1817

[273] 687.*


1817, Januar (?).


In der Probe zum »Schutzgeist« von Kotzebue

Mit besonderem Interesse leitete Goethe die Proben der Körner'schen Trauerspiele »Rosamunde«, welches am 14. September, und »Zriny«, welches am 12. October 1816 zum ersten Male gegeben wurde. Nächstdem war es »Der Schutzgeist« von Kotzebue, zum ersten Male am 1. Februar 1817 gegeben, der seine Thätigkeit sehr in Anspruch nahm. Auf der Probe dazu wurde ihm eigentlich wenig recht gemacht, besonders war es der Schauspieler Deny, mit dem er sich diesmal nicht verständigen konnte. Deny hatte im Hintergrunde zu erscheinen, einige Worte in die Coulisse zurückzurufen und dann die Schwelle einer nach hinten offenen Halle zu überschreiten, um in die vordere Scene zu treten. Als er seinen Auftritt in der geschilderten Weise ausgeführt, erklang Goethes Stimme: »Das macht sich nicht gut! Sie treten zu rasch in die Erscheinung; das Publikum muß erst auf Sie aufmerksam werden, damit Ihre Worte ihm nicht entgehen. Überschreiten Sie deshalb erst mit dem rechten Fuß die Schwelle, dann wenden Sie sich zurück und rufen die Worte!« Deny wiederholte nun seinen Auftritt, verfiel aber, der Schwelle nahe gekommen, in einen trippelnden Schritt, um den Augenblick des Überschreitend richtig zu treffen. Wieder ertönte aus der Parterreloge[273] ein: »So geht das nicht!« worauf Deny entgegnete: »Es ist schwer, Excellenz, gerade mit dem richtigen Fuße an die Schwelle zu kommen; wenn ich es so machen soll, wie Excellenz wollen, so muß ich die Schritte genau abmessen und zählen.« – »Gut, thun Sie es!« war die Antwort. – Deny nahm nun zunächst die angegebene Stellung über der Schwelle ein und zählte dann von da ab die Schritte bis zu einem Punkte hinter der Coulisse, der gezeichnet wurde. Darauf ging er halblaut zählend, von neuem vor und löste das Problem zu des Meisters Zufriedenheit.

In derselben Probe war es, wo Goethe nochmals mit Bewegungen Deny's nicht einverstanden war. Vielleicht hatte dieser sich über das Vorhergegangene etwas geärgert: er traf trotz mehrfacher Versuche die Meinung Goethes nicht und äußerte, er wisse nicht, wie er es machen solle. »Nun warten Sie! ich werde es Ihnen zeigen,« – erwiderte Goethe und kam auf die Bühne. Ich war in hohem Grade gespannt. Der Meister trat an Deny's Stelle und frug zunächst den Souffleur nach den Worten. Dann begann er: »Also sehen Sie! wenn Sie sagen« – (zum Souffleur:) »wie waren doch die Worte? – Kann nicht verstehen! – Nun ja! Sie treten dabei einen Schritt vor – So! dann – wie sagen Sie jetzt? Na, lassen Sie nur! Vormachen kann ich es Ihnen nicht;« – wobei ein Lächeln über sein Gesicht flog – »ihr Schauspieler versteht das besser. Aber ich will es Ihnen noch einmal erklären.«[274] Deny sprach nun, Goethe begleitete die Worte mit einigen Bewegungen und die Scene verlief endlich zu seiner Zufriedenheit.[275]


1678.*


1817, zwischen 15. und 18. Januar.


Mit Wilhelm von Humboldt

Humboldt ist in Weimar gewesen; er schreibt mir [Caroline v. Humboldt], daß Goethe mit dem literarischen Wesen in Deutschland ungemein unzufrieden ist und beinahe an allem Heil verzweifelt, weil niemand sich in eine Form passen will und darüber die entschiedensten Talente untergehen. In seinem Unwillen ist er soweit gegangen, Humboldt zu sagen: die Deutschen seien nur noch allenfalls im Auslande erträglich und man müsse sie wie die Juden in alle Welt zerstreuen. Humboldt hat ihm geantwortet: er an seinem Theil habe das schon angefangen; nun solle er, Goethe, es nur an dem seinen vollenden und zu uns nach Rom kommen.[84]


688.*


1817, 2. (?) Februar.


Mit Julie von Egloffstein

[Gräfin Julie erzählt von lebenden Bildern, die bei Hofe vorgestellt wurden und zwar in den Thüren des Gesellschaftssaals, und fährt fort:]


Von all diesen [Bildern] sollen die in meiner Thüre sich am besten ausgenommen haben. Ohne zu wissen, daß ich sie arrangirt, haben mir's die Menschen versichert, und ich glaube es auch, weil ich klugerweise für schärfere Beleuchtung und eine dunkle Hinterwand gesorgt hatte. In meiner Thüre erschienen folgende Bilder: die Gräfin Fritsch als Circe – Herr v. Könneritz, als junger Prophet, mit einem Engel – und die Poesie, also meine eigene werthe Person. Da aber diese gerade zuerst erscheinen mußte, und niemand hatte, der sie zu drapiren verstand, so erbarmte der alte Goethe sich der armen Poesie... und zog und zerrte und zupfte solange an meinem Mantel herum, bis er endlich, entzückt über sein eigen Werk, »Schön! schön! wunderschön!« ausrief und mir versicherte: es sei jammerschade, daß ich mich nicht selbst sehen und zeichnen könne ....

Es wäre sehr eitel von mir und langweilig für[275] Euch, wenn ich erzählen wollte, was für außerordentliche Artigkeiten mir von allen Seiten zuströmten, als ich nach beendigten Vorstellungen im Ballkleid in den Zimmern der Hoheit erschien .... Goethe allein hat mich getadelt, aber das Wunderbarste ist, daß dieser Tadel mich gefreut hat, statt mich zu schmerzen, weil er artiger war, als jemals ein Lob gewesen. Meine Feder sträubt sich, ihn hier niederzuschreiben, da er aber in Beaulieu'scher Manier gesagt ist, so wird es diesem nicht schwer fallen, ihn zu errathen.[276]


689.*


1817, 7. Februar und vorher.


Mit Heinrich Franke

Im Februar 1817 wünschte Goethe meine Mitwirkung in »Paläophron und Neoterpe«, welches am 7. in seinem Hause aufgeführt werden sollte .... Goethe selbst leitete die beiden Proben und war dabei von einer außerordentlichen Liebenswürdigkeit. Er hatte Zeichnungen zur Hand, die genau Maske und Costüme jedes einzelnen angaben. Mich belehrte er über Haltung, Gang und Mimik und meinte, im Costüme und mit der Maske werde die Sache sich gut machen. Die Vorstellung in Gegenwart mehrerer fürstlichen und vieler andern distinguirten Personen verlief günstig. Nach derselben blieben wir Mitwirkenden zum Thee. Ich stand bescheiden an der Wand, als mir Goethe, den[276] ich im Gespräch mit dem Kanzler v. Müller sah, winkte und mir sagte: »Nun, wir sind zufrieden! Es war zwar nur eine kleine Rolle, die Ihnen zugetheilt worden, aber auch die kleinste hat ihre Wichtigkeit. – Eigentliche Nebenrollen,« fuhr er mehr gegen Müller gewendet fort, »gibt es nicht; sie sind nothwendige Theile eines Ganzen.«[277]


1679.*


1817, 18. Februar.


Mit Friedrich von Gerstenbergk gen. Müller

Wir denken hier [in Weimar] in unsern literarischen Abenden Ihrer [Heinr. Wilhelm v. Gerstenberg's] recht oft und dankbar. Noch ehegestern sprach Goethe mit mir von der Zeit, wo Sie und mein nun geschiedener väterlicher Freund Wieland in Fehde waren.[85]


690.*


1817, 14. März.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Die Menschen können nichts mäßig thun; sie müssen sich immer auf Eine Seite legen.«[277]


691.*


1817, März.


Mit Eduard Genast

[Nachdem Anton Genast auf Betrieb der Frau v. Heygendorff genöthigt gewesen war, seine Entlassung als Hofschauspieler zu nehmen, ging er zu Goethe, sich zu verabschieden.]


Goethe empfing ihn mit den Worten: »Alter Freund! es thut mir leid, daß die Sache sich so gestaltet hat und wir in geschäftlicher Beziehung scheiden sollen; doch Ihr selbst seid ja damit einverstanden. Wo ich Eures Raths bedarf, werde ich ihn nach wie vor in Anspruch nehmen.« Mein [Eduard Genast's] Vater erwiderte: »Ew. Excellenz wissen, wie treu ich Ihnen[277] ergeben bin, darum brauche ich Ihnen nicht erst die Versicherung auszusprechen, wie schmerzlich mir es ist, nicht ferner in Ihrer Nähe weilen zu dürfen. Aber was meine Stellung beim Theater anlangt, so kann ich nur sagen, daß ich mich herzlich darüber freue, dieser nun enthoben zu sein; denn nur Ew. Excellenz Wohlwollen und freundliche Nachsicht haben mir in den letzten Jahren meine Last erleichtert, die man mir von anderer Seite her möglichst erschwert hat. Meine Entlassung, fürchte ich, ist nur die Exposition des Ganzen, was man vorhat, und wenn mich meine Beobachtungen nicht trügen, so werden mir Ew. Excellenz bald nachfolgen.« Goethe sah den kühnen Sprecher mit einem stolzen Blick an und erwiderte: »Glaubt Ihr nicht, daß der Capitän, der die Kraft seines Schiffes kennt, es ohne seinen alten Steuermann regieren wird?« – »Ganz gewiß, Ew. Excellenz,« war die Antwort meines Vaters; »aber man wird Ihnen das Steuerruder aus der Hand zu nehmen wissen.« Ohne ein Wort hierauf zu erwidern, entließ Goethe mit einem kurzen Kopfnicken meinen Vater.[278]


692.*


1817, 25. März.


Mit Eduard Genast

Goethe weilte seit Anfang März in Jena und da die Mißstimmung zwischen ihm und meinem Vater[278] längst verschwunden war, fuhren wir hin, um ihm Lebewohl zu sagen [da auch Eduard Genast Weimar verließ]. Beim Abschied stürzten mir die Thränen unwillkührlich aus den Augen, obgleich ich wußte, daß er solche sentimentale Scenen gar nicht liebte; aber auch er wurde warm. Indem er mich in seinen Arm nahm und ich seine liebe Hand mit Küssen bedeckte, sagte er: »Gott behüte Dich, Eduard! Bleibe stets auf der Bahn des Rechten sowohl im Leben, wie in der Kunst, so wird sich Deine Zukunft gut gestalten.« Hierauf nahm er ein Buch von seinem Schreibtisch und übergab es mir als Andenken - ... seine Gedichte, erster und zweiter Band, bei Cotta 1815 erschienen.[279]


1798.*


1817, 30. März.


Mit Johann Heinrich Voß d. J.

Er sprach mit wahrer Begeisterung von meinen »Lustigen Weibern«, die er ganz gewaltig, eigentlich im Übermaß lobte und geradezu die beste Shakespeareübersetzung nannte. Es thut wohl, für etwas, das man mit Liebe gearbeitet hat, getobt zu werden, nun vollends wenn ein Goethe lobt und nicht etwa beim[215] Allgemeinen stehen bleibt, sondern tief ins Einzelne hineingeht. Goethe sprach ganz herrlich über die Eigenthümlichkeit dieser unvergleichlichen Merry Wives; besonders sagt ihm die Duellgeschichte zu und die Auskleidung in die Hexe von Bomtfort. Zweimal hintereinander hat er meine Übersetzung gelesen und dann zum dritten Mal das Glück englisch. Diese Übersetzung hat mir sein ganzes Herz vonneuem geschenkt, das ich einmal verloren glaubte. Auch über Love's Labours Lost sprach Goethe und lobte mein Hirschlied, hinzufügend, daß Lenz die Idee des Stückes verfehlt, ich aber in der kurzen Anmerkung ganz richtig angegeben habe.[216]


1799.*


1817, 1. April.


Mit v. Knebel und Voß;

Einmal lud er [Knebel] uns auf ein Mittagsessen und auf Goethe. Vor dem Essen, im Garten, sprach Goethe über die Calderonrecensionen ziemlich ausführlich. Bei Tische hatte er den alten Knebel auf eine gar zutrauliche Weise fast immer zumbesten, und das scheint die Würze des Umgangs zwischen beiden zu sein. Auf die Frage, was der Heidelberger Daub für ein Mann sei, antwortete ich Knebel: der beste Mensch, ein vortrefflicher Prorector, ein herrlicher Gatte und Vater u.s.w. »Aber mein Gott!« sagte er, »wie kann er denn ein so einfältiges Zeug in die Welt[216] setzen, wie den ›Judas Ischarioth‹?« »Sei ruhig, mein Kind!« sagte Goethe, der nun das Wort nahm, »Sieh, das ist ganz wie mit Dir: Du bist auch der liebenswürdigste Mensch, den je die Sonne beschienen hat, Du bist ein zärtlicher Gatte, ein liebreicher Vater, würdest auch ein herrlicher Prorector sein, wenn man Dich wählte, aber wolltest Du anfangen, alle Deine Gedanken in die Welt hinein drucken zu lassen, buh und bah! Wie würden die Leute da über Dich herfallen! Sieh, liebes Kind,« fuhr er fort, »das ist ein Vorzug, den die Leute haben, die nicht schreiben: sie compromittiren sich nicht.«

Noch einmal fing Goethe an über die ›Lustigen Weiber‹ zu reden. »Ich habe ihn schon tüchtig gelobt,« sagte er zu Knebel, »aber er muß noch einmal, und das recht ordentlich gelobt werden.« Ich sagte: es dünkte mir so köstlich, daß alles im Stück Philister wäre, sogar Falstaff und die Elsen. Da meinte Goethe oder Knebel, (der letzte wird es gewesen sein): Fenton und Anna Page wären keine. O, platzte ich dazwischen aus, noch sind sie's nicht, sie sind auch erst einundzwanzig Jahre alt, lassen Sie sie erst dreißig alt sein, dann sind sie die vollkommensten. Darüber lachte Goethe sehr. »Da seh' einer den Heinrich Voß!« rief er; »der hat sich so in sein Stück vertieft, daß er Alter und alles genau kennt.« .... Goethe meinte auch, ich könne das Stück unmöglich in abgerissenen Stunden, ich müsse es nothwendig bei recht ordentlicher[217] Muße übersetzt haben, was denn auch freilich gegründet ist. Da sagt' ich denn auch Goethe: ich könnte mir einzelne Dichtungen gar nicht ohne einzelne Parthien des Weimarischen Parks denken, z.B. den Anfang der ›Iphigenie‹ und einzelne Stellen aus dem ›Lear‹ u.s.w. Da hättest Du ihn sollen reden hören über den Zauber der Phantasie, welche die ungleichsten Dinge verbinde und einen Gegenstand durch den andern verherrliche. Da forderte Goethe auch von mir, ich sollte ›Heinrich IV.‹ übersetzen.

Nach dem Essen erinnerte er mich an die Treue, mit der ich ihn in seiner Krankheit 1804 gepflegt und daß die Treutern ihm gesagt: Ach, wie schön, daß Sie genesen sind! Der arme Herr Professor wäre ganz draufgegangen; er konnte gar nicht mehr essen vor Kummer.[218]


693.*


1817, Mitte April.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Eine der größten Neuigkeiten unserer Stadt ist, daß Goethe, des leidigen Theaterwesens und Unwesens müde, die Direction des Theaters niedergelegt hat; er wird sich selbst, seinen Freunden und Verehrern, den Künsten und Wissenschaften in verjüngter Kraft leben, da jene theatralische Zwangherrschaft ihm nicht mehr seine besten Stunden raubt, indem er für all seine Müh doch nur Undank einernten konnte. Über seinen Entschluß fand ich unsern, sonst in hiesigen Dingen so an sich haltenden Goethe vor ein paar Tagen abends[279] ... sehr animirt. Er sagte im Verlaufe des Gesprächs: »Schauspieler und Publicum sind in gleicher Confusion und man macht sie immermehr zur Natur der Kunst. In die Fremde mußte man gehen, um des Guten froh zu werden, was man hier besaß und nun zerstört. Ein Bedürfniß für das Beste habe ich nie wahrgenommen, der Drang zum Schlechten bricht aber überall durch, und ich bin dieser Theatertournuren satt. Bei so viel Verdruß auch noch Schande, dazu verweigere ich mich, und die geringste Nachgiebigkeit hierin untergräbt alle Arbeit, bis das Ganze fällt. Habe ich das Publicum determinirt behandelt, als ich seinen Geschmack auf eine höhere Stufe bringen wollte, muß ich auch determinirt auftreten, wo man mich hemmt, das Gute zu realisiren. Ist's damit vorbei, hat sich kein anderer Sinn festgesetzt, als der, daß man nur das Neue will, wie niedrig es stehen möge – nun, wohl dem, der sich loslösen kann von einem Fuhrwerk, das bergab stürzt. Ich aber kann's und will wenigstens fort von einem Wege, auf welchem die rechte Höhe unerreichbar ist – bei dem Theater besonders deshalb, weil den jetzigen Schauspielern überhaupt für das Leben und die Kunst der Ernst und die tüchtige Auffassungsgabe mangeln. Es ist ein weibisch Volk und ein Weiberregiment ihnen das Zuträglichste.«[280]


1521.*


1817, April.


Mit Joseph Green Cogswell

Instead of the proud repelling giant for whom he was prepared he found a kind, benignant man who received the young foreigner with natural and[341] unaffected heartiness. With a fine tact Goethe soon turned the conversation upon America and its hopes and promises, and astonished Cogswell through his minute knowledge of the physical and moral conditions of the country and its people. He spoke of Boston and its situation, of the productions of the American soil, of the large scale of its crystallizations as compared with those of other continents, and of the future of American literature. And during this whole conversation, says Cogswell, he made ›juster and more rational observations than I ever heard from any man in Europe.‹[342]


694.*


1817, 30. April bis 5. Mai.


In der Frommannschen Familie

Gestern [5. Mai] früh steigt Goethe mit den Tanten [Elisabeth Wesselhöft und Wittwe Bohn geb. Wesselhöft] in ihrem Garten herum und sie sprechen über die Stuttgarter Geschichten, daß dieser König ihnen auch nichts recht macht, man ihm Pasquillgemälde geschickt hat etc. Da sagt die Bohn: »Ich begreife nicht, wie es kommt, daß die Menschen doch auch mit niemand zufrieden sind!« Da steht er still und sagt: »Ja, wißt ihr Kinderchen, woher das kommt? weil sie mit sich zu sehr zufrieden sind. Ihr Lieben, denkt's weiter nach!«... Aber wie hab' ich [Johanna Frommann geb. Wesselhöft] Dich [Friedrich Frommann] Mittwoch [30. April] hergewünscht, wo Goethe so ganz offen war, so heiter, daß er zuletzt halb 11 um Verzeihung bat, daß er uns so lange aufgehalten habe. Italien, Moritz, Merck, die Zeit von 1772 bis 1800 kamen auf's Tapet. Zuletzt kam's auf Preßfreiheitzwangscensurexemplare, wie dasjenige betitelt wurde, was die Censoren, die nicht mehr censiren, noch haben möchten... – Um dieselbe Zeit erzählte er einmal, wie ein hallischer Renommistin Kanonen und mit Stürmer ins Berliner Theater kommt und, als einiger Spectakel entsteht, auf die Bank steigt und ruft: Schauderhafter Plebs, sei stille! worauf alles still wird.[281]


695.*


1817, Mitte (?).


Mit Friedrich Wilhelm Riemer


a.

»Der Patriotismus verdirbt die Geschichte,« pflegte Goethe zu sagen; »Juden, Griechen und Römer haben ihre und die Geschichte der andern Völker verdorben, nicht unparteiisch vorgetragen. Die Deutschen thun es auch, so ihre eigene, als die Geschichte der Ausländer.«


b.

»Gutem Willen eines jeden will ich gerne nachhelfen; wo ich aber Mißwollen fühle, bin ich auf meiner Hut, um mich nicht unversehens als Mitschuldigen zu ertappen.«


c.

»Diese Italiener sind seltsame Personen; hohle Enkomiasten in ihren öffentlichen Vorträgen, heimliche Detractoren wenn sich Gelegenheit findet.«[282]


696.*


1817, 22. August.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Pfaffen und Schulleute quälen unendlich. Die Reformation soll durch hunderterlei Schriften verherrlicht[282] werden; Maler und Kupferstecher gewinnen auch was dabei. Ich fürchte nur, durch alle diese Bemühungen kommt die Sache so ins Klare, daß die Figuren ihren poetischen, mythologischen Anstrich verlieren; denn unter uns gesagt, ist an der ganzen Sache nichts interessant als Luthers Charakter, und auch das Einzige, was der Menge eigentlich imponirt. Alles Übrige ist ein verworrener Handel, wie er uns noch täglich zur Last fällt.«[283]


697.*


1817, zwischen 22. März und 8. August.


Mit Friedrich Wilhelm Krummacher

Voran stehe die Begegnung mit unserm Dichterfürsten Goethe. Es war im Jahre 1817, als ich mit diesem in heroischer Gestalt vor mir stehenden Manne eine längere freundliche Unterhaltung hatte. – Als damaliger Student machte ich vom Turnplatze aus in meinem Turnergewande einen einsamen Spaziergang dem Berge zu, welcher »die Goethesruhe« genannt wurde, und erblickte am Fuße desselben die Equipage der Excellenz. Obwohl ich dieselbe öfter schon von ferne erblickt hatte, war es mir doch interessant, ihn im Vorbeigehen näher anzuschauen und ihm meinen Gruß zu entbieten. Letzteres geschah in aller Ehrerbietung, aber vorbeigehen sollte ich nicht. »So eilig?« war die freundliche Anrede. Ich blieb stehen, die schwarzrothgoldene[283] Burschenschaftsmütze in der Hand. »Bedecken Sie sich,« hieß es. »Sie kommen vom Turnplatz?« Auf meine bejahende Antwort erwiderte er: »Die Turnerei halte ich werth; denn sie stärkt und erfrischt nicht nur den jugendlichen Körper, sondern ermuthigt und kräftigt auch Seele und Geist gegen Verweichlichung.« Darauf fragte er nach meinem Namen und als ich ihm denselben nannte, sagte er mir: »Ihr Name ist mir wohlbekannt. Ist vielleicht der Verfasser der Parabeln Ihnen verwandt?« Und als ich erwiderte: »Derselbe ist mein Vater, Excellenz!« da sprach er das mich hoch erfreuende Urtheil: »Diese tiefen Dichtungen sind nach Inhalt und Form klassisch und überstrahlen die Herder'schen. – Was studiren Sie?« fragte er weiter. »Theologie, Excellenz.« Er: »Da werden Sie sehr viel zu studiren haben. Gefällt es Ihnen denn in Jena?« – »Natur und Wissenschaft bieten vieles, aber auch unsere Verbindung, die Burschenschaft, die von einem patriotisch-sittlichen Geist durchweht ist.« Er: »Aber herrschen in derselben nicht auch extreme Richtungen?« Ich: »Es mag das bei einzelnen der Fall sein, aber sie haben durchaus keine gefährliche Tendenz.« Er: »Also die Natur gefällt Ihnen hier? Sie gefällt auch mir. Schauen Sie nur das Panorama an, welches von diesem Hügel sich darstellt als ein harmonisches Ganze: dort im Thale die Stadt mit der Saale, rings von Bergen umgeben, und südwärts die Burg, romantisch hervorragend. Sie thun wohl,[284] wenn Sie sich neben der Wissenschaft der Natur erfreuen. Wenn Sie aber an Ihren Vater schreiben, so bitte ich, ihn von mir hochachtungsvoll zu grüßen.« – »Das wird meinem Vater,« erwiderte ich, »ein werthvoller Gruß sein, für den ich auch Ew. Excellenz herzlich danke.« – Darauf reichte er mir mit den Worten: »Ich wünsche Ihren Studien den besten Erfolg!« die Hand, und so nahm ich von dem freundlichen Herrn Abschied.[285]


698.*


1817.


Mit Samuel Ferjentsék

Eines Tages war Ferjentsék... zu einem geselligen Cirkel bei Knebel eingeladen. Er wurde veranlaßt Goethes Ballade »Der Sänger« (in der Composition F. J. Reichardt's) zu singen. ... Der Sänger war noch in der ersten Strophe, da trat Goethe ein. Er stellte sich unten an's Clavier und sah unverwandt den Sänger an. Nach dem Liede ging er heiter auf ihn zu, reichte ihm die Hand und sagte: »Sie haben mir eine angenehme Stunde bereitet.« Er fragte ihn darauf, aus welcher Gegend Ungarns er sei und als er hörte, er sei aus den Bergstädten, bemerkte er sogleich: »Ei da müssen Sie sich auch für Mineralogie interessiren! Wir haben hier eine Mineralogische Gesellschaft; Sie müssen Mitglied werden.« Nach einiger[285] Zeit erhielt F. auch zu seiner großen Verwunderung ein... Diplom.

– – – – – – – – – – – – – – –

Goethe sprach von der Aufführung einer Oper, die an demselben Tage in Weimar stattfinden sollte und rieth Ferjentsék auf das Lebhafteste, diese Aufführung sich nicht entgehen zu lassen .... Ferjentsék war auch sogleich entschlossen nach Weimar zu gehn. Bevor er sich aber noch von Goethe empfahl, trat dieser an das Fenster und sagte, nachdem er einige Zeit hinausgesehen: »Ich rieth Ihnen vorhin, nach Weimar zu gehn, nun rathe ich Ihnen ab: es kommt ein Gewitter.« – Ferjentsék bemerkte: es sei ja doch der schönste Tag mit Sonnenschein und blauem Himmel. Goethe blieb bei seiner Meinung und Ferjentsék empfahl sich, ganz erstaunt über diese, wie ihm schien unbegründete Prophezeihung. Er glaubte nicht daran und blieb bei seinem Vorsatze, ging... nach Weimar und wurde von einem greulichen Gewitter überfallen, dabei naß bis auf die Haut.

Bei einem nächsten Besuche gestand F. denn seinen Unglauben und wie er dafür bestraft worden sei .... Er sagte unter anderm: »Ja, ihr jungen Leute, Ihr glaubt uns nicht! Wenn ich aber so jung wäre wie Sie, da wüßte ich, was ich thäte: ich würfe mich ganz auf die Meteorologie, da wäre noch etwas zu erreichen!«[286]


699.*


1817, 13. October.


Mit Friedrich von Müller

Nachmittag besuchte ich Goethen, der sehr artig und mittheilend war, nachdem ich vier Wochen getrotzt hatte. Er zeigte mir die »Krönung der Maria« und1 die Wunder des Hieronymus von (Fiesole) herausgegeben mit Beschreibung von Schlegel. Dann legte er des jungen Kaufmann schönes römisches Stammbuch vor und gab mir die Modelle der Schweizergebirge. Sehr schön und gemüthlich sprach er über Hofrath Meyers Aufenthalt in Heidelberg, über den Kastengeist der Jenaischen Akademiker und Graf Rhedens Persönlichkeit.2


1 Irrtümlich: Es heißt: oder die Wunder des heiligen Dominicus nach J. v. Fiesole, gez. von W. Ternite.


2 Wahrscheinlich Graf Redern, der aus Goethe – Zelters Briefwechsel bekannt ist.[287]


700.*


1817, 14. October.


Mit Luise Juliane von Lengefeld

Als ich neulich in die Stadt gehen will, steht mir Goethe im Wege auf der Schütte [vor dem Schlosse zu Rudolstadt]. Er war recht freundlich und sagte, er könne mir eigentlich nicht sagen, wo er herkomme noch wo er hingehe, er würde Dich [Charlotte v. Schiller][287] aber bald sehen und Dir es sagen, daß Du mir es schreiben solltest. Es freute mich ihn zu sehen; er sah so gut und ordentlich hübsch aus. Ich vermuthe, er hat die großen Köpfe bei uns [Abgüsse der Colosse vom Monte Cavallo in Rom] gesehen.1


1 Die Vermuthung war zutreffend[288]


701.*


1817, 20. October.


Mit Victor Cousin

Il [Goethe] me reçut dans une galerie ornée de bustes, où nous nous promenâmes. Sa démarche est calme et lente comme son parler; mais à. quelques gestes rares et forts qui lui échappent, on sent que l'intérieur est plus animé que l'extérieur. Sa conversation, d'abord assez froide, s'anima peu à peu; il parut ne pas trop s'y déplaire; j'ai joui quelques instants de Goethe se développant avec plaisir. Il marchait et s'arrêtait pour m'examiner ou pour se recueillir et marquer toujours plus profondément sa pensée, chercher une expression plus exacte ou donner un exemple et des détails. Le geste rare, mais pittoresque, et l'habitude générale grave et imposante. Nous restâmes ensemble à peu près une heure. Il n'a mis en avant aucun paradoxe, et il ne m'a dit que des choses neuves. Son imagination perçait de temps en temps; beaucoup d'esprit dans le détail et[288] le développement; un vrai génie dans le corps de l'idée. Ce qui me parait caractériser son esprit, c'est l'étendue.

Notre entretien commença assez mal. Je lui exposai l'état de la philosophie en France et mes projets. Ils n'étaient pas tout à fait de nature à plaire au Voltaire de l'Allemagne, à l'admirateur de Diderot, et il m'insinua doucement que la France ne s'occuperait jamais sérieusement de philosophie. Je lui répondis qu'au contraire la philosophie était dans l'essence même du génie français, témoin tant de philosophes illustres qu'a produits la France depuis Descartes jusqu'à M. Royer-Collard. Goethe m'eut tout l'air de ne connaître ni l'un ni l'autre. Il me dit alors qu'il croyait bien qu'il y aurait toujours en France des individus d'élite qui étudieraient la philosophie, mais qu'il doutait fort qu'ils pussent communiquer leur goût à un public nombreux. Il me cita l'exemple de son ami M. de Villers dont il déplora la perte. – »Monsieur,« lui répliquaije, »M. de Villers était émigré et il ne connaissait pas la France nouvelle. Moi, je suis un enfant de la révolution, je suis libéral comme tous mes camarades, et bien résolu à ne reculer devant aucune difficulté. J'ai d'ailleurs la ferme conviction que j'ai raison, et que le matérialisme et l'athéisme du XVIIIe siècle sont des erreurs funestes, incompatibles avec les sentiments et les moeurs d'un peuple[289] libre.« – Ce ton de jeune homme, qui dans ces préoccupations oublie à qui il parle, aurait irrité Voltaire: il fit sourire Goethe, et l'intéressa même, car tout ce qui avait la moindre apparence de caractère et de nouveauté, en mal ou en bien, excitait son attention. – »Eh bien.« me dit il, »puisque vous aimez la philosophie, et que vous voulez connaître la philosophie allemande, je puis vous en parler, car je l'ai vue naître et se développer.« Là-dessus il passa en revue tous les philosophes distingués qui étaient sortis d'Iéna et de Saxe-Weimar: Reinhold, Fichte, Schelling, Hegel, Herder, Schiller, Wieland, qui était aussi philosophe à sa manière. »J'ai tout vu en Allemagne, depuis la raison jusqu'au mysticisme. J'ai assisté à toutes les révolutions. Il y a quelques mois, je me suis mis a relire Kant; rien n'est si clair depuis que l'on a tiré toutes les conséquences de tous ses principes. Le système de Kant n'est pas détruit. Ce systéme, ou plutôt cette méthode, consiste à distinguer le sujet de l'objet, le moi qui juge de la chose jugée avec cette réflexion que c'est toujours moi qui juge. Ainsi les sujets ou principes du jugement étant différents, il est tout simple que les jugements le soient. La méthode de Kant est un principe d'humanité et de tolérance. – La philosophie allemande,« me dit-il encore, »c'est la manifestation des diverses qualités de l'esprit. Nous avons vu paraître tour à tour[290] la raison, l'imagination, le sentiment, l'enthousiasme.«

Il m'a beaucoup entretenu de physique. Selon lui, la physique de M. Biot, qui venait de paraître, a deux parties écrites dans deux systèmes différents, dont un esprit exercé saisit aisément l'opposition perpétuelle. Il m'a parlé avec vivacité contre le système atomistique.

Je ne puis qu'indiquer ici les points principaux de notre conversation. Il m'est impossible de donner une idée du charme de la parole de Goethe: tout est individuel, et cependant tout a la magie de l'infini: la précision et l'étendue, la netteté et la force, l'abondance et la simplicité, et une grâce indéfinissable sont dans son langage. Il finit par me subjuguer, et je l'écoutais avec délices. Il passait sans efforts d'une idée à une autre, répandant sur chacune une lumière vaste et douce qui m'éclairait et m'enchantait. Son esprit se développait devant moi avec la pureté, la facilité, l'éclat tempéré et l'énergique simplicité de celui d'Homère.[291]


1522.*


1817, October.


Mit Johann Kollár und... Mazari

Kaum hatte ich mich in Jena eingewohnt und umgesehen [er kam dort am 8. October 1817 an], so war es meine erste Sorge, nicht bloß die Professoren, sondern auch die übrigen dort lebenden großen Männer, oder wenigstens ihre Denkmäler und die Häuser, die sie bewohnt, kennen zu lernen. Der Zufall fügte es nun, daß Herr W. Goethe unweit von uns wohnte, ihm galt also mein erster Besuch. Ich war dort das erstemal mit Mazari, dann öfter allein. Das erstemal ließ er uns im Vorzimmer ein wenig warten, bis er, wie es hieß, Toilette gemacht hätte. Dann trat dieser[342] deutsche Jupiter mit würdevoller Höflichkeit, und gemessenen Schritten und Worten vor uns. Auch Herr Goethe war der Meinung, daß in Ungarn bloß Magyaren wohnen, weshalb er auch uns für Magyaren hielt. Als ich aber dagegen protestirte: ›Mein Herr, ich bin ein Slovake, oder wenn Sie wollen, ein Slave, und mein Gefährte hier ist ein Halbmagyare und Halbdeutscher,‹ lachte Herr Goethe über diesen meinen Freimuth laut auf, worauf er, zu mir gewendet, mich vertraulich bat, ihm einige slovakische Volkslieder zu verschaffen und zu übersetzen, da er viel von ihrem Reichthum und Schönheit gehört hatte. Um magyarische hätte er schon oft gebeten und geschrieben, hätte aber bisher noch keine bekommen können. »Ich höre, die Magyaren sollen ebenso sanglos sein, wie unser deutsches Volk.« So trennten wir uns.[343]


702.*


1817, November.


Mit Karl August Varnhagen von Ense

Ich mußte, als ich Goethen vor mir hatte, alles fahren lassen, was die langjährige, tiefgenährte Bekanntschaft[291] mit dem Dichter mir einflößen gekonnt, um nur mit dem neubekannten wirksamen Menschen beschäftigt zu sein, der mild, freundlich, treuherzig, anmüthig, geistvoll, kraftreich, mir das Bild eines ganzen Menschen – wenn dieser geringe Ausdruck der hohen Bedeutung fähig ist – in vollständig ausgebreiteter, großartiger, schöner Lebensentwickelung vergegenwärtigte. Das seltene Glück – hier wohl unverdient, doch nicht unwürdig empfangen – einer so milden und biedern Aufnahme, als sei ich ein alter Freund, der längst erwartet worden, mußte mich umsomehr überraschen, als ich die scheue Zurückhaltung, die ihm sooft vorgeworfen worden, in den schriftlichen Berührungen, die ich mit ihm gehabt, nicht ganz hatte vermissen können. Nach der ersten Begrüßung, wobei er mir die Hand reichte, sprachen wir gleich sehr vertraut, und bald nachher hielt er inne, hielt mir seine Hand hin und rief mit Innigkeit: »Sie müssen mir nochmal die Hand geben!« – Vergebens würde ich... den Gang, den Inhalt, oder auch nur die Art des alsbald lebhaften Gesprächs zu schildern suchen; es war wie ein Stück Leben, in tausend Wellen fließend, ein Gefühl im Ganzen wirkend, ohne die einzelnen Bezüge gesondert festhalten zu lassen; jedes Wort eine Blüthe am Zweige eines Baumes, aus der tiefen dunkeln Wurzel her, aber selber doch nur als lustigheitres Gebild des Augenblickes erschlossen. Wie jenen hellenischen Fremden zu Athen, die nach mehreren mit Plato verlebten Tagen ihn ersuchten, sie[292] nun auch zu seinem berühmten Namensvetter, dem Philosophen, zu führen, so ging es fast mir, der ich in täuschender Besinnung leicht diesen herrlichen Mann hätte bitten können, mir nun auch Bekanntschaft des ihm gleichnamigen Schriftstellers zu verschaffen. Ich blieb auf Goethes wiederholtes Anmahnen den ganzen Abend bei ihm, bis Mitternacht sogar; sein Sohn und dessen neuvermählte Gattin waren die einzigen Mitgenossen eines Theils dieser Stunden. Schwer würde ich einige besondere Sprüche aus dem lebendigen Ganzen aussondern; die festesten, kräftigsten Äußerungen, die feinsten erfreulichsten Wendungen, voll Gestalt im Hervorkommen, zerflossen mir unter den Händen, wenn ich sie dem Gedächtniß zum Behalten und Überliefern einprägen wollte. Wir sprachen über alles, Goethe mit ungewöhnlichem – er sagt' es selbst – Zutrauen von Dingen, die seine Denkart sonst lieber unerörtert lassen mag; auch über den Geist und die Richtung der Entwickelung der Gegenwart, über die Gestalten der nächsten Vergangenheit, Napoleon, Franzosen, Deutschland, Preußen. Wie freut' ich mich des unerschütterlichen Vertrauens, das ich trotz aller Zwischendinge stets in unsres vaterländischen Dichters Vaterlandstreue gesetzt! Wie gerecht, einsichtig und unschuldig waren seine Äußerungen in dieser Hinsicht, von wahrem Geschichtsgefühl, so des Augenblicks, wie der Jahrhunderte beseelt! Er sieht nur früh und schnell die Dinge so, wie die meisten erst spät sie sehen; er hat vieles schon[293] durchgearbeitet und beseitigt, womit wir uns noch plagen, und wir verlangen, er solle unsre Kindereien mitmachen, weil wir sie noch als Ernst nehmen![294]


1523.*


1817, November (?).


Mit Kollár u.a

Nach Monatsfrist etwa begegnete ich Herrn Goethe im fürstlichen Garten auf der Promenade, und sogleich auf mich zuschreitend, schalt er mich: »Was machen die slovakischen Gesänge?« Ich entschuldigte mich mit dem Mangel an Zeit zu Beginn des Semesters, und versprach, wie ich es auch hielt, sie nach Verminderung der aufgelaufenen Arbeiten zu liefern. Einige von[343] ihnen, von ihm metrisch bearbeitet, erschienen in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift.

Bei dem zweiten und den folgenden Besuchen legte Goethe den Minister und den Hofmann schon ganz ab, und schien eher Patriarch und Vater zu sein. Goethe hatte die Gewohnheit, fast täglich, in einem mit zwei Schimmeln bespannten Wagen um Jena herum zu fahren, und dabei mit seinem Kutscher, als wäre es sein vertrautester Freund, laut zu sprechen, oder zu zanken. Unser Freund, Herr Samuel Ferjencik, ein ausgezeichneter Sänger und Guitarrespieler, verkehrte noch viel häufiger und intimer mit Goethe, weil er seine Balladen und Romanzen, Erlkönig, Der Sänger, Fischer, vortrefflich zu singen verstand.[344]


703.*


1817, November oder December.


Über Wartburgfestreden

Von [des Studenten] Rödiger's Rede sagte sogar Goethe neulich: »Ja, ein paar Ungeschicklichkeiten etc. abgerechnet, ist sie sogar in sich gut.« Am meisten wird Fries' Rede getadelt und für einen Professor ungeschickt und unklug genannt, wie seine Erklärung.[294]


704.*


1817, Anfang December.


Mittag bei Frommanns


a.

Wir haben einen schönen Mittag mit Goethe gehabt. Wir saßen von 1 Uhr an nur bis 4 1/2 bei Tische! Der alte Herr schwazte so schön. Du [Friedrich Johann Frommann] weißt, ich [Johanna Frommann] bring' ihn nicht auf solche Dinge, aber er kam von selbst aus R.'s Rede. Du wärst zufrieden gewesen mit dem, was er sagte, aber nachsagen kann man's besser mal mündlich, als schriftlich, nicht weil's verfänglich wäre, sondern weil einem kaum gefällt, was man ihm nachsagt, viel weniger nachschreibt. Auch über[294] andres denkt er wie wir. Überhaupt über die Jugend und ihren mitunter unartigen Muthwillen ist keiner erbittert oder erbost, als Leute mit bösem Gewissen oder Stumpfe, wenn sie auch getadelt wird.


b.

Goethe aß den Mittag auch bei uns, und wie [der Untersuchungscommissar] G. fort war, äußerte er, daß er noch sitzen bleiben wolle und wurde nun so gesprächig und liebenswürdig, wie ich ihn nie gesehn. Er kam nämlich auf die Wartburggeschichte, und nun erklärte er sich so, daß ich ganz aus den Wolken fiel. Unter andern sagte er ungefähr: ob es etwas Schöneres geben könne, als wenn die Jugend aus allen Weltgegenden zusammenkäme, um sich fester für das Gute zu verbünden mit dem Entschlusse, in jeder Lage ihres Lebens alle ihre Kräfte aufzuwenden etc.[295]


705.*


1817, Ende November – Anfang December.


Über den Studenten Rödiger.1

R. ist neulich bei Goethe gewesen und hat ihn stumm und kalt gefunden; er hat immer von Politik anfangen wollen, G. aber immer gleich abgebrochen.[295] Nun war es wunderbar, wie G. von ihm erzählte, daß er sich hätte zurückhalten müssen; er hätte dem R. um den Hals fallen, ihn tüchtig küssen und sagen mögen: »Lieber Junge, sei nur nicht so dumm!« Die Mutter nannte R.'s Augen lebendig; das war G. lange nicht genug. Er sagte auch: er thäte jetzt nichts als niederschlagende Pülverchen einrühren, damit sie nur seinen lieben jungen Leuten nichts thäten, seinen lieben Brauseköpfen.


1 Wenigstens höchst wahrscheinlich ist unter dem »R.« Rödiger zu verstehen, obwohl auch ein Burschenschafter Riemann als Redner beim Wartburgfeste aufgetreten war.[296]


706.*


1817, 12. December.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Wenn die Deutschen anfangen, einen Gedanken oder ein Wollen, oder wie man's nennen mag, zu wiederholen, so können sie nicht fertig werden, sie singen immer unisono wie die protestantische Kirche ihre Choräle.«[296]


708.*


1817 (?).


Mit Jenaischen Burschen

Man denke aber von dem frommen Ernste der damaligen Jenenser Jugend nicht zu hoch. Das »frisch, frey und fröhlich« wog immer noch gegen das Schlußwort ihrer Devise stark bei derselben vor. Wohl war alles, was an's Gemeine gränzte, aus ihrem Kreise verbannt, doch hatten neben ernsten Exercitien der aus unserer Mitte gebildeten und von Officieren des Freiheitskampfes befehligten »Wehrschaft« und der »edlen Turnerei«, die alten Commerse, »Paukereien«, ob diese auch seltener, burlesken Schaustellungen auf dem Marktplatze, und was deß mehr noch, ihren »flotten« Fortgang, ja, neben den höchst feierlichen Bundesversammlungen ging sogar nach wie vor auch die althergebrachte[297] Lichtenhainer »Hofhaltung« mit ihrem biertapferen Herzog Thus, ihren Hofchargen und »Kanonenorden« her, eine Rolle, an der sich sogar Goethe einmal auf einem Spaziergange vorübergehend ergötzte. Überhaupt ward uns öfter die Freude, der hohen Gestalt dieses Dichterheros zu begegnen. Auf dem Turnplatz verweilte er einmal, nach dem er aus seinem, von zwei weißen Schimmeln gezogenen Wagen gestiegen, länger in unserer Mitte, und ich meine heute noch die sonore Stimme zu vernehmen, mit der er angesichts der Schwingungen eines besonders geübten Turners am Reck seine Bewunderung in dem Ausruf kund gab: »Ich bin erstaunt! Einer Weidengerte gleicht der junge Mann!« Eine einst an ihn mit der Bitte abgeordnete Deputation, daß er uns Vorlesungen über Literatur oder Ästhetik halten möge, wurde auf das Wohlwollendste von ihm aufgenommen und nach einer längeren, die Studien der einzelnen Deputirten betreffenden traulichen Unterhaltung mit der Versicherung entlassen, er werde »zu gelegener Zeit« (diese Zeit aber trat nimmer ein) mit Freuden unserem Wunsche willfahren.[298]


1524.*


Um 1817(?).


Mit Ulrike von Pogwisch

Ach, er war so gut, so engelsgut; wir nannten ihn immer den ›Vatter‹, das mochte er gern. O, das war eine Ehrfurcht, wenn der Vatter kam, und wenn er uns anredete, dann waren wir schon glücklich. Ja, Sie hätten nur sehen sollen, was für ein schöner, majestätischer Mann er war. Ich war noch ein kleines dummes Ding, wußte wohl, daß er ein berühmter Mann war, der Verse machte, aber lesen that ich sie nicht. Und weil ich damals seine Größe noch nicht[344] zu schätzen verstand, war ich ihm viel dreister, als die andern Hausgenossen. Nun mochte er es gern, daß eine von uns jungen Mädchen, deren mehrere im Hause waren, in seinem Zimmer verweilte, wenn er arbeitete, doch durfte diese keine Handarbeit vornehmen. Auch wurde nur selten gesprochen; er mochte uns nur gern so um sich haben. Das war mir aber zu langweilig, und so nahm ich meine Arbeit mit. Nun gab's gleich ein Gezwitscher: ›Die Ulrike ist zum Vatter gegangen mit Handarbeit.‹ Ich kehrte mich nicht daran, und als es dem Vatter gesagt wurde, wie ungehorsam ich sei, lächelte er so ein ganz wenig – er konnte oft so ein ganz wenig lächeln und es war dann in seinem Gesicht wie heller, warmer Sonnenschein – und sagte: »Beunruhigt nur die Kleine nicht! Sie darf es.«[345]


Quelle:
Goethes Gespräche. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Band 1–10, Leipzig 1889–1896, Band 8, S. 344-346.
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