Das hölzerne Bein

[132] Eine Schweitzer Idylle


Auf dem Gebürge, wo der Rautibach ins Thal rauschet, weidete ein junger Hirte seine Ziegen. Seine Querpfeife rief den siebenfachen Wiederhall aus den Felsklüften, und tönte[132] munter durchs Thal hin. Da sah er einen Mann von der Seite des Gebürges heraufkommen, alt und von silbergrauem Haar; und der Mann, langsam an seinem Stabe gehend, denn sein eines Bein war von Holz, trat zu ihm, und setzte sich an seiner Seite auf ein Felsenstück. Der junge Hirte sah ihn erstaunt an, und blickt' auf sein hingestrecktes hölzernes Bein. Kind, sagte der Alte mit Lachen, gewiß du denkst, mit so einem Bein blieb ich wol unten im Thal? Diese Reise aus dem Thal mach' ich alle Jahr' einmal. Dieß Bein, so wie du es da siehst, ist mir ehrenhafter als manchem seine zwey guten; das sollst du wissen. Ehrenhaft, mein Vater, mag es wol seyn, erwiederte der Hirte; doch ich wette, die andern sind bequemer. Aber müde must du doch seyn. Willst du, so geb' ich dir einen frischen Trunk aus jener Quelle, die dort am Fels rieselt.


Der Alte.


Du bist ein guter Knabe; ein Trunk frisches Wasser wird mich erquicken. Gehst du, und holest ihn, so erzähl' ich dir dann die Geschichte von meinem hölzernen Bein. Der junge Hirt lief, und schnell bracht er einen frischen Trunk aus der Quelle zurücke.

Der Greis hatte sich erquickt. Daß mancher eurer Väter, so sprach er, voll Narben und zerstümmelt ist, das sollt ihr Gott und ihnen danken, ihr Jungen. Muthlos würdet ihr den Kopf hängen, statt jetzt an der Sonne froh zu seyn, und mit muntern Liedern den Wiederhall zu rufen. Munterkeit und Freude tönt jetzt durchs Thal, und frohe Lieder hört man von einem Berg zum andern; Freyheit, Freyheit beglückt das ganze Land. Was wir sehen, Berg und Thal, gehören uns; freudig bauen wir unser Eigentum, und was wir sammeln das sammeln wir mit Jauchzen für uns.


Der junge Hirte.


Der ist nicht werth ein freyer Mann zu seyn, der je vergessen kann, daß unsre Väter es erfochten.


Der Alte.


Und der's nicht eben so thun würde, mein Sohn! Seit jenem blutigen Tag gieng ich alle Jahr' einmal auf diese Höhe aus dem Thal herauf; aber ich spür'[133] es, dieß wird wol das letz[t]emal seyn. Von hier seh' ich die ganze Ordnung der Schlacht, die wir für unsre Freyheit gewannen.1 Sieh, hier an der Seite hervor kam die Schlachtordnung der Feinde; viele tausend Spiesse blitzten daher, und wol zweyhundert Ritter in prächtiger Rüstung; Federbüsche schwankten auf ihren Helmen, und unter ihren Pferden zitterte das Land. Schon einmal war unser kleine Haufe zertrennt; nur wenig hunderte waren wir. Wehklagen war weit umher, und der Rauch des brennenden Näfels erfüllte das Thal, und schlich fürchterlich an den Gebürgen hin. Aber am Fuß des Berges stand jetzt unser Hauptmann; dort stand er, wo die beyden Weißtannen auf dem Felse stehn; nur wenige standen bey ihm. Mir ist's, ich seh' ihn noch muthvoll dastehn, wie er die zerstreuten Haufen zusammenruft; wie er das Panner hoch in die Luft schwingt, daß es rauscht wie ein Sturmwind vor einem Gewitter; von allen Seiten her liefen die Zerstreuten zu. Siehst du, vom Felsen herunter, jene Quellen? Steine, Felsen und umgestürzte Bäume mögen sich ihnen entgegensetzen; sieh, sie dringen durch; sie stürzen sich weiter und sammeln sich dort im Teiche: So war's, so eilten die Zerstreuten herbey, und schlugen durch die Feinde sich durch; standen um den Held her und schwuren, wir kleiner Haufe, steht Gott uns bey, zu siegen oder doch zu sterben! In gedrängter Schlachtordnung stürmte der Feind auf uns ein. Eilfmal schon hatten wir ihn angegriffen, und zogen dann wieder an den uns schützen den Berg zurück. Ein engegeschlossener Haufe standen wir wieder da, undurchdringlich wie der hinter uns stehende Fels: Aber jetzt, jetzt fielen wir, durch dreyssig Tapfre von Schweitz verstärkt, in die Feinde, wie ein Bergfall oder ein geborstener Fels hoch hinunter in einen Wald sich wälzt und vor sich her die Bäume zersplittert. Die Feinde vor und um uns her, Ritter und Fußknechte, in fürchterliche Unordnung gemengt,[134] stürzten einander selbst, indem sie unsrer Wuth wichen. So wüteten wir unter den Feinden, und drangen über Todte und Zerstümmelte vorwärts, um weiter zu töden. Ich auch; aber im Gewühl stürzt' ein feindlicher Reuter mich zu Boden, und sein Pferd zertrat mein eines Bein. Einer, der neben mir focht, sah rückwärts, rafft' auf seine Schulter mich, und lief mit mir aus der Schlacht. Ein frommer Ordensmann betete nicht weit auf einem Fels um unsern Sieg: Pflege diesen, Vater, er hat gefochten wie ein Mann! Er sprach's, und lief in die Schlacht zurück. Sie ward gewonnen. Kinder, sie ward gewonnen! Mancher der unsern lag da, über einem Haufen Feinde ausgestreckt, sagte man nachher, wie ein müder Schnitter auf der Garbe ruht, die er selbst geschnitten hat. Ich ward gepflegt, ich ward geheilt: Aber meinen Retter kannt' ich nicht; nie hab' ich's ihm danken können, daß ich lebe. Ich hab' ihn umsonst gesucht; umsonst Gelübde, umsonst Wallfahrten gethan, daß irgend ein Heiliger oder ein Engel mir's offenbare. Ach umsonst! Ich soll ihm in diesem Leben nicht dancken.

Der junge Hirte hatte mit Thränen im Aug' ihm zugehört, und sprach: Vater, du kannst's in diesem Leben ihm nicht mehr danken[!] Erstaunt rief der Alte: Wie, was sagst du, weissest du denn wer er war?


Der junge Hirte.


Mich müßte alles trügen oder es war mein Vater selbst. Oft hat er mir die Geschichte der Schlacht erzählt, und dann gesagt: Lebt wol der Mann noch, welcher so tapfer an meiner Seite focht, den ich aus dem Schlachtfelde trug?


Der Alte.


O Gott, und ihr Heiligen, der Redliche sollte dein Vater seyn!


Der junge Hirte.


Eine Narbe hatt' er hier; (er wies auf die linke Wange) der Splitter eines Spiesses hatt' ihn verwundet, vielleicht eh' er aus der Schlacht dich trug.


Der Alte.


Seine Wange blutete, da er mich trug. O mein Kind, mein Sohn!


Der junge Hirte.


Vor zwey Jahren starb er;[135] und jetzt hüt' ich, denn er war arm, um schlechten Lohn hier diese Ziegen.

Der Alte umarmt' ihn. O Gott sey's gedankt, so kann ich seine Gutthat in dir ihm wieder vergelten! Komm Sohn, komm in meine Wohnung; ein andrer kann diese Ziegen hüten. Und sie giengen hinunter ins Thal, nach seiner Wohnung: Reich war der Greis an Feld und an Heerden, und eine einzige schöne Tochter war seine Erbin. Kind, so sprach er, der mein Leben gerettet, war der Vater dieses Knaben. Könntest du ihm gut seyn, ich gäb ihm dich zum Weibe. Schön und munter war der Knabe; gelbe Locken kräusten sich um sein schönes Gesicht, und feuervolle doch bescheidne Augen blinkten draus hervor. Aus jungfräulicher Zucht bedachte sie drey Tage sich; der dritte war ihr schon zu lange. Sie gab dem Jüngling ihre Hand, und der Alte weinte mit ihm Freudenthränen und sprach: Seyd mir gesegnet! Jetzt, jetzt bin ich der glücklichste Mann!

Fußnoten

1 Die Schlacht bey Näfels, im Canton Glarus, im Jahr 1388.


Quelle:
Salomon Gessner: Idyllen. Stuttgart 1973, S. 132-136.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Idyllen
Idyllen
IDYLLEN in GESPERRTER LANDSCHAFT: ZEICHNUNGEN UND GOUACHEN VON SALOMON GESSNER, 1730-1788 / Idylls in an Obstructed Landscape: Drawings and Gouaches by Salomon Gessner, 1730-1788

Buchempfehlung

Lewald, Fanny

Clementine

Clementine

In ihrem ersten Roman ergreift die Autorin das Wort für die jüdische Emanzipation und setzt sich mit dem Thema arrangierter Vernunftehen auseinander. Eine damals weit verbreitete Praxis, der Fanny Lewald selber nur knapp entgehen konnte.

82 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon