DAS ZEITGEDICHT

[31] Ich euch gewissen · ich euch stimme dringe

Durch euren unmut der verwirft und flucht:

»Nur niedre herrschen noch · die edlen starben:

Verschwemmt ist glaube und verdorrt ist liebe.

Wie flüchten wir aus dem verwesten ball?«

Lasst euch die fackel halten wo verderben

Der zeit uns zehrt · wo ihr es schafft durch eigne

Erhizte sinne und zersplissnes herz.


Ihr wandet so das haupt bis ihr die Schönen

Die Grossen nicht mehr saht – um sie zu leugnen

Und stürztet ihre alt- und neuen bilder.

Ihr hobet über Körper weg und Boden

Aus rauch und staub und dunst den bau · schon wuchsen

In riesenformen mauern bogen türme –

Doch das gewölk das höher schwebte ahnte

Die stunde lang voraus wo er verfiel.[32]


Dann krochet ihr in höhlen ein und riefet:

»Es ist kein tag. Nur wer den leib aus sich

Ertötet hat der lösung lohn: die dauer.«

So schmolzen ehmals blass und fiebernd sucher

Des golds ihr erz mit wässern in dem tiegel

Und draussen gingen viele sonnenwege ..

Da ihr aus gift und kot die seele kochtet

Verspriztet ihr der guten säfte rest.


Ich sah die nun jahrtausendalten augen

Der könige aus stein von unsren träumen

Von unsren tränen schwer .. sie wie wir wussten:

Mit wüsten wechseln gärten · frost mit glut ·

Nacht kommt für helle – busse für das glück.

Und schlingt das dunkel uns und unsre trauer:

Eins das von je war (keiner kennt es) währet

Und blum und jugend lacht und sang erklingt.[33]

Quelle:
Stefan George: Der siebente Ring. Gesamt-Ausgabe der Werke, Band 6 / 7, Berlin 1931, S. 31-35.
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