Felsweihegesang

An Psyche


Veilchen bring ich getragen,

Junge Blüten zu dir,

Daß ich dein moosig Haupt

Ringsum bekränze,

Ringsum dich weihe,

Felsen des Tals.


Sei du mir heilig!

Sei den Geliebten

Lieber als andre

Felsen des Tals!
[188]

Ich sah von dir

Der Freunde Seligkeit,

Verbunden Edle

Mit ew'gem Band.


Ich irrer Wandrer

Fühlt erst auf dir

Besitztumsfreuden

Und Heimatsglück.


Da, wo wir lieben,

Ist Vaterland;

Wo wir genießen,

Ist Hof und Haus.


Schrieb meinen Namen

An deine Stirn;

Du bist mir eigen,

Mir Ruhesitz.


Und aus dem fernen

Unlieben Land

Mein Geist wird wandern

Und ruhn auf dir.


Sei du mir heilig,

Sei den Geliebten

Lieber als andre

Felsen des Tals!


Ich sehe sie versammelt

Dort unten um den Teich;

Sie tanzen einen Reihen

Im Sommerabendrot;

Und warme Jugendfreude

Webt in dem Abendrot.
[189]

Sie drücken sich die Hände

Und glühn einander an.

Und aus den Reihn verlieret

Sich Psyche zwischen Felsen

Und Sträuchen weg, und traurend

Um den Abwesenden,

Lehnt sie sich über den Fels.

Wo meine Brust hier ruht,

An das Moos mit innigem

Liebesgefühl sich

Atmend drängt,

Ruhst du vielleicht dann, Psyche.

Trübe blickt dein Aug

In den Bach hinab,

Und eine Träne quillt

Vorbeigequollnen Freuden nach;

Hebst dann zum Himmel

Dein bittend Aug,

Erblickest über dir

Da meinen Namen.

– Auch der –

Nimm des verlebten Tages Zier,

Die bald welke Rose, von deinem Busen,

Streu die freundlichen Blätter

Übers düstre Moos,

Ein Opfer der Zukunft!


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 2, Berlin 1960 ff, S. 65-66,188-190.
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