Ein Trinklied

[190] Was soll die Zauberei? ihr Brüder!

Kurz ist die Stunde, singet Lieder

Und trinkt und leert da volle Faß!

Die Zeit hat allzustarke Schwingen,

Wer kann sie halten! Laßt uns singen,

Ein jeder fülle sein Glas!


Kurz ist die Stunde! diesem Weine

Gab unser guter Wirt nur Eine,

Nur eine gab er Einem Faß!

Der uns die Eine nur gegeben,

Der soll noch hundert Jahre leben,

Ein jeder leere sein Glas!


Ein jeder hat sein Glas geleeret,

Nur der nicht, dem der Wein gehöret,

O böser Wirt! was heißet das?

Soll dein Exempel uns verführen?

Kein Augenblick ist zu verlieren.

Ein jeder fülle sein Glas!
[190]

Wir trinken, unsern Durst zu stillen;

Die Gläser leeren, wieder füllen,

Und wieder leeren, leert das Faß!

Das leere Faß bekömmst du wieder,

Herr Wirt, Geduld! o Brüder! Brüder!

Ein jeder leere sein Glas!


Die Zeit hat allzuschnelle Schwingen,

Kein Augenblick ist zu versingen,

Trinkt, Brüder, trinkt, bezwingt das Faß!

Und du Gesang, den Bacchussöhnen

Gefährlich, weg mit deinen Tönen!

Am besten tönet das Glas!

Quelle:
Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Ausgewählte Werke, Leipzig 1885, S. 190-191.
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