XXI
DIE MASKE
(BILDSÄULE IM GESCHMACK DER RENAISSANCE)

[38] Dem Bildhauer Ernst Christophe


Sieh diesen schatz mit florentiner reizen:

Die wiegung und des körpers muskelkraft

Wo nicht die beiden himmelsschwestern geizen:

Feinheit und stärke! welche meisterschaft!

So göttlich fest so zierlich zum berücken –

Das weib gemacht für samt und edelstein

Um päpste oder prinzen zu beglücken.


Sieh dieses lächeln wollustvoll und fein

Wo sich verzückt die selbstverehrung weidet!

Der lange blick begehrlich hart und klug ·

Das zärtliche gesicht mit gaz umkleidet

Sagt uns mit siegerstolz in jedem zug:

›Mich ruft die Wollust und mich krönt die Liebe‹

Sieh wie dem weib zur fürstin ausersehn

Auch noch verführerischer liebreiz bliebe –

Komm lass uns um die grosse schönheit drehn![39]


O lästerung der kunst! verwünschte blende!

Ist nicht der götterleib der glück verheisst

Ein doppelköpfig ungetüm am ende?


Nein – es ist maske nur und zier die gleisst:

Erlesnes mienenspiel in seltnem lichte.

Sieh her! hier ist in wildem krampf gereckt

Der echte kopf mit wahrem angesichte

Vom lügenhaften angesicht verdeckt!

Du arme grosse schönheit! deiner zähren

Erhabner strom ins schwere herz mir dringt ·

Dein lug berauscht mich und ich will mich nähren

Am leidensquell der deinem aug entspringt.


Doch warum weint sie? so vollkommne schöne

Dass jeder mensch zu ihren füssen bebt –

Was macht dass ihre riesenbrust erstöhne?


Sie weint · sinnloser! denn sie hat gelebt

Und sie lebt noch! doch ihre grössten sorgen

Empfängt sie und die kniee zittern ihr

Weil morgen sie noch leben muss! ach morgen

Und übermorgen · immer! – so wie wir.

Quelle:
George, Stefan: Baudelaire. Gesamt-Ausgabe der Werke, Band 13/14, Berlin 1930, S. 38-40.
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