Auf das Evangelium am XXIII. Sonntage nach Trinitatis

Egypten stieg vordem an Stärcke

So wie an Ehrgeiz und Verstand

Und legte Reichthum, Sinn und Hand

An lauter seltne Wunderwercke,

Von welchen noch der halbe Rest

Und manche tief verfallne Mauer

Nicht sonder einen heilgen Schauer

Die alte Größe kennen läst.


Der Baukunst seltnes Meisterstücke

War überhaupt der Tempelpracht;

Die Dächer warfen in der Nacht

Den Sternen ihren Schein zurücke;

Werth, Arbeit, Marmor und Metall

Vermehlten ihre Kostbarkeiten

Und trozten fast auf allen Seiten

Sowohl die Schönheit als den Fall.


Strahlt außen so ein Lustgepränge,

Wie herrlich wird's von innen seyn!

Kommt mit, last sehn! Was nimmt euch ein?

Ein Eckel vor der Gözen Menge.

Hier steht ein scheuslich Afenbild

Nebst Fischen, Kazen, Hund- und Ziegen,

Dort seht ihr einen Pfafen liegen,

Den Blut und Sof mit Andacht füllt.


Ihr flieht mit Grauen aus dem Tempel.

Ach, aber flieht doch selbst aus euch:

Ihr seyd dem Gözenhause gleich,

Ihr seht und seyd auch ein Exempel.

Euch Heuchler fahr ich christlich an,

Euch, euch, ihr übertünchten Wände,

Euch, derer Schmincke böser Hände

Die Lauge nicht vertragen kan.
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Ihr schmeichelt mit gelaßnen Blicken,

Ihr gebt Gedult und Sanftmuth vor

Und wist des Pöbels Herz und Ohr

Mit holder Andacht zu berücken;

Ihr puzet Canzel und Altar,

Last Arm- und Wittwenhäuser bauen,

Ihr bethet, singt und weint als Frauen

Und bannt die Kezer alle Jahr.


Wie steht es aber um die Herzen?

Da nisten Unversöhnligkeit,

Haß, Hochmuth, Zwietracht, Zorn und Streit.

So fahrt nur fort, mit Gott zu scherzen!

Ihr seyd der Rache nicht zu klug;

Sie wird euch, ohne zu verkennen,

Die Larven vom Gesichte brennen,

Und dies noch allzeit früh genug.


Es sind zwar alles schwere Sünden,

Und keine scheint so schlecht und klein,

Sie muß des Todes schuldig seyn

Und unbereut die Hölle finden;

Doch eures Lasters Wichtigkeit,

Ihr aufgeblasnen Pharisäer,

Geht darum tausend Stafeln höher,

Weil keine Beßrung Trost verleiht.


Du Abgrund von des Höchsten Gnade,

Du Geist des Trostes und Gebeths,

Erinnre mich doch jezt und stets

Der Reinigung vom Sündenbade.

Mein Herz wird vor dein Heiligthum

Als ein befleckt Gefäß erfunden,

Drum wasch es in des Heilands Wunden

Und geuß es durch dein Feuer um.

Quelle:
Johann Christian Günther: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 2, Leipzig 1931, S. 159-162.
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