AN SIDONIA

[36] Ich überführte mich dass dir mit haltung und stolzem gebaren

Dass dir mit weise gehobener schönheit die jüngeren weiber

All zu verdunkeln gelang und dass nicht nur aus träger gewohnheit

Meine gefährten dir huldigten · mir aber waren wie warnung

Deine berechnende lippe · dein blauer und stählerner blick.

Einst in der dämmerung standen wir uns gegenüber (durch zufall

Oder auch weil du verwundet den nimmer dich suchenden suchtest ·

In einer nische durch Persergewebe den andren verborgen)

Spottend und tadelnd gedachte ich derer die ständig mit vorsicht

Nutzen und ziel zu erwägen vermögen im brausenden leben ·

Du darauf zeigst dem erstaunten von dir nicht gepflogenes lächeln

›Richte‹ (versetzest du) ›nach dem begebnis das knapp sich gejähret:

Wie ich dem jungen Demotas der stumme verehrung mir zahlte

Preise und siege verlassend bedürftig zu folgen gewillt war ·

Er aber selber mit kühleren worten vom plane mir abriet

Und meine wunde zu heilen ich mehre der monde bedurft‹

Unsere hände indessen du redetest wuchsen zusammen.

Seit jenem abend – Sidonia – war ich kein fremder dir mehr.

Quelle:
Stefan George: Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten. Gesamt-Ausgabe der Werke, Band 3, Berlin 1930, S. 36-37.
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