die Mutter gar nicht gedacht.«

Jetzt flog sie davon, und ich hatte nicht den Muth sie zurückzuhalten.

Die Mutter erzählte mir nun: daß sie seit mehrern Jahren Wittwe sey, und bis vor ein paar Monaten auf dem Lande gelebt habe. Jetzt aber, da die Stickerey wieder gebräuchlich und in der Stadt mehr Arbeit zu bekommen wäre, sey sie dem Rathe ihres Bruders gefolgt, und habe sich hier niedergelassen.[134]

»Er hat sich ein ansehnliches Vermögen erworben« – fuhr sie fort – »und will hier meiner Marie alles vermachen.«

Während die Mutter sprach, hatte das holdseelige Mädchen unaufhörlich an ihr zu putzen. Bald war es ein Haar, was zu tief hinunter hing, bald ein Stäubchen auf dem Ermel, ein Fältchen im Tuche. Dann glaubte sie, die gute Alte sitze nicht bequem genug. Oft, wenn sie dem, was die Mutter sagte, ihren Beifall gab, nickte sie unnachahmlich reizend mit dem Köpfchen und streichelte ihr die Wangen.

Ach wie ein tröstender Engel stand sie da. Kaum wagte ich es, die Augen zu ihr zu erheben.

Jetzt hatte die Mutter geendigt, und schien zu erwarten: daß ich nun auch über mich einige Aufschlüsse geben würde.[135]

Aber das konnte freilich nur sehr mangelhaft geschehen. – Eher hätte ich sterben mögen, als in Mariens Gegenwart meiner Ausschweifungen erwähnen. Mein Verlust im Spiele mußte alles erklären, und ich eilte jetzt fort, um mich nicht zu verrathen.

Als ich vom Weggehen sprach, dünkte mich, Mariens Blick weile beinahe traurend auf mir. – Aber dann kehrte er wieder eben so frey und frölich zur Mutter zurück. – Ach sie war zu rein für mich! Meine Hoffnung war eitel! –

So lange ich in ihrer Nähe blieb, vermochte der Kummer nichts über mich; aber jetzt nagte er desto schrecklicher an meinem Herzen. Die Einsamkeit war mir fürchterlich, und ich befahl mit bebender Stimme den Doctor zu holen.[136]

Jetzt erst, da ich anfing, ihm meine Lage zu schildern, kam ich zu dem ganzen Gefühl meines Unglücks. Mein eignes Herz ward durch meine Worte bewegt, und so durch mich selbst hingerissen ward ich erst spät gewahr, daß der Doctor mir kalt und unbeweglich gegenüber stand.

Nun da ich schwieg, zuckte er die Achseln bedauerte unendlich und versicherte: daß er mich schlechterdings nicht verlassen würde, wenn er nicht diesen Augenblick zu einem sehr gefährlichen Kranken eilen müsse. Der erste Kranke, von dem er jemals gesprochen hatte. Ich verstand ihn, alle Täuschung war verschwunden, und ich fiel in dumpfe Verzweiflung auf mein Lager.

Aber bald ward ich schrecklich aus meiner Betäubung geweckt. Der Halsbands-Verkäufer war da und bestand darauf, mich zu sprechen.[137]

»Ich habe gehört,« redete er mich an, – »Mylord wird abreisen, und so wollte ich doch nicht unterlassen, ihn an die bewußte Kleinigkeit zu erinnern.«

Ich versicherte nun zwar: daß an keine Abreise zu denken wäre. Aber er blieb bey seinem vorgeblichen Glauben, und behauptete jetzt, da ich eine so erwiesene Sache läugne, sich seines Geldes versichern zu müssen.

Was sollte ich thun? – Jene Anweisung des Doctors an die neue Bank war das Einzige, was ich hatte. Ich zeigte sie dem Juwelier, und glaubte ihn nun völlig zu beruhigen. Aber mit schallendem Gelächter gab er sie zurück.

»Wenn das Mylords Resourcen alle sind,« rief er, »so muß ich von Herzen bedauren! Solcher Pappiere kann ich Ihnen zu tausenden für den funfzigsten Theil[138] des Werthes verschaffen. Ich sehe jetzt, wie die Sachen stehn, und empfehle mich zu Gnaden.

Mit diesen Worten schlug er die Thüre zu, und ich starrte gedankenlos auf den Boden. Da lag ein Pappier; maschinalisch hob ich es auf. Die Addresse lautete an Monsieur Crochu. Ich las folgendes:

»Der deutsche Baron, der deutscheste, den ich jemals gesehen – prostituirte sich gestern so sehr auf meinem Balle, daß ich entschlossen bin, den albernen Herrn sobald als möglich zu verabschieden. Und dies um so mehr, da er über einen elenden Verlust im Spiele die Tramontane so ganz und gar verlohr, daß er ohne Abschied und mit wüthenden Gebehrden davon lief. Der Doctor hat ihm mit Hülfe seiner Bedienten schon ziemlich zur Ader gelassen. Sind seine Kräfte noch nicht völlig erschöpft;[139] so neigen sie sich wenigstens zur Abnahme. Sorgen Sie um Gotteswillen für Ihre Bezahlung, und vergessen Sie nicht Ihre Freundin.«


Amelie.[140]


Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Vierzehn Tage in Paris. Leipzig 1801, S. 127-141.
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