Die Zeit ist nunmehr nah

[352] Veranlaßt durch den Kometen des Jahres 1652


1.

Die Zeit ist nunmehr nah,

Herr Jesu, du bist da.

Die Wunder, die den Leuten

Dein Ankunft sollen deuten,

Die sind, wie wir gesehen,

In großer Zahl geschehen.


2.

Was soll ich denn nun tun?

Ich soll auf dem beruhn,

Was du mir hast verheißen,

Daß du mich wollest reißen

Aus meines Grabes Kammer

Und allem andern Jammer.


3.

Ach Jesu, wie so schön

Wird mirs alsdann ergehn!

Du wirst mit tausend Blicken

Mich durch und durch erquicken,

Wenn ich hier von der Erde

Mich zu dir schwingen werde.
[352]

4.

Ach, was wird doch dein Wort,

O süßer Seelenhort,

Was wird doch sein dein Sprechen,

Wenn dein Herz aus wird brechen

Zu mir und meinen Brüdern

Als deinen Leibesgliedern.


5.

Werd ich denn auch vor Freud

In solcher Gnadenzeit

Den Augen ihre Zähren

Und Tränen können wehren,

Daß sie mir nicht mit Haufen

Auf meine Wangen laufen?


6.

Was für ein schönes Licht

Wird mir dein Angesicht,

Das ich in jenem Leben

Werd erstmal sehen, geben!

Wie wird mir deine Güte

Entzücken mein Gemüte!


7.

Dein Augen, deinen Mund,

Den Leib, der noch verwundt,

Da wir so fest auf trauen,

Das werd ich alles schauen,

Auch innig herzlich grüßen

Die Mal an Händ und Füßen.


8.

Dir ist allein bewußt

Die ungefälschte Lust

Und edle Seelenspeise

In deinem Paradeise.

Die kannst du wohl beschreiben,

Ich kann nichts mehr als gläuben.
[353]

9.

Doch was ich hie gegläubt,

Das steht gewiß und bleibt

Mein Teil, dem gar nicht gleichen

Die Güter aller Reichen;

All andres Gut vergehet,

Mein Erbteil, das bestehet.


10.

Ach Herr, mein schönstes Gut,

Wie wird sich all mein Blut

In allen Adern freuen

Und auf das Neu erneuen,

Wenn du mir wirst mit Lachen

Die Himmelstür aufmachen!


11.

Komm her, komm und empfind,

O auserwähltes Kind,

Komm, schmecke, was für Gaben

Ich und mein Vater haben,

Komm, wirst du sagen, weide

Dein Herz in ewger Freude!


12.

Ach, du so arme Welt,

Was ist dein Gold und Geld

Hier gegen diese Kronen

Und mehr als güldnen Thronen,

Die Christus hingestellet

Dem Volk, das ihm gefället.


13.

Hie ist der Engel Land,

Der selgen Seelen Stand;

Hie hör ich nichts als singen,

Hie seh ich nichts als springen,

Hie ist kein Kreuz, kein Leiden,

Kein Tod, kein bittres Scheiden.
[354]

14.

Halt ein, mein schwacher Sinn,

Halt ein! Wo denkst du hin?

Willst du, was grundlos, gründen?

Was unbegreiflich, finden?

Hier muß der Witz sich neigen

Und alle Redner schweigen.


15.

Dich aber, meine Zier,

Dich laß ich nicht von mir;

Dein will ich stets gedenken,

Herr, der du mir wirst schenken

Mehr als mit meiner Seelen

Ich wünschen kann und zählen.


16.

Ach, wie ist mir so weh,

Eh ich dich aus der Höh,

Herr, sehe zu uns kommen!

Ach, daß zum Heil der Frommen

Du meinen Wunsch und Willen

Noch möchtest heut erfüllen!


17.

Doch du weißt deine Zeit.

Mir ziemt nur, stets bereit

Und fertig dazustehen

Und so zum Herren zu gehen,

Daß alle Stund und Tage

Mein Herz mich zu dir trage.


18.

Dies gib, Herr, und verleih,

Auf daß dein Huld und Treu

Ohn Unterlaß mich wecke,

Daß mich dein Tag nicht schrecke,

Da unser Schreck auf Erden

Soll Fried und Freude werden.

Quelle:
Paul Gerhardt: Dichtungen und Schriften, München 1957, S. 352-355.
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