1830

[177] 1240.*


1830, 3. Januar.


Mit Johann Peter Eckermann

Goethe zeigte mir das englische Taschenbuch ›Keepsake‹ für 1830, mit sehr schönen Kupfern und einigen höchst interessanten Briefen von Lord Byron, die ich zum Nachtisch las. Er selbst hatte derweil die neueste französische Übersetzung seines ›Faust‹ von Gérard zur Hand genommen, worin er blätterte und mitunter zu lesen schien.

»Es gehen mir wunderliche Gedanken durch den Kopf,« sagte er, »wenn ich bedenke, daß dieses Buch noch jetzt in einer Sprache gilt, in der vor fünfzig Jahren Voltaire geherrscht hat. Sie können sich hierbei nicht denken, was ich mir denke, und haben keinen Begriff von der Bedeutung, die Voltaire und seine großen Zeitgenossen in meiner Jugend hatten, und wie sie die ganze sittliche Welt beherrschten. Es geht aus meiner Biographie nicht deutlich hervor, was diese Männer für einen Einfluß auf meine Jugend gehabt, und was es mich gekostet, mich gegen sie zu wehren und mich auf eigene Füße in ein wahres Verhältniß zur Natur zu stellen.«

Wir sprachen über Voltaire Ferneres, und Goethe recitirte mir das Gedicht ›Les Systèmes‹, woraus ich mir abnahm, wie sehr er solche Sachen in seiner Jugend mußte studirt und sich angeeignet haben.

[177] Die erwähnte Übersetzung von Gérard, obgleich größtentheils in Prosa, lobte Goethe als sehr gelungen. »Im Deutschen,« sagte er, »mag ich den ›Faust‹ nicht mehr lesen, aber in dieser französischen Übersetzung wirkt alles wieder durchaus frisch, neu und geistreich.

Der ›Faust‹,« fuhr er fort, »ist doch ganz etwas Inkommensurables, und alle Versuche, ihn dem Verstande näher zu bringen, sind vergeblich. Auch muß man bedenken, daß der erste Theil aus einem etwas dunkeln Zustande des Individuums hervorgegangen. Aber eben dieses Dunkel reizt die Menschen, und sie mühen sich daran ab, wie an allen unauflösbaren Problemen.«[178]


1241.*


1830, 10. Januar.


Mit Johann Peter Eckermann

Heute zum Nachtisch bereitete Goethe mir einen hohen Genuß, indem er mir die Scene vorlas, wo Faust zu den Müttern geht.

Das Neue, Ungeahnte des Gegenstandes, sowie die Art und Weise wie Goethe mir die Scene vortrug, ergriff mich wundersam, sodaß ich mich ganz in die Lage von Faust versetzt fühlte, den bei der Mittheilung des Mephistopheles gleichfalls ein Schauer überläuft.

Ich hatte das Dargestellte wohl gehört und wohl empfunden, aber es blieb mir so vieles räthselhaft, daß[178] ich mich gedrungen fühlte, Goethe um einigen Aufschluß zu bitten. Er aber, in seiner gewöhnlichen Art, hüllte sich in Geheimnisse, indem er mich mit großen Augen anblickte und mir die Worte wiederholte:


Die Mütter! Mütter! 's klingt so wunderlich!


»Ich kann Ihnen weiter nichts verrathen,« sagte er darauf, »als daß ich beim Plutarch gefunden, daß im griechischen Alterthume von Müttern als Gottheiten die Rede gewesen. Dies ist alles, was ich der Überlieferung verdanke, das übrige ist meine eigene Erfindung. Ich gebe Ihnen das Manuscript mit nach Hause, studiren Sie alles wohl und sehen Sie zu, wie Sie zurechtkommen.«[179]


1242.*


1830, 11. Januar.


Mit Friedrich von Müller

Ich traf Goethen gegen Abend ziemlich abgespannt und einsilbig, es gelang mir jedoch, nach vielen vergeblichen Versuchen, ihn endlich munter, gesprächig und heiter zu machen.

Darüber war ich sehr froh; denn nichts ist peinlicher als das Zusammensein mit ihm, wenn er jeden Gesprächsfaden sogleich fallen läßt, oder abreißt, auf jede Frage mit: »Gute Menschen! es ist ihnen aber nicht zu helfen;« oder »da mögt ihr jungen Leute zusehen,[179] ich bin zu alt dazu,« antwortet und manche lange Pause mit nichts als hm! hm! ausfüllt, auch wohl den Kopf wie aus Schläfrigkeit sinken läßt.

Als ich ihn an den Brief an den König von Bayern mahnte, fing er zuerst Feuer. »Wenn ich nur jemanden hätte, der meine Briefe, wenn sie fertig dictirt sind, gleich expedirte.

Aber gar oft, wenn die Reinschrift mir vorliegt, gefallen sie mir nicht mehr, weil sich indeß meine Stimmung verändert hat. Während ich dictire, denke ich mir die Person, an die ich schreibe, als gegenwärtig, überlasse mich naiverweise dem Eindruck des Moments und meinem Gefühl, später aber vermisse ich jene Gegenwart und finde nun manches absurd und unpassend für den Abwesenden. Der Brief an den König ist fertig, sogar mundirt, aber ich kann mich nicht entschließen ihn abzusenden.«

Labourdonnaye's Austritt aus dem Ministerium piquirte ihn; er möchte die wahre Ursache wissen. Auf meine Frage, was er denn eigentlich bei der jetzigen Krisis in Paris prophezeie? erwiederte er: »Leider glaube ich, daß die Minister irgend einen Gewaltschritt thun werden, aber ich kann mir doch nicht denken, daß die Liberalen sich gewaltsam opponiren, es sind zu wenige Revolutionsmomente dermalen im Volke vorhanden, und dem Gouvernement stehen lauter Leute gegenüber, die zu viel zu verlieren haben. Ich bin jetzt im zehnten Bande der St. Simon'schen Memoiren, die[180] mich aber zu ennuyiren anfangen, da die Periode der Regentschaft herangekommen! Habe ich mich schon geärgert, daß der verständige, kluge, brave St. Simon unter Louis XIV. keinen Einfluß gewonnen, so ist es nun doppelt verdrießlich, ihn unter dem Halbmenschen Orleans so ganz null an politisch praktischer Wirksamkeit zu sehen. Jener König ist doch noch eine stattliche Figur, ein Tyrann, ein Herrscher von prononcirter Farbe gewesen, aber Orleans weiß durchaus nicht was er will, ist rein gar nichts.«

Als ich von der bewundernswürdigen Menge seiner täglichen Lectüre sprach, versicherte er, im Durchschnitt wenigstens einen Octavband täglich zu lesen. So habe er kürzlich einen ganzen Band absurder Krummacher'scher Predigten durchlesen, ja einen Aufsatz darüber zusammen zu bringen versucht, den er an Röhr mittheilen wolle. Mir freilich werde seine Geduld dabei verwunderlich erscheinen, weil ich diese Predigten nur in Beziehung auf mich beurtheile; aber ihm sei daran gelegen, so ein tolles Individuum ganz kennen zu lernen und zu ergründen, wie es sich zu unserer Zeit und Bildung verhielte und sich darin habe gestalten können. Das zweite Gedicht »An Ihn« im Chaos1 hielt er von einem Manne verfaßt; es sei bei aller poetischen Formgerechtigkeit[181] gar zu unweiblich, abstract, ja arrogant. Er redete mir sehr zu, doch meinen Pisaner Excurs ins Chaos zu geben und lobte meine italienischen Tagebücher ungemein.


1 Es könnte nur die Stelle sein:

Mich trennt das Meer von den Geliebten,

die aber bis 1829 in allen Cotta'schen Ausgaben der Werke Goethes richtig lautet.[182]


1243.*


1830, 18. Januar.


Mit Friedrich Soret

Goethe sprach über Lavater und sagte mir viel Gutes von seinem Character. Auch Züge von ihrer frühern intimen Freundschaft erzählte mir Goethe, und wie sie zu jener Zeit oft brüderlich zusammen in einem und demselbigen Bette geschlafen. »Es ist zu bedauern,« fügte er hinzu, »daß ein schwacher Mysticismus dem Aufflug seines Genies so bald Grenzen setzte.«[182]


1244.*


1830, 22. Januar.


Mit Friedrich Soret

Wir sprachen über die »Geschichte Napoleons« von Walter Scott.

»Es ist wahr,« sagte Goethe, »man kann dem Verfasser dabei große Ungenauigkeiten und eine ebenso große Parteilichkeit vorwerfen, allein gerade diese beiden Mängel geben seinem Werke in meinen Augen einen ganz besondern Werth. Der Erfolg des Buchs war in[182] England über alle Begriffe groß, und man sieht also, daß Walter Scott eben in seinem Haß gegen Napoleon und die Franzosen der wahre Dolmetscher und Repräsentant der englischen Volksmeinung und des englischen Nationalgefühls gewesen ist. Sein Buch wird keineswegs ein Dokument für die Geschichte Frankreichs, allein es wird eins für die Geschichte Englands sein. Auf jeden Fall aber ist es eine Stimme, die bei diesem wichtigen historischen Prozeß nicht fehlen durfte.

Überhaupt ist es mir angenehm, über Napoleon die entgegengesetztesten Meinungen zu hören. Ich lese jetzt das Werk von Bignon [Histoire de France depuis le 18 brumaire jusqu'à la paix de Tilsit], welches mir einen ganz besondern Werth zu haben scheint.«[183]


1245.*


1830, 24. Januar.


Mit Johann Peter Eckermann

»Ich habe dieser Tage einen Brief von unserm berühmten Salzbohrer in Stotternheim [Salinendirector Glenck] erhalten,« sagte Goethe, »der einen merkwürdigen Eingang hat und wovon ich Ihnen erzählen muß.

›Ich habe eine Erfahrung gemacht‹, schreibt er, ›die mir nicht verloren sein soll.‹ Was aber folgt auf solchen Eingang? Es handelt sich um nichts Geringeres als den Verlust von wenigstens tausend Thalern. Den[183] Schacht, wo es durch weichern Boden und Gestein zwölfhundert Fuß tief zum Steinsalz hinabgeht, hat er unvorsichtigerweise an den Seiten nicht unterstützt; der weichere Boden hat sich abgelöst und die Grube unten so verschlämmt, daß es jetzt einer höchst kostspieligen Operation bedarf, um den Schlamm herauszubringen. Er wird sodann die zwölfhundert Fuß hinunter metallene Röhren einsetzen, um für die Folge vor einem ähnlichen Unglück sicher zu sein. Er hätte es gleich thun sollen, und er hätte es auch sicher gleich gethan, wenn solche Leute nicht eine Verwegenheit besäßen, wovon man keinen Begriff hat, die aber dazu gehört, um eine solche Unternehmung zu wagen. Er ist aber durchaus ruhig bei dem Unfall und schreibt ganz getrost: ›Ich habe eine Erfahrung gemacht, die mir nicht verloren sein soll.‹ Das nenne ich doch noch einen Menschen, an dem man Freude hat, und der, ohne zu klagen, gleich wieder thätig ist und immer auf den Füßen steht. Was sagen Sie dazu, ist es nicht artig?«

»Es erinnert mich an Sterne,« antwortete ich, »welcher beklagt, sein Leiden nicht wie ein vernünftiger Mann benutzt zu haben.«

»Es ist etwas Ähnliches,« sagte Goethe.

»Auch muß ich an Behrisch denken,« fuhr ich fort, »wie er Sie belehrt was Erfahrung sei, welches Kapitel ich gerade dieser Tage zu abermaliger Erbauung gelesen: ›Erfahrung aber ist, daß man erfahrend erfährt,[184] was erfahren zu haben man nicht gern erfahren haben möchte.‹«

»Ja,« sagte Goethe lachend, »das sind die alten Späße, womit wir so schändlich unsere Zeit verdarben!«

»Behrisch,« fuhr ich fort, »scheint ein Mensch gewesen zu sein voller Anmuth und Zierlichkeit. Wie artig ist der Spaß im Weinkeller, wo er abends den jungen Menschen verhindern will, zu seinem Liebchen zu gehen, dieses auf die heiterste Weise voll bringt, indem er seinen Degen umschnallt, bald so und bald so, sodaß er alle zum Lachen bringt und den jungen Menschen die Stunde des Rendezvous darüber vergessen macht.«

»Ja,« sagte Goethe, »es war artig; es wäre eine der anmuthigsten Scenen auf der Bühne, wie denn Behrisch überall für das Theater ein guter Charakter war.«

Wir wiederholten darauf gesprächsweise alle die Wunderlichkeiten, die von Behrisch in Goethes ›Leben‹ erzählt werden. Seine graue Kleidung, wo Seide, Sammt und Wolle gegeneinander eine abstechende Schattierung gemacht, und wie er darauf studirt habe, immer noch ein neues Grau auf seinen Körper zu bringen; dann wie er die Gedichte geschrieben, den Setzer nachgeäfft und den Anstand und die Würde des Schreibenden hervorgehoben; auch wie es sein Lieblingszeitvertreib gewesen, im Fenster zu liegen, die Vorbeigehenden zu mustern und ihren Anzug in Gedanken so zu verändern,[185] daß es höchst lächerlich gewesen sein würde, wenn die Leute sich so gekleidet hätten.

»Und dann sein gewöhnlicher Spaß mit dem Postboten,« sagte Goethe, »wie gefällt Ihnen der, ist der nicht auch lustig?«

»Der ist mir unbekannt,« sagte ich, »es steht davon nichts in Ihrem Leben.«

»Wunderlich!« sagte Goethe. »So will ich es Ihnen denn erzählen.

Wenn wir zusammen im Fenster lagen, und Behrisch in der Straße den Briefträger kommen sah, wie er von einem Hause ins andere ging, nahm er gewöhnlich einen Groschen aus der Tasche und legte ihn bei sich ins Fenster. ›Siehst du den Briefträger?‹ sagte er dann zu mir gewendet, ›er kommt immer näher und wird gleich hier oben sein, das sehe ich ihm an. Er hat einen Brief an dich, und was für einen Brief, keinen gewöhnlichen Brief, er hat einen Brief mit einem Wechsel – mit einem Wechsel! ich will nicht sagen wie stark. – Siehst du, jetzt kommt er herein. Nein! – Aber er wird gleich kommen. Da ist er wieder. Jetzt! – Hier, hier herein, mein Freund! hier herein! – Er geht vorbei! Wie dumm! O wie dumm! Wie kann einer nur so dumm sein und so unverantwortlich handeln! So unverantwortlich in doppelter Hinsicht: unverantwortlich gegen dich, indem er dir den Wechsel nicht bringt, den er für dich in Händen hat, und ganz unverantwortlich gegen sich selbst, indem er sich um[186] einen Groschen bringt, den ich schon für ihn zurechtgelegt hatte und den ich nun wieder einstecke.‹ So steckte er denn den Groschen mit höchstem Anstande wieder in die Tasche, und wir hatten etwas zu lachen.«

Ich freute mich dieses Scherzes, der den übrigen vollkommen gleichsah. Ich fragte Goethe, ob er Behrisch später nie wiedergesehen.

»Ich habe ihn wiedergesehen,« sagte Goethe, »und zwar bald nach meiner Ankunft in Weimar, ungefähr im Jahre 1776, wo ich mit dem Herzog eine Reise nach Dessau machte, wohin Behrisch von Leipzig aus als Erzieher des Erbprinzen [vielmehr des Grafen Waldersee] berufen war. Ich fand ihn noch ganz wie sonst, als seinen Hofmann und vom besten Humor.«

»Was sagte er dazu,« fragte ich, »daß Sie in der Zwischenzeit so berühmt geworden?«

»›Hab' ich es dir nicht gesagt?‹ war sein Erstes, ›war es nicht gescheidt, daß du damals die Verse nicht drucken ließest, und daß du gewartet hast, bis du etwas ganz Gutes machtest? Freilich, schlecht waren damals die Sachen auch nicht; denn sonst hätte ich sie nicht geschrieben. Aber wären wir zusammengeblieben, so hättest du auch die andern nicht sollen drucken lassen; ich hätte sie dir auch geschrieben und es wäre ebenso gut gewesen.‹ Sie sehen, er war noch ganz der Alte. Er war bei Hofe sehr gelitten, ich sah ihn immer an der fürstlichen Tafel.

[187] Zuletzt habe ich ihn im Jahre 1801 gesehen, wo er schon alt war, aber immer noch in der besten Laune. Er bewohnte einige sehr schöne Zimmer im Schlosse, deren eins er ganz mit Geranien angefüllt hatte, womit man damals eine besondere Liebhaberei trieb. Nun hatten aber die Botaniker unter den Geranien einige Unterscheidungen und Abtheilungen gemacht und einer gewissen Sorte den Namen Pelargonien beigelegt. Darüber konnte sich nun der alte Herr nicht zufrieden geben, und er schimpfte auf die Botaniker. ›Die dummen Kerle!‹ sagte er; ›ich denke, ich habe das ganze Zimmer voll Geranien, und nun kommen sie und sagen, es seien Pelargonien. Was thu' ich aber damit, wenn es keine Geranien sind, und was soll ich mit Pelargonien!‹ So ging es nun halbe Stunden lang fort, und Sie sehen, er war sich vollkommen gleich geblieben.«

Wir sprachen sodann über die ›Classische Walpurgisnacht‹, deren Anfang Goethe mir vor einigen Tagen gelesen. »Der mythologischen Figuren, die sich hierbei zudrängen,« sagte er, »sind eine Unzahl; aber ich hüte mich und nehme bloß solche, die bildlich den gehörigen Eindruck machen. Faust ist jetzt mit dem Chiron zusammen, und ich hoffe, die Scene soll mir gelingen. Wenn ich mich fleißig dazuhalte, kann ich in ein paar Monaten mit der ›Walpurgisnacht‹ fertig sein. Es soll mich nun aber auch nichts wieder vom ›Faust‹ abbringen; denn es wäre doch toll genug, wenn ich es[188] erlebte ihn zu vollenden! Und möglich ist es; der fünfte Act ist so gut wie fertig, und der vierte wird sich sodann wie von selber machen.«

Goethe sprach darauf über seine Gesundheit und pries sich glücklich, sich fortwährend vollkommen wohl zu befinden. »Daß ich mich jetzt so gut halte,« sagte er, »verdanke ich Vogel; ohne ihn wäre ich längst abgefahren. Vogel ist zum Arzt wie geboren und überhaupt einer der genialsten Menschen, die mir je vorgekommen sind. Doch wir wollen nicht sagen wie gut er ist, damit er uns nicht genommen werde.«[189]


1246.*


1830, 25. Januar.


Mit Friedrich Soret

Ich brachte Goethen die Verzeichnisse, die ich über die hinterlassenen Schriften Dumont's als Vorbereitung einer Herausgabe derselben gemacht hatte. Goethe las sie mit vieler Sorgfalt und schien erstaunt über die Masse von Kenntnissen, Interessen und Ideen, die er bei dem Autor so verschiedener und reichhaltiger Manuscripte vorauszusetzen Ursache habe.

»Dumont,« sagte er, »muß ein Geist von großem Umfange gewesen sein. Unter den Gegenständen, die er behandelt hat, ist nicht ein einziger, der nicht an sich interessant und bedeutend wäre, und die Wahl der Gegenstände zeigt immer, was einer für ein Mann[189] und wes Geistes Kind er ist. Nun kann man zwar nicht verlangen, daß der menschliche Geist eine solche Universalität besitze, um alle Gegenstände mit einem gleichen Talent und Glück zu behandeln, aber wenn es auch dem Autor mit allen nicht auf gleiche Weise gelungen sein sollte, so giebt schon der bloße Vorsatz und Wille, sie zu behandeln, mir von ihm eine sehr hohe Meinung. Ich finde besonders merk würdig und schätzbar, daß bei ihm überall eine praktische, nützliche und wohlwollende Tendenz vorwaltet.«

Ich hatte ihm zugleich die ersten Kapitel der ›Reise nach Paris‹ mitgebracht, die ich ihm vorlesen wollte, die er aber vorzog allein zu betrachten.

Er scherzte darauf über die Schwierigkeit des Lesens und den Dünkel vieler Leute, die ohne alle Vorstudien und vorbereitende Kenntnisse sogleich jedes philosophische und wissenschaftliche Werk lesen möchten, als wenn es eben nichts weiter als ein Roman wäre.

»Die guten Leutchen,« fuhr er fort, »wissen nicht, was es einem für Zeit und Mühe gekostet, um lesen zu lernen. Ich habe achtzig Jahre dazu gebraucht und kann noch jetzt nicht sagen, daß ich am Ziele wäre.«[190]


1247.*


1830, 27. Januar.


Mit Johann Peter Eckermann

Mittags mit Goethe sehr vergnügt bei Tische. Er sprach mit großer Anerkennung über Herrn von Martius.[190] »Sein Aperçu der Spiraltendenz,« sagte er, »ist von der höchsten Bedeutung. Hätte ich bei ihm noch etwas zu wünschen, so wäre es, daß er sein entdecktes Urphänomen mit entschiedener Kühnheit durchführte, und daß er die Courage hätte, ein Factum als Gesetz auszusprechen, ohne die Bestätigung allzu sehr im Weiten zu suchen.«

Er zeigte mir darauf die Verhandlungen der Naturforschenden Versammlung zu Heidelberg, mit hintergedruckten Facsimiles der Handschriften, die wir betrachten und auf den Charakter schließen.

»Ich weiß recht gut,« sagte Goethe, »daß bei diesen Versammlungen für die Wissenschaft nicht so viel herauskommt als man sich denken mag, aber sie sind vortrefflich, daß man sich gegenseitig kennen und möglicherweise lieben lerne, woraus denn folgt, daß man irgend eine neue Lehre eines bedeutenden Menschen wird gelten lassen, und dieser wiederum geneigt sein wird, uns in unsern Richtungen eines andern Faches anzuerkennen und zu fördern. Auf jeden Fall sehen wir, daß etwas geschieht, und niemand kann wissen was dabei herauskommt.«

Goethe zeigte mir sodann einen Brief eines englischen Schriftstellers mit der Adresse: An Se. Durchlaucht den Fürsten Goethe. »Diesen Titel,« sagte Goethe lachend, »habe ich wahrscheinlich den deutschen Journalisten zu danken, die mich aus allzu großer Liebe wohl den deutschen Dichterfürsten genannt haben. Und[191] so hat denn der unschuldige deutsche Irrthum den ebenso unschuldigen Irrthum des Engländers zur Folge gehabt.«

Goethe kam darauf wieder auf Herrn von Martius zurück und rühmte an ihm, daß er Einbildungskraft besitze. »Im Grunde,« fuhr er fort, »ist ohne diese hohe Gabe ein wirklich großer Naturforscher gar nicht zu denken. Und zwar meine ich nicht eine Einbildungskraft, die ins Vage geht und sich Dinge imaginirt, die nicht existiren; sondern ich meine eine solche, die den wirklichen Boden der Erde nicht verläßt und mit dem Maßstabe des Wirklichen und Erkannten zu geahnten, vermutheten Dingen schreitet. Da mag sie denn prüfen, ob denn dieses Geahnte auch möglich sei und ob es nicht in Widerspruch mit andern bewußten Gesetzen komme. Eine solche Einbildungskraft setzt aber freilich einen weiten, ruhigen Kopf voraus, dem eine große Übersicht der lebendigen Welt und ihrer Gesetze zu Gebote steht.«

Während wir sprachen, kam ein Paket mit einer Übersetzung der ›Geschwister‹ ins Böhmische [von Czelakowsky], die Goethen große Freude zu machen schien.[192]


1248.*


1830, 27. Januar.


Mit Friedrich von Müller

Ich traf ihn freundlich, doch etwas weniger munter als sonst; er war höchst bekümmert um die Großherzogin-Mutter.

Als Pendant zur Gagern'schen Politik-Haustafel hatte er von 1828 Notizen an seine Schlafkammerthüre angenagelt, und bemerkte dabei: »Ich disponire bei der Bibliothekcasse über nichts, was nicht baar vorliegt; nur die Majestäten dürfen sich dem Bankerott nähern. Man bildet sich vergebens ein, daß man allen literarischen Erscheinungen face machen könnte; es geht einmal nicht; man tappt in allen Jahrhunderten, in allen Welttheilen herum und ist doch nicht überall zu Hause, stumpft sich Sinn und Urtheil ab, verliert Zeit und Kraft. Mir geht es selbst so; ich bereue es aber zu spät. Man liest Folianten und Quartanten durch und wird um nichts klüger, als wenn man alle Tage in der Bibel läse; man lernt nur, daß die Welt dumm ist, und das kann man in der Seifengasse hier zunächst auch erproben.«

Er zeigte mir, wie die jetzt kleinere Venus gerade in so schöner, naher Conjunction mit dem Monde steht, auch den hellglänzenden Orion, und sprach lange über den hohen Werth der Astronomie.[193]


1249.*


1830, 31. Januar.


Mit Johann Peter Eckermann

Bei Goethe zu Tische. Wir sprachen über Milton. »Ich habe vor nicht langer Zeit seinen ›Simson‹ gelesen,« sagte Goethe, »der so im Sinne der Alten ist wie kein anderes Stück irgend eines neueren Dichters. Er ist sehr groß; und seine eigene Blindheit ist ihm zu statten gekommen, um den Zustand Simsons mit solcher Wahrheit darzustellen. Milton war in der That ein Poet, und man muß vor ihm allen Respect haben.«

Es kommen verschiedene Zeitungen, und wir sehen in den Berliner Theaternachrichten, daß man Seeungeheuer und Walfische auf die dortige Bühne gebracht.

Goethe liest in der französischen Zeitschrift ›Le Temps‹ einen Artikel über die enorme Besoldung der englischen Geistlichkeit, die mehr beträgt als die in der ganzen übrigen Christenheit zusammen. »Man hat behauptet,« sagte Goethe, »die Welt werde durch Zahlen regiert; das aber weiß ich, daß die Zahlen uns belehren, ob sie gut oder schlecht regiert werde.«[194]


1250.*


1830, 31. Januar.


Mit Friedrich Soret

und Erbgroßherzog Karl Alexander

Besuch bei Goethe in Begleitung des Prinzen. Er empfing uns in seinem Arbeitszimmer.

Wir sprachen über die verschiedenen Ausgaben seiner Werke, wobei es mir auffallend war, von ihm zu hören, daß er den größten Theil dieser Editionen selber nicht besitze. Auch die erste Ausgabe seines ›Römischen Carneval‹, mit Kupfern nach eigenen Originalzeichnungen, besitze er nicht. Er habe, sagte er, in einer Auktion sechs Thaler dafür geboten, ohne sie zu erhalten.

Er zeigte uns darauf das erste Manuscript seines ›Götz von Berlichingen‹, ganz in der ursprünglichen Gestalt wie er es vor länger als funfzig Jahren auf Anregung seiner Schwester in wenigen Wochen geschrieben. Die schlanken Züge der Handschrift trugen schon ganz den freien klaren Charakter, wie ihn seine deutsche Schrift später immer behalten und auch noch jetzt hat. Das Manuscript war sehr reinlich, man las ganze Seiten ohne die geringste Correktur, sodaß man es eher für eine Copie als für einen ersten raschen Entwurf hätte halten sollen.

Seine frühesten Werke hat Goethe, wie er uns sagte, alle mit eigener Hand geschrieben, auch seinen ›Werther‹; doch ist das Manuscript verloren gegangen.[195] In späterer Zeit dagegen hat er fast alles dictirt, und nur Gedichte und flüchtig notirte Pläne finden sich von seiner eigenen Hand. Sehr oft hat er nicht daran gedacht, von einem neuen Product eine Abschrift nehmen zu lassen; vielmehr hat er häufig die kostbarste Dichtung dem Zufall preisgegeben, indem er öfter als einmal das einzige Exemplar, das er besaß, nach Stuttgart in die Druckerei schickte.

Nachdem wir das Manuscript des ›Berlichingen‹ genugsam betrachtet, zeigte Goethe uns das Original seiner ›Italienischen Reise‹. In diesen täglich niedergeschriebenen Beobachtungen und Bemerkungen finden sich in Bezug auf die Handschrift dieselbigen guten Eigenschaften wie bei seinem ›Götz‹. Alles ist entschieden, fest und sicher, nichts ist corrigirt, und man sieht, daß dem Schreibenden das Detail seiner augenblicklichen Notizen immer frisch und klar vor der Seele stand. Nichts ist veränderlich und wandelbar, ausgenommen das Papier, das in jeder Stadt, wo der Reisende sich aufhielt, in Format und Farbe stets ein anderes wurde.[196]


1251.*


1830, 3. Februar.


Mit Johann Peter Eckermann

Bei Goethe zu Tische. Wir sprachen über Mozart. »Ich habe ihn als siebenjährigen Knaben gesehen,«[196] sagte Goethe, »wo er auf einer Durchreise ein Concert gab. Ich selber war etwa vierzehn Jahre alt, und ich erinnere mich des kleinen Mannes in seiner Frisur und Degen noch ganz deutlich.« Ich machte große Augen, und es war mir ein halbes Wunder, zu hören daß Goethe alt genug sei, um Mozart als Kind gesehen zu haben.[197]


1252.*


1830, 3. Februar.


Mit Friedrich Soret

Wie sprachen über den ›Globe‹ und ›Temps‹, und dies führte auf die französische Literatur und Literatoren.

»Guizot,« sagte Goethe unter anderm, »ist ein Mann nach meinem Sinne, er ist solide. Er besitzt tiefe Kenntnisse, verbunden mit einem aufgeklärten Liberalismus, der, über den Parteien stehend, seinen eigenen Weg geht. Ich bin begierig, zu sehen welche Rolle er in den Kammern spielen wird, wozu man ihn jetzt gewählt hat.«

»Leute, die ihn nur oberflächlich zu kennen scheinen,« erwiederte ich, »haben mir ihn als etwas pedantisch geschildert.«

»Es bleibt zu wissen übrig,« entgegnete Goethe, »welche Sorte von Pedanterie man ihm vorwirft. Alle bedeutenden Menschen, die in ihrer Lebensweise eine[197] gewisse Regelmäßigkeit und feste Grundsätze besitzen, die viel nachgedacht haben und mit den Angelegenheiten des Lebens kein Spiel treiben, können sehr leicht in den Augen oberflächlicher Beobachter als Pedanten erscheinen. Guizot ist ein weitsehender, ruhiger, festhaltender Mann, der der französischen Beweglichkeit gegenüber gar nicht genug zu schätzen und gerade ein solcher ist wie sie ihn brauchen.

Villemain,« fuhr Goethe fort, »ist vielleicht glänzender als Redner. Er besitzt die Kunst einer gewandten Entwickelung ausdemgrunde, er ist nie verlegen um schlagende Ausdrücke, wodurch er die Aufmerksamkeit fesselt und seine Hörer zu lautem Beifall fortreißt; aber er ist weit oberflächlicher als Guizot und weit weniger praktisch.

Was Cousin betrifft, so kann er zwar uns Deutschen wenig geben, indem die Philosophie, die er seinen Landsleuten als etwas Neues bringt, uns seit vielen Jahren bekannt ist. Allein er ist für die Franzosen von großer Bedeutung; er wird ihnen eine ganz neue Richtung geben.

Cuvier, der große Naturkenner, ist bewundernswürdig durch seine Darstellung und seinen Stil; niemand exponirt ein Factum besser als er; allein er besitzt fast gar keine Philosophie; er wird sehr unterrichtete Schüler erziehen, aber wenig tiefe.«

Alles dieses zu hören war mir um so interessanter, als es mit den Ansichten Dumont's über die gedachten[198] Männer sehr nahe zusammentraf. Ich versprach Goethen, ihm die betreffenden Stellen aus dessen Manuscripten abzuschreiben, damit er sie mit seiner eigenen Meinung gelegentlich vergleichen möge.

Die Erwähnung Dumont's brachte das Gespräch auf dessen Verhältniß zu Bentham, worüber sich Goethe also äußerte:

»Es ist für mich ein interessantes Problem,« sagte er, »wenn ich sehe, daß ein so vernünftiger, so gemäßigter und so praktischer Mann wie Dumont der Schüler und treue Verehrer dieses Narren Bentham sein konnte.«

»Bentham,« erwiederte ich, »ist gewissermaßen als eine doppelte Person zu betrachten. Ich unterscheide Bentham das Genie, das die Principien ersann, die Dumont der Vergessenheit entzog, indem er sie ausarbeitete, und Bentham den leidenschaftlichen Mann, der aus übertriebenem Nützlichkeitseifer die Grenzen seiner eigenen Lehre überschritt und dadurch sowohl in der Politik als in der Religion zum Radicalen ward.«

»Das aber,« erwiederte Goethe, »ist eben ein neues Problem für mich, daß ein Greis die Laufbahn eines langen Lebens damit beschließen kann, in seinen letzten Tagen noch ein Radicaler zu werden.«

Ich suchte diesen Widerspruch zu lösen, indem ich bemerkte, daß Bentham, in der Überzeugung von der Vortrefflichkeit seiner Lehre und seiner Gesetzgebung, und bei der Unmöglichkeit sie ohne eine völlige Veränderung[199] des herrschenden Systems in England einzuführen, sich um so mehr von seinem leidenschaftlichen Eifer habe fortreißen lassen, als er mit der äußern Welt wenig in Berührung komme und die Gefahr eines gewaltsamen Umsturzes nicht zu beurtheilen vermöge.

»Dumont dagegen,« fuhr ich fort, »der weniger Leidenschaft und mehr Klarheit besitzt, hat die Überspannung Bentham's nie gebilligt und ist weit entfernt gewesen, selber in einen ähnlichen Fehler zu fallen. Er hat überdies den Vortheil gehabt, die Principien Bentham's in einem Lande in Anwendung zu bringen, das in Folge politischer Ereignisse zu jener Zeit gewissermaßen als ein neues zu betrachten war, nämlich in Genf, wo denn auch alles vollkommen gelang und der glückliche Erfolg den Werth des Princips an den Tag legte.«

»Dumont,« erwiederte Goethe, »ist eben ein gemäßigter Liberaler, wie es alle vernünftigen Leute sind und sein sollen, und wie ich selber es bin, und in welchem Sinne zu wirken ich während eines langen Lebens mich bemüht habe.

Der wahre Liberale,« fuhr er fort, »sucht mit den Mitteln, die ihm zu Gebote stehen, so viel Gutes zu bewirken als er nur immer kann; aber er hütet sich, die oft unvermeidlichen Mängel sogleich mit Feuer und Schwert vertilgen zu wollen. Er ist bemüht, durch ein kluges Vorschreiten die öffentlichen Gebrechen[200] nach und nach zu verdrängen, ohne durch gewaltsame Maßregeln zugleich oft ebenso viel Gutes mit zu verderben. Er begnügt sich in dieser stets unvollkommenen Welt so lange mit dem Guten, bis ihn das Bessere zu erreichen Zeit und Umstände begünstigen.«[201]


1253.*


1830, 5. Februar.


Mit Friedrich von Müller

Von 4 1/2 bis 6 Uhr war ich bei Goethe, zum Theil mit Ottilie. Er war sehr aufgeweckt und wir sprachen viel von der jüngsten Hofmaskerade, was denn zu lebhaften Erinnerungen an den Aufzug von 1810 Anlaß gab. »Mein Gott,« sagte ich, »schon volle 20 Jahre!« »Ja,« erwiederte er, »wenn die Zeit nicht noch so geschwinde liefe, wäre sie gar zu absurd.

›Du gehest vorüber, eh' ich's merke, und verwandelst dich, eh' ich's gewahr werde‹, steht im Hiob; ich hab' es zum Motto meiner Morphologie genommen.«

Er war sehr böse, ja zornig, daß man wagen wollte, der Großherzogin-Mutter den Maskenzug vorzuführen; »wenn man 80 Jahr alt ist, darf man grob sein, und ich will es auch sein.«

Er zeigte mir eines Berliner Professors1 neuestes[201] Werk über die Weisheit des Empedokles, lobte es, fügte aber alsbald hinzu: »Glücklich alle, die sich nicht mit solchem abstrusen Zeug abzugeben haben!«


1 Verwechslung! Damals war ›Faust‹ ja schon sogar in Weimar aufgeführt gewesen! Überhaupt fordert Förster's Erzählung zersetzende Kritik heraus.[202]


1254.*


1830, 7. Februar.


Mit Johann Peter Eckermann u.a.

Mit Goethe zu Tische. Mancherlei Gespräche über den Fürst Primas; daß er ihn an der Tafel der Kaiserin von Österreich durch eine geschickte Wendung zu vertheidigen gewagt. Des Fürsten Unzulänglichkeit in der Philosophie, sein dilettantischer Trieb zur Malerei, ohne Geschmack. Bild, der Miß Gore geschenkt. Seine Gutherzigkeit und Weichheit alles wegzugeben, sodaß er zuletzt in Armuth dagestanden.

Gespräche über den Begriff des Desobligeanten.

Nach Tische stellt sich der junge Goethe, mit Walter und Wolf, in seinem Maskenanzuge als Klingsor dar und fährt an Hof.[202]


1255.*


1830, 10. Februar.


Mit Johann Peter Eckermann

Mit Goethe zu Tische. Er sprach mit wahrer Anerkennung über das Festgedicht Riemer's zur Feier des 2. Februar. »Überall,« fügte Goethe hinzu, »was[202] Riemer macht, kann sich vor Meister und Gesellen sehen lassen.«

Wir sprachen sodann über die ›Classische Walpurgisnacht‹, und daß er dabei auf Dinge komme, die ihn selber überraschen. Auch gehe der Gegenstand mehr auseinander als er gedacht.

»Ich habe jetzt etwas über die Hälfte,« sagte er, »aber ich will mich dazuhalten, und hoffe bis Ostern fertig zu sein. Sie sollen früher nichts weiter davon sehen, aber sobald es fertig ist, gebe ich es Ihnen mit nach Hause, damit Sie es in der Stille prüfen. Wenn Sie nun den achtunddreißigsten und neununddreißigsten Band zusammenstellten, sodaß wir Ostern die letzte Lieferung absenden könnten, so wäre es hübsch, und wir hätten den Sommer zu etwas Großem frei. Ich würde im ›Faust‹ bleiben und den vierten Act zu überwinden suchen.« Ich freute mich dazu und versprach ihm meinerseits jeden Beistand.

Goethe schickte darauf seinen Bedienten, um sich nach der Großherzogin-Mutter zu erkundigen, die sehr krank geworden und deren Zustand ihm bedenklich schien.

»Sie hätte den Maskenzug nicht sehen sollen,« sagte er, »aber fürstliche Personen sind gewohnt ihren Willen zu haben, und so ist denn alles Protestiren des Hofs und der Ärzte vergeblich gewesen. Dieselbige Willenskraft, mit der sie Napoleon widerstand, setzt sie auch ihrer körperlichen Schwäche entgegen; und so sehe[203] ich es schon kommen, sie wird hingehen, wie der Großherzog, in voller Kraft und Herrschaft des Geistes, wenn der Körper schon aufgehört haben wird zu gehorchen.«

Goethe schien sichtbar betrübt und war eine Weile stille. Bald aber sprachen wir wieder über heitere Dinge, und er erzählte mir von einem Buche, zur Rechtfertigung von Hudson Lowe [von diesem selbst] geschrieben.

»Es sind darin Züge der kostbarsten Art,« sagte er, »die nur von unmittelbaren Augenzeugen herrühren können. Sie wissen, Napoleon trug gewöhnlich eine dunkelgrüne Uniform. Von vielem Tragen und Sonne war sie zuletzt völlig unscheinbar geworden, sodaß die Nothwendigkeit gefühlt wurde, sie durch eine andere zu ersetzen. Er wünschte dieselbe dunkelgrüne Farbe, allein auf der Insel waren keine Vorräthe dieser Art; es fand sich zwar ein grünes Tuch, allein die Farbe war unrein und fiel ins Gelbliche. Eine solche Farbe auf seinen Leib zu nehmen, war nun dem Herrn der Welt unmöglich, und es blieb ihm nichts übrig, als seine alte Uniform wenden zu lassen und sie so zu tragen.

Was sagen Sie dazu? Ist es nicht ein vollkommen tragischer Zug? Ist es nicht rührend, den Herrn der Könige zuletzt soweit reducirt zu sehen, daß er eine gewendete Uniform tragen muß? Und doch, wenn man bedenkt, daß ein solches Ende einen Mann traf, der das Leben und Glück von Millionen mit[204] Füßen getreten hatte, so ist das Schicksal, das ihm widerfuhr, immer noch sehr milde; es ist eine Nemesis, die nicht umhin kann, in Erwägung der Größe des Helden immer noch ein wenig galant zu sein. Napoleon giebt uns ein Beispiel, wie gefährlich es sei, sich ins Absolute zu erheben und alles der Ausführung einer Idee zu opfern.«

Wir sprachen noch manches dahin Bezügliche, und ich ging darauf ins Theater.[205]


1256.*


1830, 10. Februar.


Mit Friedrich Soret

Heute nach Tische war ich einen Augenblick bei Goethe. Er freute sich des herannahenden Frühlings und der wieder länger werdenden Tage. Dann sprachen wir über die Farbenlehre. Er schien an der Möglichkeit zu zweifeln, seiner einfachen Theorie Bahn zu machen. »Die Irrthümer meiner Gegner,« sagte er, »sind seit einem Jahrhundert zu allgemein verbreitet, als daß ich auf meinem einsamen Wege hoffen könnte noch diesen oder jenen Gefährten zu finden. Ich werde allein bleiben! Ich komme mir oft vor wie ein Mann in einem Schiffbruch, der ein Brett ergreift, das nur einen einzigen zu tragen imstande ist; dieser eine rettet sich, während alle übrigen jämmerlich ersaufen.«[205]


1257.*


1830, 10. Februar.


Mit Friedrich von Müller

Als er über Magnetismus und die Seherin von Prevorst [Friederike Hauffe] sprach, bemerkte er, »ich habe mich immer von Jugend auf vor diesen Dingen gehütet, sie nur parallel an mir vorüber laufen lassen. Zwar zweifle ich nicht, daß diese wundersamen Kräfte in der Natur des Menschen liegen, ja, sie müssen darin liegen, aber man ruft sie auf falsche, oft frevelhafte Weise hervor. Wo ich nicht klar sehen, nicht mit Bestimmtheit wirken kann, da ist ein Kreis, für den ich nicht berufen bin. Ich habe nie eine Somnambule sehen mögen.«

Darauf sprach er lange und bewegt über die gefährliche Krankheit der Großherzogin-Mutter, die ihn tief bekümmerte. »Schwebt sie mir doch noch lebhaft vor den Augen, als ich sie im Jahre 1774 schlank und leicht in den Wagen steigen sah, der sie nach Rußland brachte, es war auf der Zeil zu Frankfurt. Und seit jener ersten Bekanntschaft blieb ich ihr treu ergeben; nie hat der geringste Mißklang stattgefunden.«[206]


1258.*


1830, 14. Februar.


Nach dem Tode der Großherzogin Luise

Diesen Mittag auf meinem [Eckermann's] Wege zu Goethe, der mich zu Tische eingeladen hatte, traf[206] mich die Nachricht von dem soeben erfolgten Tode der Großherzogin-Mutter. Wie wird das bei seinem hohen Alter auf Goethe wirken? war mein erster Gedanke, und so betrat ich mit einiger Apprehension das Haus. Die Dienerschaft sagte mir, daß seine Schwiegertochter soeben zu ihm gegangen sei, um ihm die betrübende Botschaft mitzutheilen. Seit länger als funfzig Jahren, sagte ich mir, ist er dieser Fürstin verbunden gewesen, er hat ihrer besondern Huld und Gnade sich zu erfreuen gehabt, ihr Tod muß ihn tief berühren. Mit solchen Gedanken trat ich zu ihm ins Zimmer; allein ich war nicht wenig überrascht, ihn vollkommen heiter und kräftig mit seiner Schwiegertochter und seinen Enkeln am Tisch sitzen und seine Suppe essen zu sehen, als ob eben nichts passirt wäre. Wir sprachen ganz heiter fort über gleichgültige Dinge. Nun fingen alle Glocken der Stadt an zu läuten; Frau von Goethe blickte mich an und wir redeten lauter, damit die Töne der Todesglocken sein Inneres nicht berühren und erschüttern möchten; denn wir dachten, er empfände wie wir. Er empfand aber nicht wie wir, es stand in seinem Innern gänzlich anders. Er saß vor uns gleich einem Wesen höherer Art, von irdischen Leiden unberührbar. Hofrath Vogel ließ sich melden; er setzte sich zu uns und erzählte die einzelnen Umstände von dem Hinscheiden der hohen Verewigten, welches Goethe in seiner bisherigen vollkommensten Ruhe und Fassung aufnahm. Vogel ging wieder, und wir setzten unser[207] Mittagsessen und Gespräche fort. Auch vom ›Chaos‹ war viel die Rede und Goethe pries die Betrachtungen über das Spiel in der letzten Nummer als ganz vorzüglich. Als Frau von Goethe mit ihren Söhnen hinaufgegangen war, blieb ich mit Goethe allein. Er erzählte mir von seiner ›Classischen Walpurgisnacht‹, daß er damit jeden Tag weiter komme, und daß ihm wunderbare Dinge über die Erwartung gelängen. Dann zeigte er mir einen Brief des Königs von Bayern, den er heute erhalten, und den ich mit großem Interesse las. Die edle treue Gesinnung des Königs sprach sich in jeder Zeile aus, und Goethen schien es besonders wohlzuthun, daß der König gegen ihn sich fortwährend so gleich bleibe. Hofrath Soret ließ sich melden und setzte sich zu uns. Er kam mit beruhigenden Trostesworten der kaiserlichen Hoheit an Goethe, die dazu beitrugen, dessen heiter gefaßte Stimmung noch zu erhöhen. Goethe setzt seine Gespräche fort; er erwähnt die berühmte Ninon de Lenclos, die in ihrem sechzehnten Jahre bei großer Schönheit dem Tode nahe gewesen und die Umstehenden in völliger Fassung mit den Worten getröstet habe: ›Was ist's denn weiter? Lasse ich doch lauter Sterbliche zurück!‹ Übrigens habe sie fortgelebt und sei neunzig Jahre alt geworden, nachdem sie bis in ihr achtzigstes Hunderte von Liebhabern beglückt und zur Verzweiflung gebracht.

Goethe spricht darauf über Gozzi und dessen Theater[208] zu Venedig, wobei die improvisirenden Schauspieler bloß die Sujets erhielten. Gozzi habe die Meinung gehabt, es gebe nur sechsunddreißig tragische Situationen; Schiller habe geglaubt, es gebe mehr, allein es sei ihm nicht einmal gelungen, nur so viele zu finden.

Sodann manches Interessante über Grimm, dessen Geist und Charakter und sehr geringes Vertrauen zum Papiergelde.[209]


1259.*


1830, 14. Februar.


Mit Friedrich Soret

Der heutige Tag war für Weimar ein Tag der Trauer; die Großherzogin Luise starb diesen Mittag halb zwei Uhr. Die regierende Frau Großherzogin befahl mir, bei Fräulein von Waldner und Goethe in ihrem Namen einen Condolenzbesuch zu machen.

Ich ging zuerst zu Fräulein von Waldner. Ich fand sie in Thränen und tiefer Betrübniß und sich ganz dem Gefühl ihres erlittenen Verlustes überlassend. »Ich war,« sagte sie, »seit länger als funfzig Jahren im Dienste der verewigten Fürstin. Sie hatte mich selbst zu ihrer Ehrendame erwählt und diese freie Wahl ihrerseits war mein Stolz und mein Glück. Ich habe mein Vaterland verlassen, um ihrem Dienste zu leben. Hätte sie mich doch auch jetzt mit sich genommen,[209] damit ich nicht nach einer Wiedervereinigung mit ihr so lange zu seufzen brauchte!«

Ich ging darauf zu Goethe. Aber wie ganz anders waren die Zustände bei ihm! Er fühlte den ihn betroffenen Verlust gewiß nicht weniger tief, allein er schien seiner Empfindungen auf alle Weise Herr bleiben zu wollen. Ich fand ihn noch mit einem guten Freunde bei Tische sitzen und eine Flasche Wein trinken. Er sprach lebhaft und schien überall in sehr heiterer Stimmung. »Wohlan,« sagte er, als er mich sah, »kommen Sie her, nehmen Sie Platz! Der Schlag, der uns lange gedroht, hat endlich getroffen, und wir haben wenigstens nicht mehr mit der grausamen Ungewißheit zu kämpfen. Wir müssen nun sehen wie wir uns mit dem Leben wieder zurechtsetzen.«

»Dort sind ihre Tröster,« sagte ich, indem ich auf seine Papiere zeigte. »Die Arbeit ist ein treffliches Mittel, uns in Leiden wieder emporzurichten.«

»Solange es Tag ist,« erwiederte Goethe, »wollen wir den Kopf schon oben halten, und solange wir noch hervorbringen können, werden wir nicht nachlassen.«

Er sprach darauf über Personen, die ein hohes Alter erreicht, und erwähnte auch die berühmte Ninon. »Noch in ihrem neunzigsten Jahre,« sagte er, »war sie jung, aber sie verstand es auch, sich im Gleichgewicht zu erhalten, und machte sich aus den irdischen Dingen nicht mehr als billig. Selbst der Tod konnte ihr[210] keinen übermäßigen Respect einflößen. Als sie in ihrem achtzehnten Jahre von einer schweren Krankheit genaß und die Umstehenden ihr die Gefahr schilderten, in der sie geschwebt, sagte sie ganz ruhig: ›Was wäre es denn weiter gewesen! Hätte ich doch lauter Sterbliche zurückgelassen!‹ Sie lebte darauf noch über siebzig Jahre, liebenswürdig und geliebt und alle Freuden des Lebens genießend, aber bei diesem ihr eigenthümlichen Gleichmuth sich stets über jeder verzehrenden Leidenschaftlichkeit erhaben haltend. Ninon verstand es; es giebt wenige, die ihr es nachthun.«

Er reichte mir sodann einen Brief des Königs von Bayern, den er heute erhalten hatte und der zu seiner heitern Stimmung wahrscheinlich nicht wenig beigetragen. »Lesen Sie,« sagte er, »und gestehen Sie, daß das Wohlwollen, das der König mir fortwährend bewahrt, und das lebhafte Interesse, das er an den Fortschritten der Literatur und höhern menschlichen Entwickelung nimmt, durchaus geeignet ist mir Freude zu machen. Und daß ich diesen Brief gerade heute erhielt, dafür danke ich dem Himmel als für eine besondere Gunst.«

Wir sprachen darauf über das Theater und dramatische Poesie. »Gozzi,« sagte Goethe, »wollte behaupten, daß es nur sechsunddreißig tragische Situationen gebe. Schiller gab sich alle Mühe noch mehrere zu finden, allein er fand nicht einmal so viele als Gozzi.«

[211] Dies führte auf einen Artikel des ›Globe‹, und zwar auf eine kritische Beleuchtung des ›Gustav Wasa‹ von Arnault. Die Art und Weise, wie der Recensent sich dabei benommen, machte Goethen viel Vergnügen und fand seinen vollkommenen Beifall. Der Beurtheilende hatte sich nämlich damit begnügt, alle Reminiscenzen des Autors namhaft zu machen, ohne ihn selber und seine poetischen Grundsätze weiter anzugreifen. »Der ›Temps‹,« fügte Goethe hinzu, »hat sich in seiner Kritik nicht so weise benommen. Er maßt sich an, dem Dichter den Weg vorschreiben zu wollen, den er hätte gehen müssen. Dies ist ein großer Fehler, denn damit erreicht man nicht, ihn zu bessern. Es giebt überhaupt nichts Dümmeres, als einem Dichter zu sagen: Dies hättest Du müssen so machen, und dieses so! Ich spreche als alter Kenner. Man wird aus einem Dichter nie etwas anderes machen, als was die Natur in ihn gelegt hat. Wollt ihr ihn zwingen ein anderer zu sein, so werdet ihr ihn vernichten.

Meine Freunde, die Herren vom ›Globe‹, wie gesagt, machen es sehr klug: sie drucken eine lange Liste aller Gemeinplätze, die der Herr Arnault aus allen Ecken und Enden hergeliehen hat, und indem sie dieses thun, deuten sie sehr geschickt die Klippe an, vor welcher der Autor sich künftig zu hüten hat. Es ist fast unmöglich, heutzutage noch eine Situation zu finden, die durchaus neu wäre, bloß die Anschauungsweise und die Kunst, sie zu behandeln und darzustellen, kann neu[212] sein, und hierbei muß man umsomehr vor jeder Nachahmung sich in Acht nehmen.«

Goethe erzählte uns darauf die Art und Weise, wie Gozzi sein Theater dell' arte zu Venedig eingerichtet hatte, und wie seine improvisirende Truppe beliebt gewesen. »Ich habe,« sagte er, »zu Venedig noch zwei Actricen jener Truppe gesehen, besonders die Brighella, und habe noch mehrern solcher improvisirten Stücke mit beigewohnt. Die Wirkung, die diese Leute hervorbrachten, war außerordentlich.«

Goethe sprach sodann über den Neapolitaner Pulcinell. »Ein Hauptspaß dieser niedrig-komischen Personnage,« sagte er, »bestand darin, daß er zuweilen auf der Bühne seine Rolle als Schauspieler auf einmal ganz zu vergessen schien. Er that als wäre er wieder nach Hause gekommen, sprach vertraulich mit seiner Familie, erzählte von dem Stücke, in welchem er gespielt, und von einem andern, worin er noch spielen solle; auch genirte er sich nicht, kleinen Naturbedürfnissen ungehinderte Freiheit zu lassen. ›Aber, lieber Mann,‹ rief ihm sodann seine Frau zu, ›du scheinst dich ja ganz zu vergessen; bedenke doch die werthe Versammlung, vor welcher du dich befindest!‹ – ›È vero! È vero!‹ erwiederte darauf Pulcinell, sich wieder besinnend, und kehrte unter großem Applaus der Zuschauer in sein voriges Spiel zurück. Das Theater des Pulcinell ist übrigens von solchem Ruf, das niemand in guter Gesellschaft sich rühmt, darin gewesen[213] zu sein. Frauen, wie man denken kann, gehen überall nicht hin, es wird nur von Männern besucht.

Der Pulcinell ist in der Regel eine Art lebendige Zeitung. Alles, was den Tag über sich in Neapel Auffallendes zugetragen hat, kann man abends von ihm hören. Diese Localinteressen, verbunden mit dem niedern Volksdialect, machen es jedoch dem Fremden fast unmöglich, ihn zu verstehen.«

Goethe lenkte das Gespräch auf andere Erinnerungen seiner frühern Zeit. Er sprach über sein geringes Vertrauen zum Papiergelde, und welche Erfahrungen er in dieser Art gemacht. Als Bestätigung erzählte er uns eine Anekdote von Grimm, und zwar aus der Zeit der Französischen Revolution, wo dieser, es in Paris nicht mehr für sicher haltend, wieder nach Deutschland zurückgekehrt war und in Gotha lebte.

»Wir waren,« sagte Goethe, »eines Tages bei Grimm zu Tische. Ich weiß nicht mehr, wie das Gespräch es herbeiführte, genug, Grimm rief mit einem Male: ›Ich wette, daß kein Monarch in Europa ein Paar so kostbare Handmanschetten besitzt als ich, und daß keiner dafür einen so hohen Preis bezahlt hat, als ich es habe.‹ Es läßt sich denken, daß wir ein lautes ungläubiges Erstaunen ausdrückten, besonders die Damen, und daß wir alle sehr neugierig waren, ein Paar so wunderbare Handmanschetten zu sehen. Grimm stand also auf und holte aus seinem Schränkchen ein Paar Spitzenmanschetten von so großer Pracht,[214] daß wir alle in laute Verwunderung ausbrachen. Wir versuchten es, sie zu schätzen, konnten sie jedoch nicht höher halten als etwa zu hundert bis zweihundert Louisdor. Grimm lachte und rief: ›Ihr seid sehr weit vom Ziele! Ich habe Sie mit zweimalhundertundfunfzigtausend Franken bezahlt und war noch glücklich, meine Assignaten so gut angebracht zu haben; am nächsten Tage galten sie keinen Groschen mehr.‹«[215]


1768.*


1830, 14. (?) Februar.


Beim Tode der Großherzogin

Louise von Sachsen

Am 14. Februar 1830 folgte sie dem geliebten Gatten zur ewigen Ruhe ...., Goethe, der Vater, sagte mit trübem Blick: »Ich komme mir selber mythisch vor, da ich so allein übrig bleibe.«[184]


1260.*


1830, 15. Februar.


Mit Friedrich Soret

Ich war diesen Vormittag einen Augenblick bei Goethe, um mich im Namen der Frau Großherzogin nach seinem Befinden zu erkundigen. Ich fand ihn betrübt und gedankenvoll und von der gestrigen etwas gewaltsamen Aufgeregtheit keine Spur. Er schien die Lücke, die der Tod in ein fünfzigjähriges freundschaftliches Verhältniß gerissen, heute tief zu empfinden. »Ich muß mit Gewalt arbeiten,« sagte er, »um mich oben zu halten und mich in diese plötzliche Trennung zu schicken. Der Tod ist doch etwas so Seltsames, daß man ihn, unerachtet aller Erfahrung, bei einem uns theuern Gegenstande nicht für möglich hält und er immer als etwas Unglaubliches und Unerwartetes eintritt. Er ist gewissermaßen eine Unmöglichkeit, die plötzlich zur Wirklichkeit wird. Und dieser Übergang[215] aus einer uns bekannten Existenz in eine andere, von der wir auch gar nichts wissen, ist etwas so Gewaltsames, daß es für die Zurückbleibenden nicht ohne die tiefste Erschütterung abgeht.«[216]


1261.*


1830, 16. Februar.


Mit Friedrich von Müller

und Clemens Wenzeslaus Coudray

Als .. Coudray erschien, ließ er sich die Zeichnungen zum Trauerparade-Saal vorlegen und sprach mit Ruhe und Theilnahme lange darüber. Er freute sich, daß die Beerdigung des Morgens sein solle; er hasse die des Nachmittags; wenn man vom Tische aufstehe, einem Leichen-Conduct zu begegnen, sei gar zu widerwärtig und mahne an jenes kleine Skelett von Silber, was der abgeschmackte reiche Römer Trimalchio1 seinen Gästen immer beim Desert als Memento mori zuschob. »Übrigens,« setzte er sehr ernst hinzu, »imponirt mir ein Sarg nicht, das könnt Ihr doch wohl denken.«


1 In Nr. 13: »Kann ich trösten, darf ich necken?« [Es ist mit derselben Chiffre gezeichnet, wie: »Ist das Chaos doch beim Himmel.«[216]


1262.*


1830, 17. Februar.


Mit Johann Peter Eckermann

Wir sprachen über das Theater, und zwar über die Farben der Decorationen und Anzüge. Das Resultat war folgendes:

[216] »Im allgemeinen sollen die Decorationen einen für jede Farbe der Anzüge des Vordergrundes günstigen Ton haben, wie die Decorationen von Beuther, welche mehr oder weniger ins Bräunliche fallen und die Farben der Gewänder in aller Frische heraussetzen. Ist aber der Decorationsmaler von einem so günstigen unbestimmten Tone abzuweichen genöthigt, und ist er in dem Falle, etwa ein rothes oder gelbes Zimmer, ein weißes Zelt oder einen grünen Garten darzustellen, so sollen die Schauspieler klug sein und in ihren Anzügen dergleichen Farben vermeiden. Tritt ein Schauspieler mit einer rothen Uniform und grünen Beinkleidern in ein rothes Zimmer, so verschwindet der Oberkörper und man sieht bloß die Beine; tritt er mit demselbigen Anzuge in einen grünen Garten, so verschwinden seine Beine und sein Oberkörper geht auffallend hervor. So sah ich einen Schauspieler mit weißer Uniform und ganz dunkeln Beinkleidern, dessen Oberkörper in einem weißen Zelt, und dessen Beine auf einem dunkeln Hintergrunde gänzlich verschwanden.

Und selbst,« fügte Goethe hinzu, »wenn der Decorationsmaler in dem Falle wäre, ein rothes oder gelbes Zimmer oder einen grünen Garten oder Wald zu machen, so sollen diese Farben immer etwas schwach und duftig gehalten werden, damit jeder Anzug im Vordergrunde sich ablöse und die gehörige Wirkung thue.«

Wir sprechen über die ›Ilias‹ und Goethe macht[217] mich auf das schöne Motiv aufmerksam, daß der Achill eine Zeit lang in Unthätigkeit versetzt werde, damit die übrigen Helden zum Vorschein kommen und sich entwickeln mögen.

Von seinen ›Wahlverwandtschaften‹ sagt er, daß darin kein Strich enthalten, der nicht erlebt, aber kein Strich so, wie er erlebt worden. Dasselbe von der Geschichte in Sesenheim.

Nach Tische ein Portefeuille der niederländischen Schule durchgesehen. Ein Hafenstück, wo Männer auf der einen Seite frisches Wasser einnehmen und auf der andern Würfel auf einer Tonne spielen, gab Anlaß zu schönen Betrachtungen, wie das Reale vermieden, um der Wirkung der Kunst nicht zu schaden. Der Deckel der Tonne hat das Hauptlicht; die Würfel sind geworfen, wie man an den Gebärden der Männer sieht, aber sie sind auf der Fläche des Deckels nicht gezeichnet, weil sie das Licht unterbrochen und also nachtheilig gewirkt haben würden.

Sodann die Studien von Ruysdael zu seinem Kirchhof betrachtet, woraus man sah, welche Mühe sich ein solcher Meister gegeben.[218]


1263.*


1830, 18. Februar.


Mit Friedrich von Müller

Er war vom Heimfahren der großherzoglichen Beerdigungs-Equipagen früh nach 5 Uhr geweckt worden,[218] doch ziemlich heiter gestimmt, ja aufgeregter als gewöhnlich. Ich und sein Sohn mußten ihm alle Beerdigungsfeierlichkeiten genau erzählen. Ich eröffnete ihm mein Nekrolog-Vorhaben, das er sehr billigte, und vor allem ein Schema aufzusetzen anrieth. Nicht allzu liberal dürfe man die Fürstin schildern; sie habe vielmehr standhaft an ihren Rechten gehalten. Ihre gesellige Herablassung sei mehr das Auslaufen ihrer Standesrichtung gewesen. Ihr Mißverhältniß zur Schwiegermutter, ja zur Tochter sei als Naturerscheinung der Weiblichkeit anzusehen, unwillkürlich gewesen. Im Französischen habe man ein Sprichwort: Schwiegermütter von Zucker gebacken, schmecken dennoch bitter. Bei ihrer Lebensschilderung gelte es de voir venir son caractère (sie herankommen zu sehen).

Er erzählte vom Verbrennen aller seiner Briefe bis 1786, als er nach Italien zog. Es lerne ja doch Niemand viel aus alten Briefen, man werde nicht klüger durch antécédents.

Was gut in den Briefen gewesen, habe seine Wirkung schon auf den Empfänger und durch ihn auf die Welt schon vollendet; das Übrige falle eben ab wie taube Nüsse und welke Blätter.

Alles käme darauf an, ob Briefe aufregend, productiv, belebend seien.

Rochlitzens Briefe, wie schön und lieb auch, förderten ihn doch niemals, sie seien meist nur sentimental. Bestimmte einzelne Mittheilungen der durch die[219] Wanderjahre empfangenen Eindrücke habe Rochlitz verweigert, statt dessen die alberne Idee gefaßt, das Ganze systematisch construiren und analysiren zu wollen. Das sei rein unmöglich, das Buch gebe sich nur für ein Aggregat aus.

Lange war er nicht so lebhaft und traulich sich aussprechend, so bündig, belehrend und anregend, wie heute. Von seiner Jugend sagte er: »Ich war ein leidlicher Kerl, ließ mich auf keine Klatschereien ein, stand Jedem in guten Dingen zu Diensten, und so kam ich durch.«[220]


1264.*


1830, 21. Februar.


Mit Johann Peter Eckermann

Mit Goethe zu Tische. Er zeigt mir die Luftpflanze, die ich mit großem Interesse betrachte. Ich bemerke darin ein Bestreben, ihre Existenz so lange wie möglich fortzusetzen, ehe sie einem folgenden Individuum erlaubt sich zu manifestiren.

»Ich habe mir vorgenommen,« sagte Goethe darauf, »in vier Wochen so wenig den ›Temps‹ als ›Globe‹ zu lesen. Die Sachen stehen so, daß sich innerhalb dieser Periode etwas ereignen muß, und so will ich die Zeit erwarten, bis mir von außen eine solche Nachricht kommt. Meine ›Classische Walpurgisnacht‹ wird dabei gewinnen, und ohnehin sind jenes Interessen, wovon[220] man nichts hat, welches in manchen Fällen nicht genug bedacht wird.«

Er giebt mir sodann einen Brief von Boisserée aus München, der ihm Freude gemacht und den ich gleichfalls mit hohem Vergnügen lese. Boisserée spricht besonders über den ›Zweiten Aufenthalt in Rom‹, sowie über einige Punkte des letzten Heftes von ›Kunst und Alterthum‹. Er urtheilt über diese Dinge so wohlwollend als gründlich, und wir finden Veranlassung, über die seltene Bildung und Thätigkeit dieses bedeutenden Mannes viel zu reden.

Goethe erzählte mir darauf von einem neuen Bilde von Cornelius als sehr brav durchdacht und ausgeführt, und es kommt zur Sprache, daß die Gelegenheit zur guten Färbung eines Bildes in der Composition liege.[221]


1265.*


1830, 22. Februar.


Mit Friedrich von Müller

Goethe zeigte heute Kupferstiche von Cornelius und sprach vom Plutonischen1 Reich in der Glyptothek und Laborde's Zeichnungen von Pera und Umgegend. Ich theilte ihm die wohlgeschriebene Vertheidigung der Gedichte des Königs von Bayern gegen die höhnische Kritik im ›Universel‹ mit.

[221] Zur Biographie der Großherzogin-Mutter gab er die Formel: »Ächte Fürstlichkeit durch die Weimarischen individuellen Zustände ins Idyllische hinüber gezogen.« Er freute sich sehr der ausgleichenden Aufschlüsse, die Demoiselle Lorch2 über die Ursachen der Verstimmung zwischen Prinzeß Caroline und ihrer Mutter gegeben. Vom sel. Großherzog sagte er: »Er war eigentlich zum Tyrannen geneigt, wie keiner, aber er ließ alles um sich her ungehindert gehen, so lange es nur ihn nicht selbst in seiner Eigenschaft berührte.

Es ist unglaublich, wie viel er in seinem Kreise aufgeregt und zu wie vielen schweren Leistungen er angeregt und aufgefordert hat. Gewiß, wo auch sein Geist im Weltall seine Rolle gefunden, er wird dort seine Leute wieder gut zu pflegen wissen.« Der Großherzog ließ sich anmelden, und so mußten wir abbrechen.

Daß er das Falk'sche3 Gedicht auf den Tod der Großherzogin verwarf, that mir leid. Er beschuldigte es des Sansculotismus, und sprach sich überhaupt ungünstig über Falk aus.


1 B. H. C. Lommatzsch, die Weisheit des Empedokles nach ihren Quellen und deren Auslegung philosoph. bearb. Berlin 1830.


2 Vergl. Petronius Satirae Cap. 34 (Bücheler).


3 P. v. Cornelius' Orpheus in der Unterwelt.[222]


1266.*


1830, 24. Februar.


Mit Johann Peter Eckermann

Mit Goethe zu Tische. Wir sprechen über den Homer. Ich bemerke, daß sich die Einwirkung der Götter unmittelbar ans Reale anschließe. – »Es ist unendlich zart und menschlich,« sagte Goethe, »und ich danke Gott, daß wir aus den Zeiten heraus sind, wo die Franzosen diese Einwirkung der Götter Maschinerie nannten. Aber freilich, so ungeheuere Verdienste nachzuempfinden, bedurfte einiger Zeit; denn es erforderte eine gänzliche Umwandlung ihrer Cultur.«

Goethe sagte mir sodann, daß er in die Erscheinung der Helena noch einen Zug hineingebracht, um ihre Schönheit zu erhöhen, welches durch eine Bemerkung von mir veranlaßt worden und meinem Gefühl zur Ehre gereiche.

Nach Tische zeigte Goethe mir den Umriß eines Bildes von Cornelius, den Orpheus vor Plutos Throne darstellend, um die Eurydice zu befreien. Das Bild erschien uns wohl überlegt und das Einzelne vortrefflich gemacht, doch wollte es nicht recht befriedigen und dem Gemüth kein rechtes Behagen geben. Viel leicht, dachten wir, bringt die Färbung eine größere Harmonie hinein; vielleicht auch wäre der folgende Moment günstiger gewesen, wo Orpheus über das Herz des Pluto bereits gesiegt hat und ihm die Eurydice zurückgegeben[223] wird. Die Situation hätte sodann nicht mehr das Gespannte, Erwartungsvolle, vielmehr würde sie vollkommene Befriedigung gewähren.[224]


1267.*


1830, 9. Mai.


Mit Andreas Eduard Kozmian

Auf der Rückreise aus Paris im Jahre 1830 verdankte ich es der gütigen Vermittlung der Frau v. Goethe, daß mir ihr Schwiegervater den Tag und die Stunde bestimmte, da er mich bei sich empfangen wolle, und mich davon mittels folgender Worte benachrichtigte, die er mit Bleistift eigenhändig auf seine Visitenkarte geschrieben hatte: »wünscht, da er heute verhindert ist, Herrn v. Kozmian morgen Sonntags um 12 Uhr bei sich zu sehen.«

Ich verfehlte nicht die Mittagsstunde, welche mir bestimmt worden. In Goethes Wohnung angelangt, fand ich ihn meinen Besuch erwartend in eben jenem Zimmer, worin er das Jahr vorher seine versammelten Gäste empfangen hatte. Als er mich mit einnehmender Freundlichkeit bewillkommt, dankte ich ihm in französischer Sprache – denn in der deutschen fühlte ich mich nicht sicher genug, mit Goethe zu sprechen – für die theuersten Erinnerungen meiner Reise, welche ich ihm zu verdanken hätte.

»Mit Befriedigung sehe ich immer Fremde bei mir,[224] welche mich besuchen wollen,« – erwiederte Goethe auch in französischer Sprache, die er mit Leichtigkeit handhabte. – »Ihre Gesellschaft vertritt gewissermaßen die Annehmlichkeit des Reisens, die ich mir in meinem Alter nicht erlauben darf. Ich unterrede mich mit Ihnen, und so reise ich auch, ohne den Platz zu verlassen. Heute zum Beispiel wandr' ich in Polen« – sagte er lächelnd.

Diese Worte dienten als Einleitung zu einem Gespräche über mein Vaterland, dessen Vergangenheit und Gegenwart, und weiter über seine Literatur. Ich sprach von dem neuen Geiste, von der neuen Richtung der polnischen Literatur und Kritik, von dem Führer der neuen Schule, welchen Goethe vor einigen Monaten in Weimar kennen gelernt hatte.

»Ich bedaure,« sagte Goethe, »daß der Schatz Ihrer ältern und neuern Literatur für mich unerreichbar ist; mit Vergnügen würde ich ihre heutige Entwickelung und die Richtung, welche diese genommen hat, verfolgen. Edel sind solche Bestrebungen, die Literatur national und von den Fesseln der Nachahmung frei zu machen. Mögen aber die jungen Dichter Übertreibungen aus dem Wege gehen! Mögen sie die Fehler und Irrthümer vermeiden, die allen Neophyten eigen sind: mögen sie vor übermäßigem Eifer, vor Fanatismus in ihrem Glauben auf der Hut sein! Mögen sie neue Muster schaffen, jedoch die alten dabei spottender Verachtung nicht preisgeben!«...

[225] »Wie ich glaube,« fuhr Goethe fort, »wird die neu erstehende Schule besonders an nationalen Stoffen Gefallen finden. In alten Geschichten, Überlieferungen, Vorstellungen, sogar Vorurtheilen, wird sie auf Poesie treffen. Jede Nation hat ihre poetische Flur – warum auf fremden nach Blumen suchen, wenn die heimische so üppigen Wuchs darbeut? Auch die Vergangenheit Polens ist reich an Poesie. Seine Geschichte enthält manche Ereignisse, manchen Character, wohl imstande, einen Dichter zu begeistern. So bin ich z.B. erstaunt, daß noch keiner Ihrer Dichter das Leben Kasimir's, ›der Mönch‹ zubenannt, behandelt hat. Man könnte daraus eine Dichtung oder ein historisches Drama voll ergreifender Gemälde bilden. Man muß sich nur diesen Jüngling vorstellen! Die nichtswürdige Mutter hat ihn aus dem Vaterlande entführt, in ihm Haß gegen seine Landsleute und seine Heimath zu erwecken versucht; er, der Krone beraubt, tritt trotz königlichen Geblütes, trotz Jugendreiz und -kraft, auf Drängen eben jener Mutter, ohne Beruf in ein Kloster. Man muß sich seinen Seelenkampf vorstellen, den Kampf religiöser Gefühle mit den sprossenden Leidenschaften der Jugend; wie er diese überwindet und für immer von der Welt scheidet, unter den Ordensbrüdern von Clugny sich verliert, selbst den alten Namen ändert und ein Mönch des elften Jahrhunderts wird. Da widerhallt das Kloster von der Kunde, daß Boten eines fernen Volkes gekommen seien, welche ihren Fürsten suchen. Kasimir,[226] in der klösterlichen Demuth verharrend, wollte sich noch verborgen halten. Die polnischen Abgesandten können ihn unter der zahlreichen Schaar der Mönche nicht erkennen, aber ihre Thränen, ihr Bericht von dem Unglück des Landes erwecken in dem jungen Fürsten neue Gefühle: eine Zähre erglänzt im Auge eines der Mönche und verräth Kasimir; die Abgesandten erkennen ihn. Länger kann er sich nicht verbergen; er beugt das Haupt vor dem Willen Gottes, giebt seinen Namen kund und sieht zu seinen Füßen Krone und Scepter. Allein der Klosterabt weigert sich ihn freizulassen. Es eilen also die Abgesandten nach Rom, bringen vom heiligen Vater die mit bedeutenden Opfern erkaufte Lösung der Gelübde und geleiten den jungen Fürsten zum Throne seiner Väter. Sobald er im Lande erschienen, eilt das gemeine Volk ihm entgegen; Väter, Mütter, Kinder umringen, begrüßen ihn mit Jubel, und er, von höherer Macht unterstützt, schlichtet – kaum daß sein Fuß den Heimathboden berührt – die inneren Zwistigkeiten, zügelt die Feinde, straft die Aufrührer, befestigt Frieden und Ordnung und eröffnet eine Reihe glorreicher Herrscher. Ist dies für eine Dichtung oder für ein historisches Drama kein gar poesiereicher Stoff?«

»Ohne Zweifel« – entgegnete ich – »müßte er, so aufgefaßt und ausgeführt, zu einem schönen Werke werden, allein um daranzugehen bedürfe es der Kraft des Dichters des ›Götz von Berlichingen‹; vielleicht[227] wäre dieser Gegenstand seiner Feder nicht unwürdig?«

»Eine neue, so großartige Arbeit« – sagte Goethe – »könnte ich nicht unternehmen; denn wo ist die Garantie, daß ich sie vollende? Übrigens gehört dieser geschichtliche Stoff von rechtswegen einem polnischen Autor.« – Indem wir über Literatursprachen, fragte mich Goethe nach den neuen französischen Producten. Aufmerksam hörte er meinen Bericht an über die erste Vorstellung des Shakespeare'schen ›Othello‹ in französischer Sprache auf Corneille's und Racine's Bühne, ebenso über die Aufführung von ›Hernani‹ [von Hugo], den er noch nicht kannte.

»Victor Hugo« – sagte Goethe – »besitzt ausgezeichnete Fähigkeiten; ohne Zweifel erneut und erfrischt er die französische Poesie, allein man muß fürchten, daß wenn nicht er, so doch seine Schüler und Nachahmer in der Richtung, welche sie zu schaffen gewagt, zu weit gehen dürften. Die französische Nation ist die Nation der Extreme; sie kennt in nichts Maß. Mit gewaltiger moralischer und physischer Kraft ausgestattet, könnte das französische Volk die Welt heben, wenn es den Centralpunkt zu finden vermöchte, es scheint aber nicht zu wissen, daß wenn man große Lasten heben will, man ihre Mitte auffinden muß. Es ist dies das einzige Volk auf Erden, in dessen Geschichte wir die Bartholomäusnacht und die Feier der ›Vernunft‹, den Despotismus Ludwig's XIV. und die Orgien der Sansculotten,[228] beinahe in demselben Jahre die Einnahme von Moskau und die Capitulation von Paris finden. Somit muß man fürchten, daß auch in der Literatur nach dem Despotismus eines Boileau Zügellosigkeit und Verwerfung aller Gesetze eintrete.«

»Auch ich« – sagte ich – »theile diese Furcht, allein ich kann nicht verschweigen, daß die Formen, die einst imschwange gewesen, heute als Muster nicht mehr dienen können. Die tragischen Werke der französischen Meister lesen wir immer mit Freude, aber auf der Scene dargestellt, interessiren sie das heutige Publicum nicht. Stünde Racine auf, so würde er heute selbst die Fehler vermeiden, welche wir in seinen Werken finden.«

»Glauben Sie mir« – sagte Goethe – »wünschen wir uns einen neuen Racine selbst mit den Fehlern des alten! Die Meisterwerke der französischen Bühne bleiben Meisterwerke für immer. Ihre Darstellung hat mich selbst in jungen Jahren, noch in Frankfurt, höchst interessirt; damals faßte ich zuerst den Gedanken, Dramen zu schreiben. Die heutige Schule kann für die Literatur viel thun, allein niemals soviel, als die frühere gethan hat.«...

Da ich durch längeres Reden die theuern Augenblicke des Dichters nicht in Anspruch nehmen wollte erhob ich mich, um zu gehen, aber Goethe beliebte mich noch zurückzuhalten und that weitere Fragen inbetreff Frankreichs, dessen bedeutenderer Schriftsteller und des[229] Zustandes der Künste. Als ich der ausgezeichneten Bilder Scheffer's erwähnte, welche Faust und Gretchen darstellen, fragte er mich, welchen Charakter der Maler ihnen gegeben, ob er des Dichters Absicht verstanden, und ob dies Faust und Gretchen Goethe's oder Scheffer's seien.

Nach dieser einstündigen Unterredung nahm ich von dem Dichter Abschied.[230]


1268.*


1830, 1. März.


Mittag bei Goethe

Bei Goethe zu Tische mit Hofrath Voigt aus Jena. Die Unterhaltung geht um lauter naturhistorische Gegenstände, wobei Hofrath Voigt die vielseitigsten Kenntnisse entwickelt. Goethe erzählt, daß er einen Brief erhalten mit der Einwendung, daß die Kotyledonen keine Blätter seien, und zwar weil sie kein Auge hinter sich hätten. Wir überzeugen uns aber an verschiedenen Pflanzen, daß die Kotyledonen allerdings Augen hinter sich haben, so gut wie jedes folgende Blatt. Voigt sagt, daß das Aperçu von der Metamorphose der Pflanze eine der fruchtbarsten Entdeckungen sei, welche die neuere Zeit im Fache der Naturforschung erfahren.

Wir reden über Sammlungen ausgestopfter Vögel, wobei Goethe erzählt, daß ein Engländer mehrere Hunderte lebendiger Vögel in großen Behältern gefüttert[230] habe. Von diesen seien einige gestorben, und er habe sie ausstopfen lassen. Diese ausgestopften hätten ihm nun so gefallen, daß ihm der Gedanke gekommen, ob es nicht besser sei, sie alle todtschlagen und ausstopfen zu lassen; welchen Gedanken er denn auch alsobald ausgeführt habe.

Hofrath Voigt erzählt, daß er im Begriff sei Cuviers ›Naturgeschichte‹ in fünf Bänden zu übersetzen und mit Ergänzungen und Erweiterungen herauszugeben.

Nach Tische, als Voigt gegangen war, zeigte Goethe mir das Manuscript seiner ›Walpurgisnacht‹ und ich bin erstaunt über die Stärke, zu der es in den wenigen Wochen herangewachsen.[231]


1269.*


1830, 1. März.


Mit Friedrich von Müller

»Schiller war ganz ein anderer Geselle als ich und wußte in der Gesellschaft immer bedeutend und anziehend zu sprechen. Ich hingegen hatte immer die alberne Abneigung von dem, was mich gerade am meisten interessirte, zu sprechen.

Ja bei der Herzogin-Mutter freilich konnte ich zuweilen eine Stunde amüsiren; wenn das artige Wesen ›die Kehle‹ [Henriette v. Wolfskehl, nachmals Freifrau v. Fritsch] umhertrippelte und ›Närrischer Geheimerath‹[231] sagte, da improvisirte ich oft eine Erzählung, die sich hören ließ; ich hatte damals des Zeugs zu viel im Kopfe und Motive zu Hunderten.«[232]


1270.*


1830, 3. März.


Mit Johann Peter Eckermann

Mit Goethe vor Tisch spazieren gefahren. Er spricht günstig über mein Gedicht in Bezug auf den König von Bayern, indem er bemerkt, daß Lord Byron vortheilhaft auf mich gewirkt. Mir fehle jedoch noch dasjenige, was man Convenienz heiße, worin Voltaire so groß gewesen. Diesen wolle er mir zum Muster vorschlagen.

Darauf bei Tische reden wir viel über Wieland, besonders über den ›Oberon‹, und Goethe ist der Meinung, daß das Fundament schwach sei, und der Plan vor der Ausführung nicht gehörig gegründet worden. Daß zur Herbeischaffung der Barthaare und Backenzähne ein Geist benutzt werde, sei gar nicht wohl erfunden, besonders weil der Held sich dabei ganz unthätig verhalte. Die anmuthige, sinnliche und geistreiche Ausführung des großen Dichters aber mache das Buch dem Leser so angenehm, daß er an das eigentliche Fundament nicht weiter denke und darüber hinauslese.

Wir reden fort über viele Dinge, und so kommen[232] wir auch wieder auf die Entelechie. »Die Hartnäckigkeit des Individuums, und daß der Mensch abschüttelt, was ihm nicht gemäß ist,« sagte Goethe, »ist mir ein Beweis, daß so etwas existire.« Ich hatte seit einigen Minuten dasselbige gedacht und sagen wollen, und so war es mir doppelt lieb, daß Goethe es aussprach. »Leibniz,« fuhr er fort, »hat ähnliche Gedanken über solche selbstständige Wesen gehabt, und zwar, was wir mit dem Ausdruck Entelechie bezeichnen, nannte er Monaden.«[233]


1271.*


1830, 5. März.


Mit Friedrich Soret

Eine ..... [Enkelin] der Jugendgeliebten Goethes .... [der Frau V. Türkheim, die Gräfin Waldner-Freundstein] war einige Zeit in Weimar. Ich drückte heute gegen Goethe mein Bedauern über ihre Abreise aus. »Sie ist so jung,« sagte ich, »und zeigt eine so erhabene Gesinnung und einen so reifen Geist, wie man ihn bei solchem Alter selten findet. Ihr Erscheinen hat überhaupt in Weimar großen Eindruck gemacht. Wäre sie länger geblieben, sie hätte für manchen gefährlich werden können.«

»Wie sehr thut es mir leid,« erwiederte Goethe, »daß ich sie nicht öfter gesehen, und daß ich anfänglich immer verschoben habe sie einzuladen, um mich ungestört[233] mit ihr zu unterhalten und die geliebten Züge ihrer Verwandten in ihr wieder aufzusuchen.

Der vierte Band von ›Wahrheit und Dichtung‹,« fuhr er fort, »wo Sie die jugendliche Glücks- und Leidensgeschichte meiner Liebe zu Lili erzählt finden werden, ist seit einiger Zeit vollendet. Ich hätte ihn längst früher geschrieben und herausgegeben, wenn mich nicht gewisse zarte Rücksichten gehindert hätten, und zwar nicht Rücksichten gegen mich selber, sondern gegen die damals noch lebende Geliebte. Ich wäre stolz gewesen, es der ganzen Welt zu sagen, wie sehr ich sie geliebt, und ich glaube, sie wäre nicht erröthet zu gestehen, daß meine Neigung erwiedert wurde. Aber hatte ich das Recht, es öffentlich zu sagen ohne ihre Zustimmung? Ich hatte immer die Absicht, sie darum zu bitten; doch zögerte ich damit hin, bis es denn endlich nicht mehr nöthig war.

Indem Sie,« fuhr Goethe fort, »mit solchem Antheil über das liebenswürdige junge Mädchen reden, das uns jetzt verläßt, erwecken Sie in mir alle meine alten Erinnerungen. Ich sehe die reizende Lili wieder in aller Lebendigkeit vor mir, und es ist mir als fühlte ich wieder den Hauch ihrer beglückenden Nähe. Sie war in der That die erste, die ich tief und wahrhaft liebte. Auch kann ich sagen, daß sie die letzte gewesen; denn alle kleinen Neigungen, die mich in der Folge meines Lebens berührten, waren, mit jener ersten verglichen, nur leicht und oberflächlich.

[234] Ich bin,« fuhr Goethe fort, »meinem eigentlichen Glücke nie so nahe gewesen als in der Zeit jener Liebe zu Lili. Die Hindernisse, die uns auseinanderhielten, waren im Grunde nicht unübersteiglich – und doch ging sie mir verloren!

Meine Neigung zu ihr hatte etwas so Delicates und etwas so Eigenthümliches, daß es jetzt in Darstellung jener schmerzlich-glücklichen Epoche auf meinen Stil Einfluß gehabt hat. Wenn Sie künftig den vierten Band von ›Wahrheit und Dichtung‹ lesen, so werden Sie finden, daß jene Liebe etwas ganz anderes ist als eine Liebe in Romanen.«

»Dasselbige,« erwiederte ich, »könnte man auch von Ihrer Liebe zu Gretchen und Friederike sagen. Die Darstellung von beiden ist gleichfalls so neu und originell, wie die Romanschreiber dergleichen nicht erfinden und ausdenken. Es scheint dieses von der großen Wahrhaftigkeit des Erzählers herzurühren, der das Erlebte nicht zu bemänteln gesucht, um es zu größerm Vortheil erscheinen zu lassen, und der jede empfindsame Phrase vermieden, wo schon die einfache Darlegung der Ereignisse genügte.

Auch ist die Liebe selbst,« fügte ich hinzu, »sich niemals gleich; sie ist stets original und modificirt sich stets nach dem Charakter und der Persönlichkeit derjenigen, die wir lieben.«

»Sie haben vollkommen recht,« erwiederte Goethe; »denn nicht bloß wir sind die Liebe, sondern es ist es[235] auch das uns anreizende liebe Object. Und dann, was nicht zu vergessen, kommt als ein mächtiges Drittel noch das Dämonische hinzu, das jede Leidenschaft zu begleiten pflegt und das in der Liebe sein eigentliches Element findet. In meinem Verhältniß zu Lili war es besonders wirksam; es gab meinem ganzen Leben eine andere Richtung, und ich sage nicht zu viel, wenn ich behaupte, daß meine Herkunft nach Weimar und mein jetziges Hiersein davon eine unmittelbare Folge war.«[236]


1272.*


1830, 6. März.


Mit Friedrich Soret

Goethe liest seit einiger Zeit die ›Memoiren‹ von Saint-Simon.

»Mit dem Tode von Ludwig dem Vierzehnten,« sagte er mir vor einigen Tagen, »habe ich jetzt halt gemacht. Bis dahin hat mich das Dutzend Bände in hohem Grade interessirt, und zwar durch den Contrast der Willensrichtungen des Herrn und der aristokratischen Tugend des Dieners. Aber von dem Augenblick an, wo jener Monarch abgeht, und eine andere Personnage auftritt, die zu schlecht ist, als daß Saint-Simon sich zu seinem Vortheil neben ihr ausnehmen könnte, machte die Lectüre mir keine Freude mehr; der Widerwille trat ein, und ich verließ das Buch da, wo mich der ›Tyrann‹ verließ.«

[236] Auch den ›Globe‹ und den ›Temps‹, den Goethe seit mehreren Monaten mit dem größten Eifer las, hat er seit etwa vierzehn Tagen zu lesen aufgehört. Sowie die Nummern bei ihm unter Kreuzband ankommen, legt er sie uneröffnet beiseite. Indeß bittet er seine Freunde, ihm zu erzählen was in der Welt vorgeht. Er ist seit einiger Zeit sehr productiv und ganz vertieft im zweiten Theile seines ›Faust‹. Besonders ist es die ›Classische Walpurgisnacht‹, die ihn seit einigen Wochen ganz hinnimmt und die dadurch auch rasch und bedeutend heranwächst. In solchen durchaus productiven Epochen liebt Goethe die Lectüre überhaupt nicht, es wäre denn daß sie als etwas Leichtes und Heiteres ihm als ein wohlthätiges Ausruhen diente, oder auch daß sie mit dem Gegenstande, den er eben unter Händen hat, in Harmonie stände und dazu behilflich wäre. Er meidet sie dagegen ganz entschieden, wenn sie so bedeutend und aufregend wirkte, daß sie seine ruhige Production stören und sein thätiges Interesse zersplittern und ablenken könnte. Das letztere scheint jetzt mit dem ›Globe‹ und ›Temps‹ der Fall zu sein. »Ich sehe,« sagte er, »es bereiten sich in Paris bedeutende Dinge vor; wir sind am Vorabend einer großen Explosion. Da ich aber darauf keinen Einfluß habe, so will ich es ruhig abwarten, ohne mich von dem spannenden Gange des Dramas unnützerweise täglich aufregen zu lassen. Ich lese jetzt so wenig den ›Globe‹ als den ›Temps‹, und[237] meine ›Walpurgisnacht‹ rückt dabei gar nicht schlecht vorwärts.«

Er sprach darauf über den Zustand der neuesten französischen Literatur, die ihn sehr interessirt. »Was die Franzosen,« sagte er, »bei ihrer jetzigen literarischen Richtung für etwas Neues halten, ist im Grunde weiter nichts als der Wiederschein desjenigen, was die deutsche Literatur seit funfzig Jahren gewollt und geworden. Der Keim der historischen Stücke, die bei ihnen jetzt etwas Neues sind, findet sich schon seit einem halben Jahrhundert in meinem ›Götz‹. Übrigens,« fügte er hinzu, »haben die deutschen Schriftsteller niemals daran gedacht und nie in der Absicht geschrieben, auf die Franzosen einen Einfluß ausüben zu wollen. Ich selbst habe immer nur mein Deutschland vor Augen gehabt, und es ist erst seit gestern oder ehegestern, daß es mir einfällt meine Blicke westwärts zu wenden, um auch zu sehen wie unsere Nachbarn jenseits des Rheins von mir denken. Aber auch jetzt haben sie auf meine Productionen keinen Einfluß. Selbst Wieland, der die französischen Formen und Darstellungsweisen nachgeahmt, ist im Grunde immer deutsch geblieben und würde sich in einer Übertragung schlecht ausnehmen.«[238]


1273.*


1830, 7. März.


Mit Johann Peter Eckermann

Um 12 Uhr zu Goethe, den ich heute besonders frisch und kräftig fand. Er eröffnete mir, daß er seine ›Classische Walpurgisnacht‹ habe zurücklegen müssen, um die letzte Lieferung fertig zu machen. »Hierbei aber,« sagte er, »bin ich klug gewesen, daß ich aufgehört habe, wo ich noch in gutem Zuge war und noch viel bereits Erfundenes zu sagen hatte. Auf diese Weise läßt sich viel leichter wieder anknüpfen, als wenn ich so lange fortgeschrieben hätte bis es stockte.« Ich merkte mir dieses als eine gute Lehre.

Es war die Absicht gewesen, vor Tische eine Spazierfahrt zu machen, allein wir fanden es beiderseits so angenehm im Zimmer, daß die Pferde abbestellt wurden.

Unterdessen hatte der Bediente Friedrich eine große von Paris angekommene Kiste ausgepackt. Es war eine Sendung vom Bildhauer David, in Gips abgegossene Portraits, Basreliefs, von siebenundfunfzig berühmten Personen. Friedrich trug die Abgüsse in verschiedenen Schiebläden herein und es gab große Unterhaltung, alle die interessanten Persönlichkeiten zu betrachten. Besonders erwartungsvoll war ich auf Mérimée; der Kopf erschien so kräftig und verwegen wie sein Talent, und Goethe bemerkte, daß er etwas[239] Humoristisches habe. Victor Hugo, Alfred de Bigny, Emile Deschamps zeigten sich als reine, freie, heitere Köpfe. Auch erfreuten uns die Portraits der Demoiselle Gay, der Madame Tastu und anderer junger Schriftstellerinnen. Das kräftige Bild von Fabvier erinnerte an Menschen früherer Jahrhunderte, und wir hatten Genuß, es wiederholt zu betrachten. So gingen wir von einer bedeutenden Person zur andern, und Goethe konnte nicht umhin wiederholt zu äußern, daß er durch diese Sendung von David einen Schatz besitze, wofür er dem trefflichen Künstler nicht genug danken könne. Er werde nicht unterlassen, diese Sammlung Durchreisenden vorzuzeigen und sich mündlich über einzelne ihm noch unbekannte Personen unterrichten zu lassen.

Auch Bücher waren in der Kiste verpackt gewesen, die er in die vordern Zimmer tragen ließ, wohin wir folgten und uns zu Tische setzten. Wir waren heiter und sprachen von Arbeiten und Vorsätzen hin und her. »Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei,« sagte Goethe, »und besonders nicht, daß er allein arbeite; vielmehr bedarf er der Theilnahme und Anregung, wenn etwas gelingen soll. Ich verdanke Schillern die ›Achilleïs‹ und viele meiner Balladen, wozu er mich getrieben, und Sie können es sich zurechnen, wenn ich den zweiten Theil des ›Faust‹ zustande bringe. Ich habe es Ihnen schon oft gesagt, aber ich muß es wiederholen, damit Sie es wissen.« Ich freute[240] mich dieser Worte, im Gefühl, daß daran viel Wahres sein möge.

Beim Nachtisch öffnete Goethe eins der Packete. Es waren die Gedichte von Émile Deschamps, begleitet von einem Brief, den Goethe mir zu lesen gab. Hier sah ich nun zu meiner Freude, welcher Einfluß Goethen auf das neue Leben der französischen Literatur zugestanden wird, und wie die jungen Dichter ihn als ihr geistiges Oberhaupt verehren und lieben. So hatte in Goethes Jugend Shakespeare gewirkt. Von Voltaire läßt sich nicht sagen, daß er auf junge Poeten des Auslandes einen Einfluß der Art gehabt, daß sie sich in seinem Geist versammelten und ihn als ihren Herrn und Meister erkannten. Überall war der Brief von Émile Deschamps mit sehr liebenswürdiger, herzlicher Freiheit geschrieben. »Man blickt in den Frühling eines schönen Gemüths,« sagte Goethe.

Ferner befand sich unter der Sendung von David ein Blatt mit dem Hute Napoleons in den verschiedensten Stellungen. »Das ist etwas für meinen Sohn,« sagte Goethe und sendete das Blatt schnell hinauf. Es verfehlte auch seine Wirkung nicht, indem der junge Goethe sehr bald herunterkam und voller Freude diese Hüte seines Helden für das Nonplusultra seiner Sammlung erklärte. Ehe fünf Minuten vergingen, befand sich das Bild unter Glas und Rahmen und an seinem Ort unter den übrigen Attributen und Denkmälern des Helden.[241]


1274.*


1830, 7. März.


Mit Friedrich von Müller

Ich traf Goethe in den vordern Zimmern. Eine von David eben erhaltene Sendung von Büchern und Medaillons verbarg er mir. Er war aufgeregter als gewöhnlich. – »Nun laßt nur mit allen Glocken läuten; macht, daß Ihr die Alten alle begrabt und seht zu, wie Ihr mit den Jungen fertig werdet. Seid nur lustig und wohlgemuth dabei, das ist die Hauptsache.«

Als ich ihm St. Aignan's Condolenzbrief zeigte und hinzu fügte: »Wie wollen Sie in so wenig Zeilen mehr und Verbindlicheres ausdrücken?« nahm er es ganz übel und nannte es eine triviale Redensart, die man ihm gegenüber nicht brauchen sollte. Doch lenkte er gleich wieder in Scherz über. An Reinhard könne er unter einem Monat nicht schreiben; man fordere zu viel von ihm, er müsse Bankerott mit seiner Zeit machen. Wenn man die achtziger Jahre überschritten habe, gehe nicht alles so leicht von der Hand.

Niemand frage darnach, wie viel Mühe ihm die Herausgabe seiner Werke mache, und dann nehme doch niemand, wenn sie erschienen, sonderlich Notiz davon. Von Auguste Jacobi1 sagte er: sie verwandle mit[242] ihrem scharfen Geiste alle Poesie augenblicks in Prosa, versire in beständiger Klarheit, aber des Irrthums. Eben als ich mehr darüber mittheilen wollte, trat Coudray ein.


1 Demois. Caroline Lorch, frühere Kammerfrau bei der Herzogin Amalia, dann bei der Großherzogin Louise.[243]


1275.*


1830, 14. März.


Mit Friedrich von Müller

Als ich ihm Feuerbach's theilnehmende Nachfrage meldete, entgegnete er: »Nun, antworten Sie nur, mein Bündel sei geschnürt und ich warte auf Ordre zum Abmarsch.« Als es sich nun um die Kenntniß einiger Stael'schen Briefe handelte, sagte er ausweichend: »Es kommt doch bei all' dem Auslesen alter Briefe nichts heraus.«[243]


1276.*


1830, 14. März.


Mit Friedrich Soret

Abends bei Goethe. Er zeigte mir alle jetzt geordneten Schätze der Kiste von David, mit deren Auspackung ich ihn vor einigen Tagen beschäftigt fand. Die Gipsmedaillons mit den Profilen der vorzüglichsten jungen Dichter Frankreichs hatte er in großer Ordnung auf Tischen nebeneinandergelegt. Er sprach dabei abermals über das außerordentliche Talent David's, das ebenso groß sei in der Auffassung als in[243] der Ausführung. Auch zeigte er mir eine Menge der neuesten Werke, die ihm durch die Vermittelung David's von den ausgezeichnetsten Talenten der romantischen Schule als Autorgeschenke verehrt worden. Ich sah Werke von Sainte-Beuve, Ballanche, Victor Hugo, Balzac, Alfred de Vigny, Jules Janin und andern. »David,« sagte er, »hat mir durch diese Sendung schöne Tage bereitet. Die jungen Dichter beschäftigen mich nun schon die ganze Woche und gewähren mir durch die frischen Eindrücke, die ich von ihnen empfange, ein neues Leben. Ich werde über die mir sehr lieben Portaits und Bücher einen eigenen Catalog machen und beiden in meiner Kunstsammlung und Bibliothek einen besondern Platz geben.« Man sah es Goethen an, daß diese Huldigung der jungen Dichter Frankreichs ihn innerlichst beglückte.

Er lag darauf einiges in den ›Studien‹ von Émile Deschamps. Die Übersetzung der ›Braut von Corinth‹ lobte er als treu und sehr gelungen. »Ich besitze,« sagte er, »das Manuscript einer italienischen Übersetzung dieses Gedichts, welches das Original bis zum Rhythmus wiedergiebt.«

Die ›Braut von Corinth‹ gab Goethen Anlaß, auch von seinen übrigen Balladen zu reden. »Ich verdanke sie größtentheils Schillern,« sagte er, »der mich dazu trieb, weil er immer etwas Neues für seine ›Horen‹ [vielmehr für die ›Musenalmanache‹] brauchte. Ich hatte sie alle schon seit vielen Jahren im Kopf, sie beschäftigten meinen Geist als[244] anmuthige Bilder, als schöne Träume, die kamen und gingen und womit die Phantasie mich spielend beglückte. Ich entschloß mich ungern dazu, diesen mir seit so lange befreundeten glänzenden Erscheinungen ein Lebewohl zu sagen, indem ich ihnen durch das ungenügende dürftige Wort einen Körper verlieh. Als sie auf dem Papiere standen, betrachtete ich sie mit einem Gemisch von Wehmuth; es war mir als sollte ich mich auf immer von einem geliebten Freunde trennen.

Zu andern Zeiten,« fuhr Goethe fort, »ging es mir mit meinen Gedichten gänzlich anders. Ich hatte davon vorher durchaus keine Eindrücke und keine Ahnung, sondern sie kamen plötzlich über mich und wollten augenblicklich gemacht sein, sodaß ich sie auf der Stelle instinktmäßig und traumartig niederzuschreiben mich getrieben fühlte. In solchem nachtwandlerischen Zustande geschah es oft, daß ich einen ganz schief liegenden Papierbogen vor mir hatte, und daß ich dieses erst bemerkte, wenn alles geschrieben war, oder wenn ich zum Weiterschreiben keinen Platz fand. Ich habe mehrere solcher in der Diagonale geschriebenen Blätter besessen; sie sind mir jedoch nach und nach abhanden gekommen, sodaß es mir leid thut, keine Proben solcher poetischen Vertiefung mehr vorzeigen zu können.«

Das Gespräch lenkte sich sodann auf die französische Literatur zurück, und zwar auf die allerneueste ultraromantische[245] Richtung einiger nicht unbedeutenden Talente. Goethe war der Meinung, daß diese im Werden begriffene poetische Revolution der Literatur selber im hohen Grade günstig, den einzelnen Schriftstellern aber, die sie bewirken, nachtheilig sei.

»Bei keiner Revolution,« sagte er, »sind die Extreme zu vermeiden. Bei der politischen will man anfänglich gewöhnlich nichts weiter als die Abstellung von allerlei Mißbräuchen, aber ehe man es sich versieht, steckt man tief in Blutvergießen und Greueln. So wollten auch die Franzosen bei ihrer jetzigen literarischen Umwälzung anfänglich nichts weiter als eine freiere Form, aber dabei bleiben sie jetzt nicht stehen, sondern sie verwerfen neben der Form auch den bisherigen Inhalt. Die Darstellung edler Gesinnungen und Thaten fängt man an für langweilig zu erklären, und man versucht sich in Behandlung von allerlei Verruchtheiten. An die Stelle des schönen Inhalts griechischer Mythologie treten Teufel, Hexen und Vampyre, und die erhabenen Helden der Vorzeit müssen Gaunern und Galeerensklaven Platz machen. Dergleichen ist pikant! Das wirkt! Nachdem aber das Publicum diese stark gepfefferte Speise einmal gekostet und sich daran gewöhnt hat, wird es nur immer nach Mehrerem und Stärkerm begierig. Ein junges Talent, das wirken und anerkannt sein will, und nicht groß genug ist, auf eigenem Wege zu gehen, muß sich dem Geschmack des Tages bequemen, ja es muß seine Vorgänger im Schreck- und Schauerlichen[246] noch zu überbieten suchen. In diesem Jagen nach äußern Effectmitteln aber wird jedes tiefere Studium und jedes stufenweise gründliche Entwickeln des Talents und Menschen von innen heraus ganz außer Acht gelassen. Das ist aber der größte Schaden, der dem Talent begegnen kann, wiewohl die Literatur im allgemeinen bei dieser augenblicklichen Richtung gewinnen wird.«

»Wie kann aber,« versetzte ich, »ein Bestreben, das die einzelnen Talente zu Grunde richtet, der Literatur im allgemeinen günstig sein?«

»Die Extreme und Auswüchse, die ich bezeichnet habe,« erwiederte Goethe, »werden nach und nach verschwinden, aber zuletzt wird der sehr große Vortheil bleiben, daß man neben einer freiern Form auch einen reichern, verschiedenartigern Inhalt wird erreicht haben und man keinen Gegenstand der breitesten Welt und des mannigfaltigsten Lebens als unpoetisch mehr wird ausschließen. Ich vergleiche die jetzige literarische Epoche dem Zustande eines heftigen Fiebers, das zwar an sich nicht gut und wünschenswerth ist, aber eine bessere Gesundheit als heitere Folge hat. Dasjenige wirklich Verruchte, was jetzt oft den ganzen Inhalt eines poetischen Werks ausmacht, wird künftig nur als wohlthätiges Ingrediens eintreten, ja, man wird das augenblicklich verbannte durchaus Reine und Edle bald mit desto größerm Verlangen wieder hervorsuchen.«

»Es ist mir auffallend,« bemerkte ich, »daß auch[247] Mérimée, der doch zu Ihren Lieblingen gehört, durch die abscheulichen Gegenstände seiner ›Guzla‹ gleichfalls jene ultraromantische Bahn betreten hat.«

»Mérimée,« erwiederte Goethe, »hat diese Dinge ganz anders tractirt als seine Mitgesellen. Es fehlt freilich diesen Gedichten nicht an allerlei schauerlichen Motiven von Kirchhöfen, nächtlichen Kreuzwegen, Gespenstern und Vampyren, allein alle diese Widerwärtigkeiten berühren nicht das Innere des Dichters, er behandelt sie vielmehr aus einer gewissen objectiven Ferne und gleichsam mit Ironie. Er geht dabei ganz zu Werke wie ein Künstler, dem es Spaß macht, auch einmal so etwas zu versuchen. Er hat sein eigenes Innere, wie gesagt, dabei gänzlich verleugnet, ja er hat dabei sogar den Franzosen verleugnet, und zwar so sehr, daß man diese Gedichte der ›Guzla‹ anfänglich für wirklich illyrische Volksgedichte gehalten, und also nur wenig gefehlt hat, daß ihm die beabsichtigte Mystification gelungen wäre.

Mérimée,« fuhr Goethe fort, »ist freilich ein ganzer Kerl; wie denn überhaupt zum objectiven Behandeln eines Gegenstandes mehr Kraft und Genie gehört als man denkt. So hat auch Byron trotz seiner Stark vorwaltenden Persönlichkeit zuweilen die Kraft gehabt, sich gänzlich zu verleugnen, wie dies an einigen seiner dramatischen Sachen und besonders an seinem ›Marino Faliero‹ zu sehen. Bei diesem Stück vergißt man ganz, daß Byron, ja daß ein Engländer es geschrieben.[248] Wir leben darin ganz und gar zu Venedig und ganz und gar in der Zeit, in der die Handlung vorgeht. Die Personen reden ganz aus sich selber und aus ihrem eigenen Zustande heraus, ohne etwas von subjectiven Gefühlen, Gedanken und Meinungen des Dichters an sich zu haben. Daß ist die rechte Art. Von unsern jungen französischen Romantikern der übertriebenen Sorte ist das freilich nicht zu rühmen. Was ich auch von ihnen gelesen: Gedichte, Romane, dramatische Arbeiten, es trug alles die persönliche Farbe des Autors, und es machte mich nie vergessen, daß ein Pariser, daß ein Franzose es geschrieben; ja selbst bei behandelten ausländischen Stoffen blieb man doch immer in Frankreich und Paris, durchaus befangen in allen Wünschen, Bedürfnissen, Conflicten und Gährungen des augenblicklichen Tages.«

»Auch Béranger,« warf ich versuchend ein, »hat nur Zustände der großen Hauptstadt und nur sein eigenes Innere ausgesprochen.«

»Das ist auch ein Mensch danach,« erwiederte Goethe, »dessen Darstellung und dessen Inneres etwas werth ist. Bei ihm findet sich der Gehalt einer bedeutenden Persönlichkeit. Béranger ist eine durchaus glücklich begabte Natur, fest in sich selber begründet, rein aus sich selber entwickelt und durchaus mit sich selber in Harmonie. Er hat nie gefragt: Was ist an der Zeit? was wirkt? was gefällt? und Was machen die andern? damit er es ihnen nachmache. Er hat[249] immer nur aus dem Kern seiner eigenen Natur heraus gewirkt, ohne sich zu bekümmern was das Publicum oder was diese oder jene Partei erwarte. Er hat freilich in verschiedenen bedenklichen Epochen nach den Stimmungen, Wünschen und Bedürfnissen des Volks hingehorcht, allein das hat ihn nur in sich selber befestigt, indem es ihm sagte, daß sein eigenes Innere mit dem des Volks in Harmonie stand, aber es hat ihn nie verleitet, etwas anderes auszusprechen, als was bereits in seinem eigenen Herzen lebte.

Sie wissen, ich bin im ganzen kein Freund von sogenannten politischen Gedichten, allein solche wie Béranger sie gemacht hat, lasse ich mir gefallen. Es ist bei ihm nichts aus der Luft gegriffen, nichts von bloß imaginirten oder imaginären Interessen, er schießt nie ins Blaue hinein, vielmehr hat er stets die entschiedensten und zwar immer bedeutende Gegenstände. Seine liebende Bewunderung Napoleon's und das Zurückdenken an die großen Waffenthaten, die unter ihm geschehen, und zwar zu einer Zeit, wo diese Erinnerung den etwas gedrückten Franzosen ein Trost war; dann sein Haß gegen die Herrschaft der Pfaffen und gegen die Verfinsterung, die mit den Jesuiten wieder einzubrechen droht: das sind denn doch Dinge, denen man wohl seine völlige Zustimmung nicht versagen kann. Und wie meisterhaft ist bei ihm die jedesmalige Behandlung! Wie wälzt und rundet er den Gegenstand in seinem Innern, ehe er ihn ausspricht![250] Und dann, wenn alles reif ist, welcher Witz, Geist, Ironie und Persiflage, und welche Herzlichkeit, Naivetät und Grazie werden nicht von ihm bei jedem Schritte entfaltet! Seine Lieder haben jahraus jahrein Millionen froher Menschen gemacht, sie sind durchaus mundrecht auch für die arbeitende Classe, während sie sich über das Niveau des Gewöhnlichen so sehr erheben, daß das Volk im Umgange mit diesen anmuthigen Geistern gewöhnt und genöthigt wird, selbst edler und besser zu denken. Was wollen Sie mehr? Und was läßt sich überhaupt Besseres von einem Poeten rühmen?«

»Er ist vortrefflich, ohne Frage,« erwiederte ich. »Sie wissen selbst, wie sehr ich ihn seit Jahren liebe; auch können Sie denken, wie wohl es mir thut, Sie so über ihn reden zu hören. Soll ich aber sagen, welche von seinen Liedern ich vorziehe, so gefallen mir denn doch seine Liebesgedichte besser als seine politischen, bei denen mir ohnehin die speciellen Bezüge und Anspielungen nicht immer deutlich sind.«

»Das ist Ihre Sache,« erwiederte Goethe; »auch sind die politischen gar nicht für Sie geschrieben; fragen Sie aber die Franzosen, und sie werden Ihnen sagen, was daran Gutes ist. Ein politisches Gedicht ist überhaupt im glücklichsten Falle immer nur als Organ einer einzelnen Nation, und in den meisten Fällen nur als Organ einer gewissen Partei zu betrachten, aber von dieser Nation und dieser Partei wird es auch,[251] wenn es gut ist, mit Enthusiasmus ergriffen werden. Auch ist ein politisches Gedicht immer nur als Product eines gewissen Zeitzustandes anzusehen, der aber freilich vorübergeht und dem Gedicht für die Folge denjenigen Werth nimmt, den es vom Gegenstande hat. Béranger hatte übrigens gut machen! Paris ist Frankreich, alle bedeutenden Interessen seines großen Vaterlandes concentriren sich in der Hauptstadt und haben dort ihr eigentliches Leben und ihren eigentlichen Widerhall. Auch ist er in den meisten seiner politischen Lieder keineswegs als bloßes Organ einer einzelnen Partei zu betrachten, vielmehr sind die Dinge, denen er entgegenwirkt, größtentheils von so allgemein nationalem Interesse, daß der Dichter fast immer als große Volksstimme vernommen wird. Bei uns in Deutschland ist dergleichen nicht möglich. Wir haben keine Stadt, ja wir haben nicht einmal ein Land, von dem wir entschieden sagen könnten: hier ist Deutschland. Fragen wir in Wien, so heißt es, hier ist Österreich; und fragen wir in Berlin, so heißt es, hier ist Preußen. Bloß vor sechzehn Jahren, als wir endlich die Franzosen los sein wollten, war Deutschland überall; hier hätte ein politischer Dichter allgemein wirken können. Allein es bedurfte seiner nicht. Die allgemeine Noth und das allgemeine Gefühl der Schmach hatte die Nation als etwas Dämonisches ergriffen; das begeisterte Feuer, das der Dichter hätte entzünden können, brannte bereits überall von selber.[252] Doch will ich nicht leugnen, daß Arndt, Körner und Rückert einiges gewirkt haben.«

»Man hat Ihnen vorgeworfen,« bemerkte ich etwas unvorsichtig, »daß Sie in jener großen Zeit nicht auch die Waffen ergriffen, oder wenigstens nicht als Dichter eingewirkt haben.«

»Lassen wir das, mein Guter!« erwiederte Goethe. »Es ist eine absurde Welt, die nicht weiß was sie will, und die man muß reden und gewähren lassen. Wie hätte ich die Waffen ergreifen können ohne Haß! Und wie hätte ich hassen können ohne Jugend! Hätte jenes Ereigniß mich als einen Zwanzigjährigen getroffen, so wäre ich sicher nicht der letzte geblieben, allein es fand mich als einen, der bereits über die ersten Sechzig hinaus war.

Auch können wir dem Vaterlande nicht auf gleiche Weise dienen, sondern jeder thut sein Bestes, je nachdem Gott es ihm gegeben. Ich habe es mir ein halbes Jahrhundert lang sauer genug werden lassen. Ich kann sagen, ich habe in den Dingen, die die Natur mir zum Tagewerk bestimmt, mir Tag und Nacht keine Ruhe gelassen und mir keine Erholung gegönnt, sondern immer gestrebt und geforscht und gethan, so gut und so viel ich konnte. Wenn jeder von sich dasselbe sagen kann, so wird es um alle gut stehen.«

»Im Grunde,« versetzte ich begütigend, »sollte Sie jener Vorwurf nicht verdrießen, vielmehr könnten Sie sich darauf etwas einbilden; denn was will das anders[253] sagen, als daß die Meinung der Welt von Ihnen so groß ist, daß sie verlangt, daß derjenige, der für die Cultur seiner Nation mehr gethan als irgend ein anderer, nun endlich alles hätte thun sollen.«

»Ich mag nicht sagen, wie ich denke,« erwiederte Goethe. »Es versteckt sich hinter jenem Gerede mehr böser Wille gegen mich, als Sie Wissen. Ich fühle darin eine neue Form des alten Hasses, mit dem man mich seit Jahren verfolgt und mir imstillen beizukommen sucht. Ich weiß recht gut, ich bin vielen ein Dorn im Auge, sie wären mich alle sehr gern los, und da man nun an meinem Talent nicht rühren kann, so will man an meinen Charakter. Bald soll ich stolz sein, bald egoistisch, bald voller Neid gegen junge Talente, bald in Sinnenlust versunken, bald ohne Christenthum, und nun endlich gar ohne Liebe zu meinem Vaterlande und meinen lieben Deutschen. Sie kennen mich nun seit Jahren hinlänglich und fühlen was an all dem Gerede ist. Wollen Sie aber wissen, was ich gelitten habe, so lesen Sie meine ›Xenien‹, und es wird Ihnen aus meinen Gegenwirkungen klar werden, womit man mir abwechselnd das Leben zu verbittern gesucht hat.

Ein deutscher Schriftsteller – ein deutscher Märtyrer! Ja, mein Guter! Sie werden es nicht anders finden. Und ich selbst kann mich kaum beklagen; es ist allen andern nicht besser gegangen, den meisten sogar schlechter, und in England und Frankreich ganz wie[254] bei uns. Was hat nicht Molière zu leiden gehabt, und was nicht Rousseau und Voltaire! Byron ward durch die bösen Zungen aus England getrieben und würde zuletzt ans Ende der Welt geflohen sein, wenn ein früher Tod ihn nicht den Philistern und ihrem Haß enthoben hätte.

Und wenn noch die bornirte Masse höhere Menschen verfolgte! Nein, ein Begabter und ein Talent verfolgt das andere. Platen ärgert Heine, und Heine Platen, und jeder sucht den andern schlecht und verhaßt zu machen, da doch zu einem friedlichen Hinleben und Hinwirken die Welt groß und weit genug ist und jeder schon an seinem eigenen Talent einen Feind hat, der ihm hinlänglich zu schaffen macht!

Kriegslieder schreiben und im Zimmer sitzen – das wäre meine Art gewesen! Aus dem Bivouac heraus, wo man nachts die Pferde der feindlichen Vorposten wiehern hört, da hätte ich es mir gefallen lassen. Aber das war nicht mein Leben und nicht meine Sache, sondern die von Theodor Körner. Ihn kleiden seine Kriegslieder auch ganz vollkommen. Bei mir aber, der ich keine kriegerische Natur bin und keinen kriegerischen Sinn habe, würden Kriegslieder eine Maske gewesen sein, die mir sehr schlecht zu Gesicht gestanden hätte.

Ich habe in meiner Poesie nie affectirt. Was ich nicht lebte und was mir nicht auf die Nägel brannte und zu schaffen machte, habe ich auch nicht[255] gedichtet und ausgesprochen. Liebesgedichte habe ich nur gemacht wenn ich liebte. Wie hätte ich nun Lieder des Hasses schreiben können ohne Haß! Und, unter uns, ich haßte die Franzosen nicht, wiewohl ich Gott dankte, als wir sie los waren. Wie hätte auch ich, dem nur Cultur und Barbarei Dinge von Bedeutung sind, eine Nation hassen können, die zu den cultivirtesten der Erde gehört und der ich einen so großen Theil meiner eigenen Bildung verdankte!

Überhaupt,« fuhr Goethe fort, »ist es mit dem Nationalhaß ein eigenes Ding. Auf den untersten Stufen der Cultur werden Sie ihn immer am stärksten und heftigsten finden. Es giebt aber eine Stufe, wo er ganz verschwindet und wo man gewissermaßen über den Nationen steht, und man ein Glück oder ein Wehe seines Nachbarvolks empfindet als wäre es dem eigenen begegnet. Diese Culturstufe war meiner Natur gemäß, und ich hatte mich darin lange befestigt, ehe ich mein sechzigstes Jahr erreicht hatte.«[256]


1277.*


1830, 15. März.


Mit Friedrich Soret

Abends ein Stündchen bei Goethe. Er sprach viel über Jena und die Einrichtungen und Verbesserungen, die er in den verschiedenen Branchen der Universität zu Stande gebracht. Für Chemie, Botanik und Mineralogie,[256] die früher nur insoweit sie zur Pharmacie gehörig behandelt worden, habe er besondere Lehrstühle eingeführt. Vor allem sei für das Naturwissenschaftliche Museum und die Bibliothek von ihm manches Gute bewirkt worden.

Bei dieser Gelegenheit erzählte er mir abermals mit vielem Selbstbehagen und guter Laune die Geschichte seiner gewaltsamen Besitzergreifung eines an die Bibliothek grenzenden Saales, den die medicinische Facultät innegehabt, aber nicht habe hergeben wollen.

»Die Bibliothek,« sagte er, »befand sich in einem sehr schlechten Zustande. Das Local war feucht und enge und bei weitem nicht geeignet, seine Schätze gehörigerweise zu fassen, besonders seit durch den Ankauf der Büttner'schen Bibliothek von seiten des Großherzogs abermals 13000 Bände hinzugekommen waren, die in großen Haufen am Boden umherlagen, weil es, wie gesagt, an Raum fehlte, sie gehörig zu placiren. Ich war wirklich dieserhalb in einiger Noth. Man hätte zu einem neuen Anbau schreiten müssen, allein dazu fehlten die Mittel; auch konnte ein neuer Anbau noch recht gut vermieden werden, indem unmittelbar an die Räume der Bibliothek ein großer Saal grenzte, der leer stand und ganz geeignet war allen unsern Bedürfnissen auf das herrlichste abzuhelfen. Allein dieser Saal war nicht im Besitz der Bibliothek, sondern im Gebrauch der Facultät der Mediciner, die ihn mitunter zu ihren Konferenzen benutzten. Ich wendete mich also[257] an diese Herren mit der sehr höflichen Bitte, mir diesen Saal für die Bibliothek abzutreten. Dazu aber wollten die Herren sich nicht verstehen; allenfalls seien sie geneigt nachzugeben, wenn ich ihnen für den Zweck ihrer Konferenzen einen neuen Saal wolle bauen lassen, und zwar sogleich. Ich erwiederte ihnen, daß ich sehr bereit sei ein anderes Local für sie herrichten zu lassen, daß ich aber einen sofortigen Neubau nicht versprechen könne. Diese meine Antwort schien aber den Herren nicht genügt zu haben; denn als ich am andern Morgen hinschickte, um mir den Schlüssel ausbitten zu lassen, hieß es: er sei nicht zu finden.

Da blieb nun weiter nichts zu thun, als eroberungsweise einzuschreiten. Ich ließ also einen Maurer kom men und führte ihn in die Bibliothek vor die Wand des angrenzenden gedachten Saales. ›Diese Mauer, mein Freund,‹ sagte ich, ›muß sehr dick sein; denn sie trennt zwei verschiedene Wohnungspartien: versuchet doch einmal und prüfet, wie stark sie ist.‹ Der Maurer schritt zu Werke, und kaum hatte er fünf bis sechs herzhafte Schläge gethan, als Kalk und Backsteine fielen und man durch die entstandene Öffnung schon einige ehrwürdige Perrücken herdurchschimmern sah, womit man den Saal decorirt hatte. ›Fahret nur fort, mein Freund,‹ sagte ich, ›ich sehe noch nicht hell genug. Genirt Euch nicht und thut ganz als ob Ihr zu Hause wäret.‹ Diese freundliche Ermunterung wirkte auf den Maurer so belebend, daß die Öffnung bald[258] groß genug ward, um vollkommen als Thür zu gelten, worauf denn meine Bibliotheksleute in den Saal drangen, jeder mit einem Arm voll Bücher, die sie als Zeichen der Besitzergreifung auf den Boden warfen. Bänke, Stühle und Pulte verschwanden in einem Augenblick, und meine Getreuen hielten sich so rasch und thätig dazu, daß schon in wenigen Tagen sämmtliche Bücher in ihren Reposituren in schönster Ordnung an den Wänden umherstanden. Die Herren Mediciner, die bald darauf durch ihre gewohnte Thür in corpore in den Saal traten, waren ganz verblüfft, eine so große und unerwartete Verwandlung zu finden. Sie wußten nicht, was sie sagen sollten, und zogen sich still wieder zurück, aber sie bewahrten mir alle einen heimlichen Groll. Doch wenn ich sie einzeln sehe, und besonders wenn ich einen oder den andern von ihnen bei mir zu Tische habe, so sind sie ganz charmant und meine sehr lieben Freunde. Als ich dem Großherzog den Verlauf dieses Abenteuers erzählte, das freilich mit seinem Einverständniß und seiner völligen Zustimmung eingeleitet war, amusirte es ihn königlich, und wir haben später recht oft darüber gelacht.«

Goethe war in sehr guter Laune und glücklich in diesen Erinnerungen. »Ja, mein Freund,« fuhr er fort, »man hat seine Noth gehabt, um gute Dinge durchzusetzen. Später, als ich wegen großer Feuchtigkeit der Bibliothek einen schädlichen Theil der ganz nutzlosen alten Stadtmauer wollte abreißen und hinwegräumen[259] lassen, ging es mir nicht besser. Meine Bitten, guten Gründe und vernünftigen Vorstellungen fanden kein Gehör, und ich mußte auch hier endlich eroberungsweise zu Werke gehen. Als nun die Herren der Stadtverwaltuug meine Arbeiter an ihrer alten Mauer im Werke sahen, schickten sie eine Deputation an den Großherzog, der sich damals in Dornburg aufhielt, mit der ganz unterthänigen Bitte, daß es doch Sr. Hoheit gefallen möge, durch ein Machtwort wir in dem gewaltsamen Einreißen ihrer alten ehrwürdigen Stadtmauer Einhalt zu thun. Aber der Großherzog, der mich auch zu diesem Schritte heimlich autorisirt hatte, antwortete sehr weise: ›Ich mische mich nicht in Goethes Angelegenheiten. Er weiß schon was er zu thun hat, und muß sehen wie er zurechtkommt. Geht doch hin und sagt es ihm selbst, wenn ihr die Courage habt!‹

Es ließ sich aber niemand bei mir blicken,« fügte Goethe lachend hinzu; »ich fuhr fort von der alten Mauer niederreißen zu lassen, was mir im Wege stand, und hatte die Freude, meine Bibliothek endlich trocken zu sehen.«[260]


1278.*


1830, 16. März.


Mit Johann Peter Eckermann

Morgens besucht mich Herr von Goethe und eröffnet mir, daß seine lange beabsichtigte Reise nach[260] Italien entschieden, daß von seinem Vater die nöthigen Gelder bewilligt worden, und daß er wünsche, daß ich mitgehe. Wir freuen uns gemeinschaftlich über diese Nachricht und bereden viel wegen der Vorbereitung.

Als ich darauf gegen Mittag bei Goethes Hause vorbeigehe, winkt Goethe mir am Fenster, und ich bin schnell zu ihm hinauf. Er ist in den vordern Zimmern und sehr heiter und frisch. Er fängt sogleich an von der Reise seines Sohnes zu reden, daß er sie billige, sie vernünftig finde, und sich freue, daß ich mitgehe. »Es wird für euch beide gut sein,« sagte er, »und Ihre Cultur insbesondere wird sich nicht schlecht dabei befinden.«

Er zeigt mir sodann einen Christus mit zwölf Aposteln, und wir reden über das Geistlose solcher Figuren als Gegenstände der Darstellung für den Bildhauer. »Der eine Apostel,« sagte Goethe, »ist immer ungefähr wie der andere, und die wenigsten haben Leben und Thaten hinter sich, um ihnen Charakter und Bedeutung zu geben. Ich habe mir bei dieser Gelegenheit den Spaß gemacht, einen Cyklus von zwölf biblischen Figuren zu erfinden, wo jede bedeutend, jede anders, und daher jede ein dankbarer Gegenstand für den Künstler ist.

Zuerst Adam, der schönste Mann, so vollkommen wie man sich ihn nur zu denken fähig ist. Er mag die eine Hand auf einen Spaten legen, als ein Symbol, daß der Mensch berufen sei die Erde zu bauen.

[261] Nach ihm Noah, womit wieder eine neue Schöpfung angeht. Er cultivirt den Weinstock, und man kann dieser Figur etwas von einem indischen Bacchus geben.

Nächst diesem Moses, als erster Gesetzgeber.

Sodann David, als Krieger und König.

Auf diesen Jesaias, ein Fürst und Prophet.

Daniel sodann, der auf Christus, den künftigen, hindeutet.

Christus.

Ihm zunächst Johannes, der den gegenwärtigen liebt. Und so wäre denn Christus von zwei jugendlichen Figuren eingeschlossen, von denen der eine (Daniel) sanft und mit langen Haaren zu bilden wäre, der andere (Johannes) leidenschaftlich, mit kurzem Lockenhaar. Nun, auf den Johannes wer kommt?

Der Hauptmann von Kapernaum, als Repräsentant der Gläubigen, eine unmittelbare Hilfe Erwartenden.

Auf diesen die Magdalena, als Symbol der reuigen, der Vergebung bedürfenden, der Besserung sich zuwendenden Menschheit. In welchen beiden Figuren der Inbegriff des Christenthums enthalten wäre.

Dann mag Paulus folgen, welcher die Lehre am kräftigsten verbreitet hat.

Auf diesen Jacobus, der zu den entferntesten Völkern ging und die Missionare repräsentirt.

Petrus machte den Schluß. Der Künstler müßte[262] ihn in die Nähe der Thür stellen und ihm einen Ausdruck geben als ob er die Hereintretenden forschend betrachte, ob sie denn auch werth seien, das Heiligthum zu betreten.

Was sagen Sie zu diesem Cyklus? Ich dächte, er wäre reicher als die zwölf Apostel, wo jeder aussieht wie der andere. Den Moses und die Magdalene würde ich sitzend bilden.«

Ich war sehr glücklich, dieses alles zu hören, und bat Goethe, daß er es zu Papier bringen möge, welches er mir versprach. »Ich will es noch alles durchdenken,« sagte er, »und es dann nebst andern neuesten Dingen Ihnen zum neununddreißigsten Bande geben.«[263]


1279.*


1830, 17. März.


Mit Johann Peter Eckermann

Mit Goethe zu Tische. Ich sprach mit ihm über eine Stelle in seinen Gedichten, ob es heißen müsse: ›Wie es dein Priester Horaz in der Entzückung verhieß‹, wie in allen ältern Ausgaben steht; oder: ›Wie es dein Priester Properz u.s.w.,‹ welches die neue Ausgabe hat.

»Zu dieser letztern Lesart,« sagte Goethe, »habe ich mich durch Göttling verleiten lassen. Priester Properz klingt zudem schlecht, und ich bin daher für die frühere Lesart.«

[263] »So,« sagte ich, »stand auch in dem Manuscript Ihrer ›Helena‹, daß Theseus sie entführet als ein zehnjährig schlankes Reh. Auf Göttling's Einwendungen dagegen haben Sie nun drucken lassen: ein siebenjährig schlankes Reh, welches gar zu jung ist, sowohl für das schöne Mädchen als für die Zwillingsbrüder Kastor und Pollux, die sie befreien. Das Ganze liegt ja so in der Fabelzeit, daß niemand sagen kann wie alt sie eigentlich war, und zudem ist die ganze Mythologie so versatil, daß man die Dinge brauchen kann wie es am bequemsten und hübschesten ist.«

»Sie haben Recht,« sagte Goethe; »ich bin auch dafür, daß sie zehn Jahre alt gewesen sei, als Theseus sie entführte, und ich habe daher auch später geschrieben: vom zehnten Jahre an hat sie nichts getaugt. In der künftigen Ausgabe mögt Ihr daher aus dem siebenjährigen Reh immer wieder ein zehnjähriges machen.«

Zum Nachtisch zeigte Goethe mir zwei frische Hefte von Neureuther nach seinen Balladen, und wir bewunderten vor allem den freien heitern Geist des liebenswürdigen Künstlers.[264]


1280.*


1830, 17. März.


Mit Friedrich Soret

und Friedrich Wilhelm Riemer

Abends einpaar Stündchen bei Goethe. Ich brachte ihm im Auftrage der Frau Großfürstin ›Gemma von[264] Art‹ [von Bornhauser] zurück und äußerte gegen ihn über dieses Stück alles Gute, was ich darüber in Gedanken hatte. »Ich freue mich immer,« erwiederte er, »wenn etwas hervorgebracht worden, das in der Erfindung neu ist und überall den Stempel des Talents trägt.« Darauf, indem er den Band zwischen beide Hände nahm und ihn ein wenig von der Seite ansah, fügte er hinzu: »Aber es will mir nie recht gefallen, wenn ich sehe, daß dramatische Schriftsteller Stücke machen, die durchaus zu lang sind, um so gegeben werden zu können, wie sie geschrieben. Diese Unvollkommenheit nimmt mir die Hälfte des Vergnügens, das ich sonst darüber empfinden würde. Sehen Sie nur, was ›Gemma von Art‹ für ein dicker Band ist.«

»Schiller,« erwiederte ich, »hat es nicht viel besser gemacht, und doch ist er ein sehr großer dramatischer Schriftsteller.«

»Auch er hat freilich darin gefehlt,« erwiederte Goethe. »Besonders seine ersten Stücke, die er in der ganzen Fülle der Jugend schrieb, wollen gar kein Ende nehmen. Er hatte zu viel auf dem Herzen und zu viel zu sagen, als daß er es hätte beherrschen können. Später, als er sich dieses Fehlers bewußt war, gab er sich unendliche Mühe und suchte ihn durch Studium und Arbeit zu überwinden, aber es hat ihm damit nie recht gelingen wollen. Seinen Gegenstand gehörig beherrschen und sich vom Leibe zu halten, und sich nur auf durchaus Nothwendige zu concentriren, erfordert[265] freilich die Kräfte eines poetischen Riesen und ist schwerer als man denkt.«

Hofrath Riemer ließ sich melden und trat herein. Ich schickte mich an zu gehen, weil ich wußte, daß es der Abend war, wo Goethe mit Riemer zu arbeiten pflegt, allein Goethe bat mich zu bleiben, welches ich denn sehr gern that und wodurch ich Zeuge einer Unterhaltung wurde voll Übermuth, Ironie und mephistophelischer Laune vonseiten Goethes.

»Da ist der Sömmerring gestorben,« fing Goethe an, »kaum elende fünfundsiebzig Jahre alt. Was doch die Menschen für Lumpe sind, daß sie nicht die Courage haben, länger auszuhalten als das! Da lobe ich mir meinen Freund Bentham, diesen höchst radicalen Narren: er hält sich gut, und doch ist er noch einige Wochen älter als ich.«

»Man könnte hinzufügen,« erwiederte ich, »daß er Ihnen noch in einem andern Punkte gleicht, denn er arbeitet noch immer mit der ganzen Thätigkeit der Jugend.«

»Das mag sein,« erwiederte Goethe; »aber wir befinden uns an den beiden entgegengesetzten Enden der Kette: er will niederreißen, und ich möchte erhalten und aufbauen. In seinem Alter so radical zu sein, ist der Gipfel aller Tollheit.«

»Ich denke,« entgegnete ich, »man muß zwei Arten von Radicalismus unterscheiden. Der eine, um künftig aufzubauen, will vorher reine Bahn machen und alles[266] niederreißen, während der andere sich begnügt, auf die schwachen Partien und Fehler einer Staatsverwaltung hinzudeuten, in Hoffnung, das Gute zu erreichen ohne die Anwendung gewaltsamer Mittel. In England geboren, würden Sie dieser letzten Art sicher nicht entgangen sein.«

»Wofür halten Sie mich?« erwiederte Goethe, der nun ganz die Miene und den Ton seines Mephisto annahm. »Ich hätte sollen Mißbräuchen nachspüren, und noch obendrein sie aufdecken und sie namhaft machen, ich, der ich in England von Mißbräuchen würde gelebt haben? In England geboren, wäre ich ein reicher Herzog gewesen, oder vielmehr ein Bischof mit jährlichen 30000 Pfund Sterling Einkünfte.«

»Recht hübsch,« erwiederte ich; »aber wenn sie zu fällig nicht das große Loos, sondern eine Niete gezogen hätten? Es giebt so unendlich viele Nieten.«

»Nicht jeder, mein Allerbester,« erwiederte Goethe, »ist für das große Loos gemacht. Glauben Sie denn, daß ich die Sottise begangen haben würde, auf eine Niete zu fallen? Ich hätte vor allen Dingen die Partie der 39 Artikel [der anglicanischen Kirche] ergriffen, ich hätte sie nach allen Seiten und Richtungen hin verfochten, besonders den Artikel 9 [über die Rechte und Bezüge der Bischöfe], der für mich ein Gegenstand einer ganz besondern Aufmerksamkeit und zärtlichen Hingebung gewesen sein würde. Ich hätte in Reimen und Prosa so lange und so viel geheuchelt und gelogen, daß[267] meine 30000 Pfund jährlich mir nicht hätten entgehen sollen. Und dann, einmal zu dieser Höhe gelangt, würde ich nichts unterlassen haben mich oben zu erhalten. Besonders würde ich alles gethan haben, die Nacht der Unwissenheit womöglich noch finsterer zu machen. O wie hätte ich die gute einfältige Masse cajolieren wollen, und wie hätte ich die liebe Schuljugend wollen zurichten lassen, damit ja niemand hätte wahrnehmen, ja nicht einmal den Muth hätte haben sollen zu bemerken, daß mein glänzender Zustand auf der Basis der schändlichsten Mißbräuche fundirt sei!«

»Bei Ihnen,« versetzte ich, »hätte man doch wenigstens den Trost gehabt, zu denken, daß Sie durch ein vorzügliches Talent zu solcher Höhe gelangt, in England aber sind oft gerade die Dümmsten und Unfähigsten im Genuß der höchsten irdischen Güter, die sie keineswegs dem eigenen Verdienst, sondern der Protection, dem Zufall und vor allem der Geburt zu verdanken haben.«

»Im Grunde,« erwiederte Goethe, »ist es gleichviel, ob einem die glänzenden Güter der Erde durch eigene Eroberung, oder durch Erbschaft zugefallen. Die ersten Besitzergreifer waren doch auf jeden Fall Leute von Genie, welche die Unwissenheit und Schwäche der andern sich zu Nutze machten. Die Welt ist so voller Schwachköpfe und Narren, daß man nicht nöthig hat sie im Tollhause zu suchen. Hierbei fällt mir ein, daß der verstorbene Großherzog, der meinen Widerwillen gegen[268] Tollhäuser kannte, mich durch List und Überraschung einst in ein solches einführen wollte. Ich roch aber den Braten noch zeitig genug und sagte ihm, daß ich keineswegs ein Bedürfniß verspüre, auch noch diejenigen Narren zu sehen, die man einsperre, vielmehr schon an denen vollkommen genug habe, die frei umhergehen. ›Ich bin sehr bereit‹, sagte ich, ›Euer Hoheit, wenn es sein muß, in die Hölle zu folgen, aber nur nicht in die Tollhäuser.‹

O welch ein Spaß würde es für mich sein, die 39 Artikel auf meine Weise zu tractiren und die einfältige Masse in Erstaunen zu setzen!«

»Auch ohne Bischof zu sein,« sagte ich, »könnten Sie sich dieses Vergnügen machen.«

»Nein,« erwiederte Goethe, »ich werde mich ruhig verhalten; man muß sehr gut bezahlt sein, um so zu lügen. Ohne Aussicht auf die Bischofsmütze und meine 30000 Pfund jährlich könnte ich mich nicht dazu verstehen. Übrigens habe ich schon ein Pröbchen in diesem Genre abgelegt. Ich habe als sechzehnjähriger Knabe ein dithyrambisches Gedicht über die Höllenfahrt Christi geschrieben, das sogar gedruckt aber nicht bekannt geworden, und das erst in diesen Tagen mir wieder in die Hände kommt. Das Gedicht ist voll orthodoxer Borniertheit und wird mir als herrlicher Paß in den Himmel dienen. Nicht wahr, Riemer, Sie kennen es?«

»Nein, Excellenz,« erwiederte Riemer, »ich kenne es nicht, aber ich erinnere mich, daß Sie im ersten[269] Jahre nach meiner Ankunft schwer krank waren und in Ihrem Phantasiren miteinemmale die schönsten Verse über denselbigen Gegenstand recitirten. Es waren dies ohne Zweifel Erinnerungen aus jenem Gedicht Ihrer frühen Jugend.«

»Die Sache ist sehr wahrscheinlich,« sagte Goethe. »Es ist mir ein Fall bekannt, wo ein alter Mann geringen Standes, der in den letzten Zügen lag, ganz unerwartet die schönsten griechischen Sentenzen recitirte. Man war vollkommen überzeugt, daß dieser Mann kein Wort griechisch verstehe, und schrie daher Wunder über Wunder, ja die Klugen fingen schon an aus dieser Leichtgläubigkeit der Thoren Vortheil zu ziehen, als man unglücklicherweise entdeckte, daß jener Alte in seiner frühen Jugend war genöthigt worden allerlei griechische Sprüche auswendig zu lernen, und zwar in Gegenwart eines Knaben von hoher Familie, den man durch sein Beispiel anzuspornen trachtete. Er hatte jenes wirklich classische Griechisch ganz maschinenmäßig gelernt, ohne es zu verstehen, und hatte seit funfzig Jahren nicht wieder daran gedacht, bis endlich in seiner letzten Krankheit jener Wortkram mit einemmale wieder anfing sich zu regen und lebendig zu werden.«

Goethe kam darauf mit derselbigen Malice und Ironie nochmals auf die enorme Besoldung der englischen hohen Geistlichkeit zurück, und erzählte sodann sein Abenteuer mit dem Lord Bristol, Bischof von Derry.

»Lord Bristol,« sagte Goethe, »kam durch Jena,[270] wünschte meine Bekanntschaft zu machen, und veranlaßte mich ihn eines Abends zu besuchen. Er gefiel sich darin, gelegentlich grob zu sein; wenn man ihm aber ebenso grob entgegentrat, so war er ganz tractabel. Er wollte mir im Laufe unsers Gesprächs eine Predigt über den ›Werther‹ halten und es mir ins Gewissen schieben, daß ich dadurch die Menschen zum Selbstmord verleitet habe. ›Der ›Werther‹‹, sagte er, ›ist ein ganz unmoralisches, verdammungswürdiges Buch!‹ – Halt! rief ich. Wenn Ihr so über den armen ›Werther‹ redet, welchen Ton wollt Ihr denn gegen die Großen dieser Erde anstimmen, die durch einen einzigen Federzug hunderttausend Menschen ins Feld schicken, wovon achtzigtausend sich tödten und sich gegenseitig zu Mord, Brand und Plünderung anreizen. Ihr danket Gott nach solchen Greueln und singet ein Tedeum darauf! Und ferner, wenn Ihr durch Eure Predigten über die Schrecken der Höllenstrafen die schwachen Seelen Eurer Gemeinden ängstigt, sodaß sie darüber den Verstand verlieren und ihr armseliges Dasein zuletzt in einem Tollhause endigen! Oder wenn Ihr durch manche Eurer orthodoxen, vor der Vernunft unhaltbaren Lehrsätze in die Gemüther Eurer christlichen Zuhörer die verderbliche Saat des Zweifels säet, sodaß diese halb starken, halb schwachen Seelen in einem Labyrinth sich verlieren, aus dem für sie kein Ausweg ist als der Tod! Was sagt Ihr da zu Euch selber, und welche Strafrede haltet Ihr Euch da? – Und nun wollt[271] Ihr einen Schriftsteller zur Rechenschaft ziehen und ein Werk verdammen, das, durch einige beschränkte Geister falsch aufgefaßt, die Welt höchstens von einem Dutzend Dummköpfen und Taugenichtsen befreit hat, die gar nichts Besseres thun konnten, als den schwachen Rest ihres bißchen Lichts vollends auszublasen! Ich dachte, ich hätte der Menschheit einen wirklichen Dienst geleistet und ihren Dank verdient, und nun kommt Ihr und wollt mir diese gute kleine Waffenthat zum Verbrechen machen, während ihr andern, ihr Priester und Fürsten, euch so Großes und Starkes erlaubt!

Dieser Ausfall that auf meinen Bischof eine herrliche Wirkung. Er ward so sanft wie ein Lamm und benahm sich von nun an gegen mich in unserer weitern Unterhaltung mit der größten Höflichkeit und dem feinsten Tact. Ich verlebte darauf mit ihm einen sehr guten Abend. Denn Lord Bristol, so grob er sein konnte, war ein Mann von Geist und Welt, und durchaus fähig in die verschiedenartigsten Gegenstände einzugehen. Bei meinem Abschied gab er mir das Geleit und ließ darauf durch seinen Abbé die Honneurs fortsetzen. Als ich mit diesem auf die Straße gelangt war, rief er mir zu: ›O, Herr von Goethe, wie vortrefflich haben Sie gesprochen, und wie haben Sie dem Lord gefallen und das Geheimniß verstanden, den Weg zu seinem Herzen zu finden! Mit etwas weniger Derbheit und Entschiedenheit würden Sie von Ihrem Besuch[272] sicher nicht so zufrieden nach Hause gehen, wie Sie es jetzt thun.‹«

»Sie haben wegen Ihres ›Werther‹ allerlei zu ertragen gehabt,« bemerkte ich. »Ihr Abenteuer mit Lord Bristol erinnert mich an Ihre Unterredung mit Napoleon über diesen Gegenstand. War nicht auch Talleyrand dabei?«

»Er war zugegen,« erwiederte Goethe. »Ich hatte mich jedoch über Napoleon nicht zu beklagen. Er war äußerst liebenswürdig gegen mich und tractirte den Gegenstand, wie es sich von einem so grandiosen Geiste erwarten ließ.«

Vom ›Werther‹ lenkte sich das Gespräch auf Romane und Schauspiele im allgemeinen und ihre moralische oder unmoralische Wirkung auf das Publicum. »Es müßte schlimm zugehen,« sagte Goethe, »wenn ein Buch unmoralischer wirken sollte als das Leben selber, das täglich der scandalösen Scenen im Überfluß, wo nicht vor unsern Augen, doch vor unsern Ohren entwickelt. Selbst bei Kindern braucht man wegen der Wirkungen eines Buches oder Theaterstücks keineswegs so ängstlich zu sein. Das tägliche Leben ist, wie gesagt, lehrreicher als das wirksamste Buch.«

»Aber doch,« bemerkte ich, »sucht man sich bei Kindern in Acht zu nehmen, daß man in ihrer Gegenwart nicht Dinge spricht, welche zu hören wir für sie nicht gut halten.«

»Das ist recht löblich,« erwiederte Goethe, »und ich[273] thue es selbst nicht anders, allein ich halte diese Vorsicht durchaus für unnütz. Die Kinder haben, wie die Hunde, einen so scharfen und feinen Geruch, daß sie alles entdecken und auswittern, und das Schlimme vor allem andern. Sie wissen auch immer ganz genau, wie dieser oder jener Hausfreund zu ihren Eltern steht, und da sie nun in der Regel noch keine Verstellung üben, so können sie uns als die trefflichsten Barometer dienen, um an ihnen den Grad unserer Gunst oder Ungunst bei den Ihrigen wahrzunehmen.

Man hatte einst in der Gesellschaft schlecht von mir gesprochen, und zwar erschien die Sache für mich von solcher Bedeutung, daß mir sehr viel daran liegen mußte, zu erfahren woher der Schlag kam. Im allgemeinen war man hier überaus wohlwollend gegen mich gesinnt; ich dachte hin und her und konnte gar nicht herausbringen, von wem jenes gehässige Gerede könne ausgegangen sein. Mit einemmale bekomme ich Licht. Es begegneten mir nämlich eines Tages in der Straße einige kleine Knaben meiner Bekanntschaft, die mich nicht grüßten, wie sie sonst zu thun pflegten. Dies war mir genug, und ich entdeckte auf dieser Fährte sehr bald, daß es ihre lieben Eltern waren, die ihre Zungen auf meine Kosten auf eine so arge Weise in Bewegung gesetzt hatten.«[274]


1281.*


1830, 20. März.


Mit Friedrich von Müller

»Was ist denn überhaupt am Leben? Man macht alberne Streiche, beschäftigt sich mit niederträchtigem Zeug, geht dumm auf's Rathhaus, klüger herunter, am andern Morgen noch dümmer hinauf.«[275]


1282.*


1830, 21. März.


Mit Johann Peter Eckermann

Mit Goethe zu Tische. Er spricht zunächst über die Reise seines Sohnes, und daß wir uns über den Erfolg keine zu große Illusion machen sollen. »Man kommt gewöhnlich zurück wie man gegangen ist,« sagte er, »ja man muß sich hüten, nicht mit Gedanken zurückzukommen, die später für unsere Zustände nicht passen. So brachte ich aus Italien den Begriff der schönen Treppen zurück, und ich habe dadurch offenbar mein Haus verdorben, indem dadurch die Zimmer alle kleiner ausgefallen sind als sie hätten sollen. Die Hauptsache ist, daß man lerne sich selbst zu beherrschen. Wollte ich mich ungehindert gehen lassen, so läge es wohl in mir, mich selbst und meine Umgebung zu Grunde zu richten.«

Wir sprachen sodann über krankhafte körperliche[275] Zustände und über die Wechselwirkung zwischen Körper und Geist.

»Es ist unglaublich,« sagte Goethe, »wie viel der Geist zur Erhaltung des Körpers vermag. Ich leide oft an Beschwerden des Unterleibs, allein der geistige Wille und die Kräfte des obern Theils halten mich im Gange. Der Geist muß nur dem Körper nicht nachgeben! So arbeite ich bei hohem Barometerstande leichter als bei tiefem; da ich nun dieses weiß, so suche ich bei tiefem Barometer durch größere Anstrengung die nachtheilige Einwirkung aufzuheben, und es gelingt mir.

In der Poesie jedoch lassen sich gewisse Dinge nicht zwingen, und man muß von guten Stunden erwarten, was durch geistigen Willen nicht zu erreichen ist. So lasse ich mir jetzt in meiner ›Walpurgisnacht‹ Zeit, damit alles die gehörige Kraft und Anmuth erhalten möge. Ich bin gut vorgerückt und hoffe es zu vollenden, bevor Sie gehen.

Was darin von Piquen vorkommt, habe ich so von den besondern Gegenständen abgelöst und ins Allgemeine gespielt, daß es zwar dem Leser nicht an Beziehungen fehlen, aber niemand wissen wird, worauf es eigentlich gemeint ist. Ich habe jedoch gestrebt, daß alles, im antiken Sinne, in bestimmten Umrissen dastehe, und daß nichts Vages, Ungewisses vorkomme, welches dem romantischen Verfahren gemäß sein mag.

[276] Der Begriff von classischer und romantischer Poesie, der jetzt über die ganze Welt geht und so viel Streit und Spaltungen verursacht,« fuhr Goethe fort, »ist ursprünglich von mir und Schiller ausgegangen. Ich hatte in der Poesie die Maxime des objectiven Verfahrens und wollte nur dieses gelten lassen, Schiller aber, der ganz subjectiv wirkte, hielt seine Art für die rechte, und um sich gegen mich zu wehren, schrieb er den Aufsatz über naive und sentimentale Dichtung. Er bewies mir, daß ich selber wider Willen romantisch sei und meine ›Iphigenie‹, durch das Vorwalten der Empfindung, keineswegs so classisch und im antiken Sinne sei, als man vielleicht glauben möchte. Die Schlegel ergriffen die Idee und trieben sie weiter, sodaß sie sich denn jetzt über die ganze Welt ausgedehnt hat und nun jedermann von Classicismus und Romanticismus redet, woran vor funfzig Jahren niemand dachte.«

Ich lenkte das Gespräch wieder auf den Cyklus der zwölf Figuren, und Goethe sagte mir noch einiges zur Ergänzung.

»Den Adam müßte man bilden wie ich gesagt, jedoch nicht ganz nackt, indem ich ihn mir am besten nach dem Sündenfall denke; man müßte ihn mit einem dünnen Rehfellchen bekleiden. Und zugleich, um auszudrücken, daß er der Vater der Menschheit, so würde man wohlthun, ihm seinen ältesten Sohn beizugeben, einen trotzigen, kühn um sich blickenden Knaben, einen[277] kleinen Hercules, in der Hand eine Schlange erdrückend.

Auch wegen Noah habe ich einen andern Gedanken gehabt, der mir besser gefällt; ich würde ihn nicht dem indischen Bacchus anähneln, sondern ich würde ihn als Winzer darstellen, wobei man sich eine Art von Erlöser denken könnte, der, als erster Pfleger des Weinstocks, die Menschheit von der Qual der Sorgen und Vedrängnisse freimachte.«

Ich war beglückt über diese guten Gedanken und nahm mir vor, sie zu notiren.

Goethe zeigte mir sodann das Blatt von Neureuther zu seiner Legende vom Hufeisen. »Der Künstler,« sagte ich, »hat dem Heiland nur acht Jünger beigegeben.«

»Und schon diese acht,« fiel Goethe ein, »waren ihm zu viel, und er hat sehr klug getrachtet, sie durch zwei Gruppen zu trennen und die Monotonie eines geistlosen Zugs zu vermeiden.«[278]


1283.*


1830, 21. März.


Mit Friedrich von Müller

Heute regte er lebhaft an, meinen Nekrolog der Großherzogin-Mutter rasch zu vollenden.[278]


1284.*


1830, 23. März.


Mit Friedrich von Müller

Ich erntete großen Beifall für meine Arbeit.1 »Nacherfinden kann man andern nicht leicht, man beurtheilt was schon da ist.« Er war in seinem hintersten Zimmer nach der Straße zu, rings umher Kupferstiche, Zeichnungen etc. die Fülle. »Meine eignen Versuche im Zeichnen haben mir doch den großen Vortheil gebracht, die Naturgegenstände schärfer aufzufassen; ich kann mir ihre verschiedenen Formen jeden Augenblick mit Bestimmtheit zurückrufen. Seit ich die Zeitungen nicht mehr lese, bin ich viel freieren Geistes. Mein Sohn wird in Italien seine eigenen Wege gehen, das Lumpenpack kümmert sich viel um die Väter.«

Wir kamen auf sein Gespräch mit Napoleon und dessen gewöhnlichen Zusatz: Qu'en dit Mr. Goethe? Als ich sagte: es sei schrecklich sich zu sagen, daß das schon 22 Jahre her wäre, erwiederte er: »Man muß es sich auch nicht sagen, sonst wäre es zum Tollwerden. Vor Gott sind tausend Jahre wie ein Tag; warum sollen wir uns nicht auch wie kleine Götter darüber hinaussetzen?«


1 Falk hatte das Gedicht gemacht, als die Großherzogin, an deren Wiederaufkommen man allgemein zweifelte, noch lebte. So erklärt sich die Möglichkeit, daß Falk auf den Tod der Großherzogin, welche 1830 starb, ein Gedicht machen konnte, während er selbst schon im Februar 1826 starb.[279]


1285.*


1830, 24. März.


Mit Johann Peter Eckermann

Bei Goethe zu Tische in den heitersten Gesprächen. Er erzählt mir von einem französischen Gedicht, das als Manuscript in der Sammlung von David mitgekommen, unter dem Titel: ›Le rire de Mirabeau‹ [von Cordellier-Delaroue]. »Das Gedicht ist voller Geist und Verwegenheit,« sagte Goethe, »und Sie müssen es sehen. Es ist als hätte der Mephistopheles dem Poeten dazu die Tinte präparirt. Es ist groß, wenn er es geschrieben ohne den ›Faust‹ gelesen zu haben, und ebenso groß, wenn er ihn gelesen.«[280]


1286.*


1830, 28. März.


Mit Friedrich von Müller

und Clemens Wenzeslaus Coudray

Er hatte in seinem Garten mit Eckermann gespeist. Als ich um 5 Uhr Nachmittags zu ihm kam, stand Durand's Portrait von Schmeller auf der Staffelei. »Das soll wohl Durand sein,« sagte ich, worauf Goethe versetzte: »Er selber ist es freilich nicht.« Und ich merkte alsobald, daß ihn meine skeptische Äußerung geärgert habe.

Er bat, ich möchte ihm das Merkwürdigste aus den Zeitungen erzählen: über Griechenland, die alte Morgue;[280] es sei albern von Capo d'Istria, wenn er die griechischen Primaten schelte: sie taugten überall nichts, nicht bloß dort. Er dankte Gott, daß er kein Philhelene sei, sonst würde er sich über den Ausgang des Drama jämmerlich ärgern. Er redete dann von »L'âne mort et la femme guillotinée1« und von der »Palingénésie sociale«, die er ein schwaches Werk nannte. Er habe lang genug über diese Probleme gedacht, mit Herdern, ehe die »Ideen« etc. gedruckt worden, Alles vielfach durchsprochen, und so verdrieße es ihn zu lesen, was andere minder gehaltvoll darüber faselten. Es komme nichts dabei heraus; solche Probleme seien einmal nicht zu lösen. Was wolle das heißen: Stadt Gottes? Gott habe keine Stadt, sondern ein Reich, kein Reich, sondern eine Welt, keine Welt, sondern Welten.

Coudray kam dazu. Er lobte den aus England zurückgekommenen jungen Architekten Kirchner, auf den der sel. Großherzog so viel gewendet habe.

Goethe zeigte uns seine Präparate von Schnepfenköpfen, merkwürdig wegen der ungeheuer großen Augen. Darauf kam das Gespräch auf vergleichende Anatomie, und Goethe wiederholte, was in seinem Gedichte: »Metamorphose des Thierreichs« vorkommt: Gott selbst könne keinen Löwen mit Hörnern schaffen, weil er nicht die von ihm selbst für nothwendig erkannten Naturgesetze umstoßen könne.

[281] »Hernani« [von V. Hugo] sei eine absurbe Composition, ebenso der »Gustav Adolf« [von Arnaut?] und die »Christine« [von Arnault? oder Stockholm, Fontainebleau et Rome von Dumas?]. Überhaupt hätten die Franzosen seit Voltaire, Buffon und Diderot doch eigentlich keine Schriftsteller erster Größe gehabt, keinen, bei dem die geniale Kraft, die Löwentatze so recht entschieden hervorgetreten. »Paul und Virginie« [von Bernardin de Saint-Pierre], ingleichen »Atala« [von Châteaubriant] könne man allenfalls noch gelten lassen. Wenn die Franzosen sich mausig machen, so will ich es ihnen noch vor meinem seligen Ende recht derb und deutlich vorsagen. Ach, wenn man so lange gelebt hat wie ich und über ein halbes Jahrhundert mit so klarem Bewußtsein zurückschaut, so wird einem das Zeug alles, was geschrieben wird, recht ekelhaft.

Wir kamen auf Milosch und die Serbier. »Ja,« sagte er, »es war doch eine schöne Zeit, als die Übersetzung der serbischen Gedichte zuerst hervortrat, und wir so frisch und lebendig in jene eigenthümlichen Zustände hinein versetzt wurden. Jetzt liegt mir das ferne, ich mag nichts mehr davon wissen.

Seit ich keine Zeitungen mehr lese, bin ich ordentlich wohler und geistesfreier. Man kümmert sich doch nur um das, was andere thun und treiben, und versäumt, was einem zunächst obliegt.

Ich habe Natur und Kunst eigentlich immer egoistisch studirt, nämlich um mich zu unterrichten. Ich[282] schrieb auch nur darüber, um mich immer weiter zu bilden. Was die Leute daraus machen, ist mir einerlei.«

Er wurde immer redseliger und behaglicher, doch nicht recht gemüthlich.


1 Jules Janin, L'âne mort etc. Paris 1827.[283]


1287.*


1830, Frühjahr(?).


In Goethes Garten

[Friedrich Förster erzählt, wie er und Eckermann einem Kuckuck im Park zu Weimar nachgeprüft hatten und Eckermann infolgedessen sich über das Leben der Vögel verbreitet habe. Er fährt fort:]


Insbesondere bot ihm der Kuckuck reichen Stoff zu Mittheilungen, sodaß er damit noch nicht zu Ende war, als wir durch das schmale Pförtchen in das Gartenhaus eintraten. Goethe, welcher hinter der lebendigen spanischen Wand von Malven, durch welche er sich den Blicken neugieriger Vorübergehender entzog, auf und ab ging, trat freundlich, uns willkommen heißend, auf uns zu und sagte: »Sie haben, wie ich merke, unsern Freund Eckermann auf sein Lieblingsthema gebracht; ich hörte wiederholentlich seinen Kuckucksruf, von dem weiß er ein Liedchen zu singen, obschon es kein Singvogel ist.« Der Enkel Wolfgang kam, den Großpapa zum Theetisch einzuladen, an welchem wir unter einer Linde Frau Ottilie, ihre Schwester und andern Besuch fanden. Bald hieß es auch hier wieder: Ei, der Kuckuck und kein Ende! Ich hatte Eckermann bemerkt, daß ihm[283] doch, wie gründlich auch seine Beobachtungen gewesen; eine seltsame Begabung, womit die Natur diesen verzogenen Liebling schon im Ei ausgestattet habe, unbekannt geblieben sei. Aufgefordert, hierüber Mittheilung zu machen, erzählte ich, daß mir der Director der Akademie in Tharand [Cotta] einmal ein noch nicht flügges Kuckuckchen gezeigt, welches er aus dem Neste einer Blaumeise in dem Astloche eines Apfelbaumes aufgefunden und ausgenommen hatte. Er machte uns auf die schaufelartige Bildung der Flügelschulterknochen aufmerksam und fügte erläuternd hinzu: wenn der aus dem Ei gekrochene Kuckuck sich nach Verkauf einiger Zeit von kleineren Stiefgeschwistern umgeben sieht, welche ihre Schnäbelchen mit gleichem Verlangen aufsperren, sobald die Eltern Fütterung bringen, duckt er sich unter die Kleinen und macht es ihnen bequem, sich auf seine Schulterschaufeln zu setzen. Kaum aber, daß eins darauf Platz genommen, rutscht er damit an die Öffnung und wirft es mit geschicktem Schub zum Loche hinaus, wo dann das arme Stiefbrüderchen, wenn es nicht sofort den Hals gebrochen, doch bald von den Raubvögeln und Katzen aufgefressen wird.

Bestätigung erhielt diese Aussage durch einen der anwesenden Jäger. »Ja, ja!« bemerkte Goethe, »die Natur ist viel listiger und erfindsamer im Guten wie im Bösen, als wir armen Menschenkinder, und wenn Salomo der Weise spricht: ›Neues unter der Sonne giebt es nicht‹, so beweist das, daß der weise König[284] kein Naturforscher war.« – Von einem der Anwesenden wurde die Bemerkung gemacht, daß der Mensch ein noch ungelöstes Räthsel sei, jedenfalls sei die Aufgabe, welche die Sphynx Ödipus gegeben, doch zu sehr nur für den Scharfsinn eines Kindes berechnet gewesen. Hierauf wurde von Goethe bemerkt, daß wie der Mensch, so auch das Thier ein Räthsel und ein vielleicht noch schwerer zu lösendes sei; denn nicht nur, daß durch die Sprache der Menschenbruder uns sein geheimes Wesen offenbare, der Mensch sei doch trotz aller Racenunterschiede immer einer von derselben Gattung wogegen die Thierwelt in unendlich viele specifisch von einander verschiedene Gattungen und Arten getrennt sei. Bei der Psychologie des Menschen haben wir es immer nur mit einer und derselben Seele zu thun, bei der Thier-Psychologie verlangen die Seelen der Vierfüßer, der Vögel, der Fische, der Insecten, bis zu den Infusorien herab, eine jede eine besondere Wissenschaft. Mit der herkömmlichen Bezeichnung ›Instinct‹ kommen wir nicht mehr aus.


[Hiernächst theilt Förster weitere Erzählungen über Klugheit von Thieren mit, darunter auch von Hunden, die zu allerhand Verrichtungen herangezogen werden, wobei Goethe einschaltete:]


»Haben wir doch« – fügte Goethe mit heiterer Miene hinzu – »hier am Orte erlebt, daß der Hund für die Theatercasse ein einträglicher Gastrollenspieler ist.« 1


[285] [Ferner erzählte Förster von einem, in Berlin ihm zugeflogenen Taubenpaare, welches sich in seinem Zimmer ein Nest gebaut, von welchem aber der Zauber nach einiger Zeit – wahrscheinlich abgefangen – ausgeblieben und dadurch das brütende Weibchen in große Unruhe versetzt worden sei. Letzteres sei später gleichfalls verschwunden während bald darnach der Tauber sich wieder eingefunden und zunächst das Nest mit den Eiern untersucht habe. Die weiteren Vorgänge berichtete Förster wie folgt:]


Er fand hier alles in bester Ordnung, und in der Hoffnung, das erkaltete Leben durch die Wärme seines Blutes und seiner Federn wiedererwecken zu können, übernahm er mit heroischer Resignation auf jeden Genuß der Freiheit und des Lebens die mütterlichen Pflichten des Brütens und verließ während mindestens achtundvierzig Stunden auch nicht eine Minute das Nest. Als er aber am dritten Tage die Überzeugung gewonnen hatte, daß seine Bemühung, das erstorbene Leben wieder zu erwecken, vergeblich sei, gerieth er in einen Zustand, der an Verzweiflung gränzte. Er schleuderte die beiden Eier aus dem Neste, daß sie am Boden zerschellten, dann richtete sich seine Wuth gegen das Nest, welches er mit den Krallen der Füße und mit der Schärfe des Schnabels so zerstörte, daß nicht ein Reischen, nicht ein Hälmchen auf dem andern blieb und die mühsam zusammengetragenen Federn rings umherflogen. Der häusliche Heerd war zerstört – ohne häusliches Glück hatte er keinen Werth. In sich gekehrt und nachdenklich saß nun mein Herr Tauber an[286] dem Fensterbret, ähnlicher dem trübseligen Kauz der Minerva, als einem heitern Zugvogel vom Gespann der Venus. Mit einem Male, wie aus Träumen erwacht, streckte er den Hals lang aus, die Augen blitzten, und wie ein Stoßvogel schoß er auf das Dach des gegenüberstehenden Hauses. Dort hatte er seine verloren geglaubte Gattin erblickt, wie ich sie auch gleich erkannte, umringt von einer Schaar zudringlicher Bewerber um ihre Gunst. Des Odysseus Pfeile können nicht größeren Schrecken und mehr Verderben unter der Schaar der Freier, welche Penelope bedrängten, angerichtet haben, als mein tapfrer Taubenheld unter den Courmachern seiner Gemahlin; sie stoben theils schwer verwundet, theils arg zerzaust und zerschlagen auseinander; die Federn flogen wie Schneeflocken umher ..... Das Ehepaar verständigte sich sehr bald und kehrte in die verlassenen Räume des Cabinets auf das Bücherregal zurück. Nach eingenommenem Frühstück nahmen sie in dem auf dem Fußboden aufgestellten Gefäß ein Bad, striegelten und putzten sich und machten dann einen Spazierausflug. Unterdessen nahm ich die umherliegenden Trümmer ihres zerstörten Nestes wieder auf und legte sie auf den Tisch, um ihnen den Wiederaufbau bequem zu machen. Hierin war ich im Irrthum: bei der Rückkehr erweckten die aufgelesenen Bauhölzer so schmerzliche Erinnerungen bei dem Gemahl, daß er sie in sichtbarer Aufregung an den Boden schleuderte, dann mit der Gattin täglich ausflog und[287] mit Mühe und Sorgfalt ein neues Nest baute, zu welchen nicht das kleinste Federchen oder Hälmchen des alten verwendet wurden. Bald lagen wieder zwei Eier in dem Neste und nach Verlauf von vierzehn Tagen vernahm ich zu meiner großen Freude die piependen Stimmen der ausgekrochenen Jungen.

.....Meine Taubengeschichte erfreute sich allgemeiner Theilnahme und gab zu lebhafter Unterhaltung Veranlassung ..... »Lassen Sie uns« – nahm zuletzt Goethe das Wort – »diese Geschichte mit einigem Ernst bedenken; sie liefert einen sehr bedeutenden Beitrag zur Psychologie der Thiere. Hierbei haben wir nicht nur Bewußtsein mit Absicht und Überlegung vor uns, wir finden die Thiere auf einem sittlichen Boden stehen, was im ›Reineke Fuchs‹ nicht der Fall ist, wo man nur Schelmenstreichen begegnet. Hier erhebt sich die Liebe zur Leidenschaft, für welche das Leben eingesetzt wird: eheliches Verhältniß, Monogamie, Familienleben – und wollt Ihr es eine Dichtung nennen, so nennt es einen Roman, eine Novelle, in welcher Wahlverwandtschaft das Hauptwort sein würde, und zwar nicht die chemisch-mechanische, durch welche die Salze und Säuren sich vereinigen, sondern die höhere auf dem Gebiete des Lebens, wo außer den Seelen auch Fleisch und Blut ihrer gegenseitigen Anziehungskraft unwiderstehlich zu folgen gezwungen werden.«

Goethe zog sich, da er sich der Abendkühle nicht[288] gern aussetzte, in sein Zimmer zurück und bestieg dann mit den Damen den Wagen, der ihn nach der Stadt brachte.


1 Anspielung auf die, Goethes Rücktritt von der Theaterdirection veranlassende Aufführung von Castelli's nach dem Französischen bearbeiteten Schauspiel »Der Hund des Aubry de Mont-Didier«.[289]


1288.*


1830, 5. April.


Mit Johann Peter Eckermann

Es ist bekannt, daß Goethe kein Freund von Brillen ist.

»Es mag eine Wunderlichkeit von mir sein,« sagte er mir bei wiederholten Anlässen, »aber ich kann es einmal nicht überwinden. Sowie ein Fremder mit der Brille auf der Nase zu mir hereintritt, kommt sogleich eine Verstimmung über mich, der ich nicht Herr werden kann. Es genirt mich so sehr, daß es einen großen Theil meines Wohlwollens sogleich auf der Schwelle hinwegnimmt und meine Gedanken so verdirbt, daß an eine unbefangene natürliche Entwickelung meines eigenen Innern nicht mehr zu denken ist. Es macht mir immer den Eindruck des Désobligeanten, ungefähr so, als wollte ein Fremder mir bei der ersten Begrüßung sogleich eine Grobheit sagen. Ich empfinde dieses noch stärker, nachdem ich seit Jahren es habe drucken lassen, wie fatal mir die Brillen sind. Kommt nun ein Fremder mit der Brille, so denke ich gleich: er hat deine neuesten Gedichte nicht gelesen – und das ist schon ein wenig zu seinem Nachtheil; oder er[289] hat sie gelesen, er kennt deine Eigenheit und setzt sich darüber hinaus – und das ist noch schlimmer. Der einzige Mensch, bei dem die Brille mich nicht genirt, ist Zelter; bei allen andern ist sie mir fatal. Es kommt mir immer vor, als sollte ich den Fremden zum Gegenstande genauer Untersuchung dienen und als wollten sie durch ihre gewaffneten Blicke in mein geheimstes Innere dringen und jedes Fältchen meines alten Gesichts erspähen. Während sie aber so meine Bekanntschaft zu machen suchen, stören sie alle billige Gleichheit zwischen uns, indem sie mich hindern, zu meiner Entschädigung auch die ihrige zu machen; denn was habe ich von einem Menschen, dem ich bei seinen mündlichen Äußerungen nicht ins Auge sehen kann und dessen Seelenspiegel durch ein paar Gläser, die mich blenden, verschleiert ist!«

»Es hat jemand bemerken wollen,« versetzte ich, »daß das Brillentragen die Menschen dünkelhaft mache, indem die Brille sie auf eine Stufe sinnlicher Vollkommenheit hebe, die weit über das Vermögen ihrer eigenen Natur erhaben, wodurch denn zuletzt sich die Täuschung bei ihnen einschleiche, daß diese künstliche Höhe die Kraft ihrer eigenen Natur sei.«

»Die Bemerkung ist sehr artig,« erwiederte Goethe, »sie scheint von einem Naturforscher herzurühren. Doch genau besehen, ist sie nicht haltbar; denn wäre es wirklich so, so müßten ja alle Blinden sehr bescheidene Menschen sein, dagegen alle mit trefflichen Augen begabten[290] dünkelhaft. Dies ist aber durchaus nicht so; vielmehr finden wir, daß alle geistig wie körperlich durchaus naturkräftig ausgestatteten Menschen in der Regel die bescheidensten sind, dagegen alle besonders geistig verfehlten weit eher einbilderischer Art. Es scheint, daß die gütige Natur allen denen, die bei ihr in höherer Hinsicht zu kurz gekommen sind, die Einbildung und den Dünkel als versöhnendes Ausgleichungs- und Ergänzungsmittel gegeben hat.

Übrigens sind Bescheidenheit und Dünkel sittliche Dinge so geistiger Art, daß sie wenig mit dem Körper zu schaffen haben. Bei Bornirten und geistig Dunkeln findet sich der Dünkel, bei geistig Klaren und Hochbegabten aber findet er sich nie. Bei solchen findet sich höchstens ein freudiges Gefühl ihrer Kraft; da aber diese Kraft wirklich ist, so ist dieses Gefühl alles andere, aber kein Dünkel.«

Wir unterhielten uns noch über verschiedene andere Gegenstände und kamen zuletzt auch auf das »Chaos«, diese von Frau von Goethe geleitete weimarische Zeitschrift, woran nicht bloß hiesige deutsche Herren und Damen, sondern vorzüglich auch die hier sich aufhaltenden jungen Engländer, Franzosen und andere Fremdlinge theilnehmen, sodaß denn fast jede Nummer ein Gemisch fast aller bekanntesten europäischen Sprachen darbietet.

»Es ist doch hübsch von meiner Tochter,« sagte Goethe, »und man muß sie loben und es ihr Dank[291] wissen, daß sie das höchst originelle Journal zu Stande gebracht und die einzelnen Mitglieder unserer Gesellschaft so in Anregung zu erhalten weiß, daß es doch nun bald ein Jahr besteht. Es ist freilich nur ein dilettantischer Spaß, und ich weiß recht gut, daß nichts Großes und Dauerhaftes dabei herauskommt, allein es ist doch artig und gewissermaßen ein Spiegel der geistigen Höhe unserer jetzigen weimarischen Gesellschaft. Und dann, was die Hauptsache ist, es giebt unsern jungen Herren und Damen, die oft gar nicht wissen was sie mit sich anfangen sollen, etwas zu thun; auch haben sie dadurch einen geistigen Mittelpunkt, der ihnen Gegenstände der Besprechung und Unterhaltung bietet und sie also gegen den ganz nichtigen und hohlen Klatsch schützt. Ich lese jedes Blatt, sowie es frisch aus der Presse kommt, und kann sagen, daß mir im ganzen noch nichts Ungeschicktes vorgekommen ist, vielmehr mitunter sogar einiges recht Hübsche. Was wollen sie z.B. gegen die Elegie der Frau von Bechtolsheim auf den Tod der Frau Großherzogin-Mutter einwenden? Ist das Gedicht nicht sehr artig? Das einzige, was sich gegen dieses sowie gegen das meiste unserer jungen Damen und Herren sagen ließe, wäre etwa, daß sie, gleich zu saftreichen Bäumen, die eine Menge Schmarotzerschößlinge treiben, einen Überfluß von Gedanken und Empfindungen haben, deren sie nicht Herr sind, sodaß sie sich selten zu beschränken und da aufzuhören wissen, wo es gut wäre. Dieses ist auch der Frau von Bechtolsheim passirt.[292] Um einem Reim zu bewahren, hatte sie einen andern Vers hinzugefügt, der dem Gedicht durchaus zum Nachtheil gereichte, ja es gewissermaßen verdarb. Ich sah diesen Fehler im Manuscript und konnte ihn noch zeitig genug ausmerzen. Man muß ein alter Practicus sein,« fügte er lachend hinzu, »um das Streichen zu verstehen. Schiller war hierin besonders groß. Ich sah in einmal bei Gelegenheit seines ›Musenalmanachs‹ ein pompöses Gedicht von zweiundzwanzig Strophen auf sieben reduciren, und zwar hatte das Product durch diese furchtbare Operation keineswegs verloren, vielmehr enthielten diese sieben Strophen noch alle guten und wirksamen Gedanken jener zweiundzwanzig.«[293]


1289.*


1830, 5. April.


Mit Friedrich von Müller

»Ich kann eigentlich mit niemandem mehr über die mir wichtigsten Angelegenheiten sprechen, denn niemand kennt und versteht meine Prämissen. Umgewandt verstehe ich z.B. Vogeln gar sehr gut, ohne seine Prämissen zu kennen; sie sind mir a priori klar: ich sehe aus seinen Folgerungen, welche Prämissen er gehabt haben muß.«[293]


1290.*


1830, 7. April.


Mit Friedrich von Müller

Nur eine Stunde bei ihm. Wir sprachen von der Idee, alte fürstliche Frauenbilder in der Bibliothek an die Stelle der Gelehrten-Portraits aufzuhängen. Färber's von Jena anfängliche Gegenwart gab zu der Äußerung Anlaß: »Niemand weiß es genug zu schätzen, was man mit Leuten ausrichten kann, die an uns heraus gekommen sind, sich eine lange Jahresreihe hindurch an uns fortgebildet haben.«

Nun fiel das Gespräch auf Männer-Liebe und Johannes Müller.

Er entwickelte, wie diese Verirrung eigentlich daher komme, daß nach rein ästhetischem Maßstabe der Mann immerhin weit schöner, vorzüglicher, vollendeter wie die Frau sei. Ein solcher einmal entstandenes Gefühl schwenke dann leicht ins Thierische, grob Materielle hinüber. Die Knabenliebe sei so alt wie die Menschheit, und man könne daher sagen, sie liege in der Natur, ob sie gleich gegen die Natur sei.

Was die Cultur der Natur abgenommen habe, dürfe man nicht wieder fahren lassen, es um keinen Preis aufgeben. So sei auch der Begriff der Heiligkeit der Ehe eine solche Cultur-Errungenschaft des Christenthums und von unschätzbarem Werth, obgleich die Ehe eigentlich unnatürlich sei.

[294] »Sie wissen, wie ich das Christenthum achte, oder sie wissen es vielleicht auch nicht; wer ist denn noch heut zu Tage ein Christ, wie Christus ihn haben wollte? Ich allein vielleicht, ob ihr mich gleich für einen Heiden haltet. Genug dergleichen Culturbegriffe sind den Völkern nun einmal eingeimpft und laufen durch alle Jahrhunderte; überall hat man vor ungeregelten, ehelosen Liebesverhältnissen eine gewisse unbezwingliche Scheu, und das ist recht gut. Man sollte nicht so leicht mit Ehescheidungen vorschreiten.

Was liegt daran, ob einige Paare sich prügeln und das Leben verbittern, wenn nur der allgemeine Begriff der Heiligkeit der Ehe aufrecht bleibt. Jene würden doch auch andere Leiden zu empfinden haben, wenn sie diese los wären.«

Er lobte den Prinzen August von Gotha und Grimm. Jener erzählte oft von einem eigensinnigen, absurden, alten Herzog von Sachsen1, daß er, als man ihm einstmal dringende Vorstellungen gethan, er möge doch sich bedenken, besinnen etc. geantwortet: »Ich will nichts bedenken, nichts überlegen, wozu wäre ich denn sonst Herzog von Sachsen?« Prinz August hatte große Geduld mit mir, ich war oft gar zu verrückt, mitunter freilich aber auch ganz leidlich.


1 Nach einem Briefe Karl August ist Prinz Ludwig Ernst von Gotha, geb. 28. Dec. 1707, General-Lieutenant im Münsterschen Dienste, † 13. Aug. 1763, gemeint.[295]


1291.*


1830, 19. April


Mit Friedrich Soret

Goethe erzählte mir von dem Besuche zweier Russen, die heute bei ihm gewesen. »Es waren im ganzen recht hübsche Leute,« sagte er; »aber der eine zeigte sich mir nicht eben liebenswürdig, indem er während der ganzen Visite kein einziges Wort hervorbrachte. Er kam mit einer stummen Verbeugung herein, öffnete während seiner Anwesenheit nicht die Lippen, und nahm nach einem halben Stündchen mit einer stummen Verbeugung wieder Abschied. Er schien bloß gekommen zu sein, mich anzusehen und zu beobachten. Er ließ, während ich ihnen gegenübersaß, seine Blicke nicht von mir. Das ennuyirte mich, weshalb ich denn anfing das tollste Zeug hin- und herzuschwatzen, so wie es mir gerade in den Kopf fuhr. Ich glaube, ich hatte die Vereinigten Staaten von Nordamerika mir zum Thema genommen, das ich auf die leichtsinnigste Weise behandelte und davon sagte was ich wußte und was ich nicht wußte, immer gerade in den Tag hinein. Das schien aber meinen beiden Fremden eben recht zu sein, denn sie verließen mich dem Anscheine nach durchaus nicht unzufrieden.«[296]


1292.*


1830, 21. April.


Mit Johann Peter Eckermann

Ich nahm heute Abschied von Goethe, indem die Abreise nach Italien mit seinem Sohne, dem Kammerherrn, auf morgen früh bestimmt war. Wir sprachen manches auf die Reise Bezügliche durch, besonders empfahl er mir, gut zu beobachten und ihm dann und wann zu schreiben.

Ich fühlte eine gewisse Rührung, Goethe zu verlassen, doch tröstete mich der Anblick seiner festen Gesundheit und die Zuversicht, ihn glücklich wiederzusehen.

Als ich ging, schenkte er mir ein Stammbuch, worin er sich mit folgenden Worten eingeschrieben:


Es geht vorüber eh' ich's gewahr werde,

Und verwandelt sich eh' ich's merke.

Hiob

Den Reisenden.

Weimar.

den 21. April 1830

Goethe



1293.*


1830, 22. April.


Mittag bei Goethe

[Soret] bei Goethe zu Tische. Frau von Goethe war gegenwärtig und die Unterhaltung angenehm belebt,[297] doch ist mir davon wenig oder nichts geblieben.

Während der Tafel ließ ein durchreisender Fremder sich melden, mit dem Bemerken, daß er keine Zeit habe sich aufzuhalten und morgen früh wieder abreisen müsse. Goethe ließ ihm sagen, daß er sehr bedauere, heute niemand sehen zu können; vielleicht aber morgen Mittag. »Ich denke,« fügte er lächelnd hinzu, »das wird genug sein.« Zu gleicher Zeit aber versprach er seiner Tochter, daß er den Besuch des von ihr empfohlenen jungen Henning nach Tische erwarten wolle, und zwar in Rücksicht seiner braunen Augen, die denen seiner Mutter gleichen sollten.[298]


1294.*


1830, um 24. April.


Bei Anwesenheit von Wilhelmine Devrient

Ich [Ed. Genast] eilte...zu Goethe, um ihn zu fragen, ob er die Schröber-Devrient empfangen wolle. »Es wird mich freuen, diese Künstlerin, von der ich schon so Treffliches gehört, kennen zu lernen,« erwiederte er. Ich fragte ihn noch, ob sie ihm etwas vorsingen dürfe, da er ja wegen der Trauer das Theater nicht besuche. »Das wird meine Freude nur erhöhen,« sagte er. Ich bemerkte, daß er dazu keinen Accompagnisten bestellen möge; dieses Amt könne meine Frau übernehmen, und er versetzte lächelnd: »Ei sieh![298] da lerne ich ja ein weiteres Talent an Deiner lieben Frau kennen.«

Am andern Tage empfing er die Devrient höchst freundlich und liebreich. Sie sang ihm unter anderm auch die Schubert'sche Composition des »Erlkönig« vor, und obgleich er kein Freund von durchcomponirten Strophenliedern war, so ergriff ihn der hochdramatische Vortrag der unvergleichlichen Wilhelmine so gewaltig, daß er ihr Haupt in beide Hände nahm und sie mit den Worten: »Haben Sie tausend Dank für diese großartige künstlerische Leistung!« auf die Stirn küßte. Dann fuhr er fort: »Ich habe diese Composition früher einmal gehört, wo sie mir gar nicht zusagen wollte, aber so vorgetragen, gestaltet sich das ganze zu einem sichtbaren Bild. Auch Ihnen, meine liebe Frau Genast« – wandte er sich zu meiner Frau – »danke ich für Ihre charakteristische Begleitung.«[299]


1295.*


1830, 24. April.


Mit Friedrich von Müller

Als ich von Rauch's zu hoffendem Besuch bei seiner Heimreise von München sprach, äußerte er. »Ich hoffe nicht, daß er komme; zu was soll das helfen? Es ist nur Zeitverderb. Es kommt nicht darauf an, daß die Freunde zusammenkommen, sondern darauf, daß sie übereinstimmen. Die Gegenwart hat etwas[299] Beengendes, Beschränkendes, oft Verletzendes, die Abwesenheit hingegen macht frei, unbefangen, weist Jeden auf sich selbst zurück. Was mir Rauch erzählen könnte, weiß ich längst auswendig.«

Als wir auf »Hernani« und die neue französische Schule kamen, bemerkte er: »Die Franzosen bekommen doch kein achtzehntes Jahrhundert wieder, sie mögen machen, was sie mögen, was haben sie etwas aufzuweisen, das mit Diderot zu vergleichen wäre? Seine Erzählungen wie klar gedacht, wie tief empfunden, wie kernig, wie kräftig, wie anmuthig ausgesprochen! Als uns dies durch Grimm's Correspondenz in einzelnen Fragmenten zukam, wie begierig faßte man es zu schätzen! Ja, da war noch eine Zeit, wo etwas Eindruck machte; jetzt läßt man alles leichtsinnig vorübergehen. Es will was heißen für die neueren Schriftsteller in Frankreich, sich von so großen Traditionen und Mustern, von einem so ausgebildeten, abgeschlossenen, großartigen Zustand loszureißen und neue Bahnen zu betreten!

Wir andern dummen Jungen von 1772 hatten leichteres Spiel, wir hatten nichts hinter uns, konnten frisch darauf losgehen und waren des Beifalls gewiß, wenn wir nur einigermaßen was Tüchtiges lieferten.«

Wir kamen auf Reiseprojecte und industrielle Unternehmungen zu sprechen, die er alle verwarf. Auf meine Bemerkung, daß er über diese Gegenstände sonst ganz anders gedacht, sagte er: »Ei, bin ich denn darum[300] 80 Jahre alt geworden, daß ich immer dasselbe denken soll? Ich strebe vielmehr täglich etwas Anderes, Neues zu denken, um nicht langweilig zu werden. Man muß sich immerfort verändern, erneuen, verjüngen, um nicht zu verstocken. Da hat mir jetzt so ein Über-Hegel aus Berlin seine philosophischen Bücher zugeschickt; das ist wie die Klapperschlange, man will das verdammte Zeug fliehen und guckt doch hinein. Der Kerl greift es tüchtig an, bohrt gewaltig in die Probleme hinein, von denen ich vor 80 Jahren so viel als jetzt wußte, und von denen wir alle nichts wissen und nichts begreifen. Jetzt habe ich diese Bücher versiegelt, um nicht wieder zum Lesen verführt zu werden.

Mit Briefantworten muß man nolens volens Bankerott machen, und nur unter der Hand diesen oder jenen Creditor befriedigen. Meine Maxime ist: wenn ich sehe, daß die Leute bloß ihretwegen an mich schreiben, etwas für ihr Individuum damit bezwecken, so geht mich das nichts an; schreiben sie aber meinetwegen, senden sie etwas mich Förderndes, Angehendes, dann muß ich antworten. So hat mir Rochlitz jetzt etwas gar Schönes über meinen zweiten römischen Aufenthalt geschrieben; da habe ich auch gleich geantwortet. Ihr jungen Leute wisset freilich nicht, wie kostbar die Zeit ist, sonst würdet ihr sie mehr achten.«

Im Ganzen war er heut' sehr lebhaft, aufgeregt,[301] geistreich, aber mehr ironisch und bizarr als gemüthlich, mehr negativ als positiv, mehr humoristisch als heiter. Nicht leicht habe ich seine Proteus-Natur sich in alle Formen zu verwandeln, mit Allem zu spielen, die entgegengesetztesten Ansichten aufzufassen und gelten zu lassen, anmuthiger hervortreten sehen.[302]


1296.*


1830, 12 Mai.


Mit Friedrich Soret

Celui-ci critiquait un jour un petit modèle en bronze de la statue de Moïse par Michel-Ange, et trouvait entr'autres les bras du législateur d'une longueur démesurée. Comme les beaux-arts n'étaient pas la branche sur laquelle il eût le droit de donner son avis, Goethe s'écria vivement: »Prenez-vous Michel-Ange pour un sot? Moise n'avait-il pas à porter les tables des dix commandemens? Croyez-vous qu'il aurait pu d'ailleurs embrasser et tenir ferme dans son étreinte le peuple hébreu avec des bras ordinaires, comme ceux que vous portez, vous autres gens de Cour qui vous avisez de juger Michel-Ange!«[302]


1297.*


1830, Mai.


Mit Friedrich von Müller

»Geoffroy de St. Hilaire hat mit seinem Urtypus aller Organisationen und mit seinem Système d'analogies ganz recht gegen Cuvier, der doch nur ein Philister ist. Ich verfiel längst auf jenen einfachen Urtypus; kein organisches Wesen ist ganz der Idee, die zu Grunde liegt, entsprechend; hinter jedem steckt die höhere Idee. Das ist mein Gott, das ist der Gott, den wir alle ewig suchen und zu erschauen hoffen, aber wir können ihn nur ahnen, nicht schauen!«[303]


1298.*


1830, 21. Mai bis Anfang Juni.


Mit Felix Mendelsohn-Bartholdy u.a.


a.

Zur Erzählung wieder zu kommen, schickte ich den Brief von Zelter sogleich hinein zu Goethe. Der ließ mich zu Tische bitten. Da fand ich ihn denn im Äußern unverändert, anfangs aber etwas still und wenig theilnehmend; ich glaube, er wollte mal zusehen, wie ich mich wohl nehmen möchte; mir war es verdrießlich, und ich dachte, er wäre jetzt immer so. Da kam zum Glück die Rede auf die Frauenvereine in Weimar und auf das »Chaos«, eine tolle Zeitung, die die Damen unter sich herausgeben, und zu deren Mitarbeiter[303] ich mich aufgeschwungen habe. Aufeinmal fing der Alte an, lustig zu werden und die beiden Damen [Ottilie und deren Schwester] zu necken mit der Wohlthätigkeit und dem Geistreichthum und den Subscriptionen und der Krankenpflege, die er ganz besonders zu hassen scheint, forderte mich auf, auch mit loszuziehen; und da ich mir das nicht zweimal sagen ließ, so wurde er erst wieder ganz wie sonst und dann noch freundlicher und Vertraulicher, als ich ihn bis jetzt kannte. Da ging's denn über alles her. Von der ›Räuberbraut‹ von Ries meinte er: die enthielte alles, was ein Künstler jetzt brauche, um glücklich zu sehen: einen Räuber und eine Braut. Dann schimpfte er auf die allgemeine Sehnsucht der jungen Leute, die so melancholisch wären; dann erzählte er Geschichten von einer jungen Dame, der er einmal die Cour gemacht hätte, und die auch einiges Interesse an ihm genommen habe; dann kamen die Ausstellungen und der Verkauf von Handarbeiten für Verunglückte, wo die Weimaranerinnen die Verkäuferinnen machen, und wo er behauptete, daß man gar nichts bekommen könnte, weil die jungen Leute alles unter sich vorher bestimmten und dann versteckten bis die rechten Käufer kämen u.s.w.

Nach Tische fing er dann aufeinmal an: »Gute Kinder – hübsche Kinder – muß immer lustig sein – tolles Volk!« und dazu machte er Augen, wie der alte Löwe, wenn er einschlafen will. Dann mußte ich[304] ihm vorspielen, und er meinte: wie das so sonderbar sei, daß er so lange keine Musik gehört habe; nun hätten wir die Sache immer weitergeführt und er wisse nichts davon; ich müsse ihm darüber viel erzählen: »denn wir wollen doch auch einmal vernünftig miteinander darüber sprechen.« Dann sagte er zu Ottilie: »Du hast nun schon gewiß Deine weisen Einrichtungen getroffen, das hilft aber nichts gegen meine Befehle, und die sind, daß Du heut hier Deinen Thee machst, damit wir wieder zusammen sind.« Als die nun frug, ob es nicht zu spät werden würde, da Riemer zu ihm käme und mit ihm arbeiten wolle, so meinte er: »Da Du Deinen Kindern heut früh ihr Latein geschenkt hast, damit sie den Felix spielen hörten, so könntest Du mir doch auch einmal meine Arbeit erlassen.« Dann lud er mich auf den heutigen Tag wieder zu Tisch ein, und ich spielte ihm abends viel vor; meine drei ›Walliser oder Walliserinnen‹1 machen hier viel Glück, und ich suche mein Englisch wieder vor.

Da ich Goethe gebeten hatte, mich Du zu nennen, ließ er mir den folgenden Tag durch Ottilie sagen: dann müsse ich aber länger bleiben, als zwei Tage, wie ich gewollt hätte, sonst könne er sich nicht wieder daran gewöhnen. Wie er mir das nun noch selbst sagte und meinte: ich würde wohl nichts versäumen,[305] wenn ich etwas länger bliebe, und mich einlud, jeden Tag zum Essen zu kommen, wenn ich nicht anderswo sein wollte; wie ich denn nun bis jetzt auch jeden Tag da war und ihm gestern von Schottland, Hengstenberg, Spontini und Hegel's Ästhetik erzählen mußte; wie er mich dann nach Tiefurt mit den Damen schickte, mir aber verbot, nach Berka zu fahren, weil da ein schönes Mädchen wohne und er mich nicht in's Unglück stürzen wolle; und wie ich dann so dachte, das sei nun der Goethe, von dem die Leute einst behaupten würden, er sei gar nicht Eine Person, sondern er bestehe aus mehreren kleinen Goethiden – da wäre ich wohl recht toll gewesen, wenn mich die Zeit gereicht hätte. Heute [24. Mai] soll ich ihm Sachen von Bach, Haydn und Mozart vorspielen und ihn dann so weiter führen bis jetzt – wie er sagte.


b.

Gestern [24. Mai] Abend war ich in einer Gesellschaft bei Goethe und spielte den ganzen Abend allein: Concertstück, Aufforderung, Polonaise in C von Weber, drei wälsche Stück, schottische Sonate. Um zehn war es aus, ich blieb aber natürlich unter dummem Zeug, Tanzen, Singen u.s.w. bis zwölf, lebe überhaupt ein Heidenleben. Der Alte geht immer um neun Uhr auf sein Zimmer, und sowie er fort ist, tanzen wir auf den Bänken und sind noch nie vor Mitternacht auseinandergegangen.

[306] Morgen wird mein Portrait [gezeichnet von Schmeller für Goethes Bildnißsammlung] fertig; es wird eine große, schwarze, sehr ähnliche Kreidezeichnung, aber ich sehe sehr brummig aus. Goethe ist so freundlich und liebevoll mit mir, daß ich's gar nicht zu danken und zu verdienen weiß. Vormittags muß ich ihm ein Stündchen Clavier vorspielen von allen verschiedenen großen Componisten nach der Zeitfolge und muß ihm erzählen, wie sie die Sache weitergebracht hätten, und dazu sitzt er in einer dunkeln Ecke wie ein Jupiter tonans und blitzt mit den alten Augen. An den Beethoven wollte er gar nicht heran, ich sagte ihm aber, ich könne ihm nicht helfen, und spielte ihm nun das erste Stück der C-Moll-Symphonie vor. Das berührte ihn ganz seltsam. Er sagte erst: »Das bewegt aber gar nichts, das macht nur staunen; das ist grandios!« Und dann brummte er so weiter und fing nach langer Zeit wieder an: »Das ist sehr groß, ganz toll! Man möchte sich fürchten, das Haus fiele ein. Und wenn das nun alle die Menschen zusammen spielen!« – Und bei Tische, mitten in einem anderen Gespräch, fing er wieder damit an.

Daß ich nun alle Tage bei ihm esse, wißt Ihr schon. Da frägt er mich denn sehr genau aus und wird nach Tische immer so munter und mittheilend, daß wir meistens noch über eine Stunde allein im Zimmer sitzen bleiben, wo er ganz ununterbrochen spricht. Das ist eine einzige Freude, wie er einmal[307] mir Kupferstiche holt und erklärt, oder über »Hernani« und Lamartine's Elegien urtheilt, oder über Theater, oder über hübsche Mädchen. Abends hat er schon mehreremal Leute gebeten, was jetzt bei ihm die höchste Seltenheit ist, sodaß die meisten Gäste ihn seit Langem nicht gesehen hatten. Dann muß ich viel spielen, und er macht mir vor den Leuten Complimente, wobei »ganz stupend« sein Lieblingswort ist. Heute hat er mir eine Menge Schönheiten von Weimar zusammengebeten, weil ich doch auch mit den jungen Leuten leben müsse. Komme ich dann in solcher Gesellschaft an ihn heran, so sagt er: »Meine Seele! Du mußt zu den Frauen hingehen und da recht schönthun.«

Ich habe übrigens viel Lebensart und ließ gestern fragen, ob ich doch nicht vielleicht zu oft käme. Da brummte er aber Ottilie an, die es bestellte und sagte: er müsse erst ordentlich anfangen mit mir zu sprechen; denn ich sei über meine Sache so klar, und da müsse er ja vieles von mir lernen. Ich wurde noch einmal so lang, als Ottilie mir das wiedersagte, und da er mir's gestern gar selbst wiederholte und meinte, es sei ihm noch vieles auf dem Herzen, über das ich ihn aufklären müsse, so sagte ich »O ja!« und dachte: es soll mir eine unvergeßliche Ehre sein.


c.

[308] Einige Tage nach meinem letzten Briefe aus Weimar wollte ich, wie ich Euch geschrieben hatte, hierher abreisen und sagte das auch bei Tisch an Goethe, der dazu ganz still war. Nach Tische aber zog er aus der Gesellschaft Ottilie in ein Fenster und sagte ihr: »Du machst, daß er hier bleibt!« Die versuchte denn nun mich zu bereden, ging mit mir in dem Garten auf und ab, ich aber wollte ein fester Mann sein und blieb bei meinem Entschlusse. Da kam der alte Herr selbst und sagte: das wäre ja nichts mit dem Eilen; er hätte mir noch viel zu erzählen, ich ihm noch viel vorzuspielen, und was ich ihm da vom Zweck meiner Reise sagte, das sei gar nichts. Weimar sei eigentlich jetzt das Ziel meiner Reise gewesen, und was ich hier entbehrte, das ich an meinen tables d'hôte finden würde, könne er nicht einsehen; ich solle noch viel Gasthäuser zu sehen bekommen. – So ging's weiter, und da mich das rührte, und Ottilie und Ulrike auch noch halsen und mir begreiflich machten, wie der alte Herr niemals die Leute zum Bleiben, und nur desto öfter zum Gehen nöthigte, und wie keinem die Zahl der frohen Tage so bestimmt vorgeschrieben sei, daß er einpaar sicher frohe wegwerfen dürfte, und wie sie mich dann bis Jena begleiten würden, so wollte ich wieder nicht ein fester Mann sein und blieb. Selten in meinem Leben habe ich einen Entschluß so wenig bereut, wie diesen; denn[309] der folgende Tag war der allerschönste, den ich je dort im Hause erlebt habe. Nach einer Spazierfahrt des Morgens fand ich den alten Goethe sehr heiter; er kam in's Erzählen hinein, gerieth von der »Stummen von Portici« auf Walter Scott, von dem auf die hübschen Mädchen in Weimar, von den Mädchen auf die Studenten, auf »die Räuber« und so auf Schiller, und nun sprach er wohl über eine Stunde ununterbrochen heiter fort: über Schiller's Leben, über seine Schriften und seine Stellung in Weimar. So gerieth er auf den seligen Großherzog zu sprechen und auf das Jahr 1775, das er einen geistigen Frühling in Deutschland nannte, und von dem er meinte: es würde es kein Mensch so schön beschreiben können, wie er; dazu sei auch der 2. [5.?] Band seines Lebens bestimmt, aber man käme ja nicht dazu vor Botanik und Wetterkunde und all dem anderen dummen Zeug, das einem kein Mensch danken will; erzählte dann Geschichten aus der Zeit seiner Theaterdirection; und als ich ihm danken wollte, meinte er: »Ist ja nur zufällig; das kommt alles so beiläufig zum Vorschein, hervorgerufen durch Ihre liebe Gegenwart.« Die Worte klangen mir wundersüß. Kurz, es war eins von den Gesprächen, die man in seinem Leben nicht vergessen kann.

Den andern Tag schenkte er mir einen Bogen seines Manuscripts von ›Faust‹ und hatte darunter geschrieben:


[310] [Dem lieben jungen Freunde Felix Mendelsohn-Bartholdy, kräftig zartem Beherrscher des Piano's, zur freundlichen Erinnerung froher Maitage 1830.]


J. W. von. Goethe.


und gab mir dann noch drei Empfehlungen hierher [nach München] mit.

...Nur noch den Abschied vom alten Herrn! Ganz im Anfang meines Aufenthalts in Weimar hatte ich von einer betenden Bauernfamilie von Adrian von Ostade gesprochen, die vor neun Jahren großen Eindruck auf mich gemacht habe. Als ich nun Morgens hineinkomme, um mich ihm zu empfehlen, sitzt er vor einer großen Mappe und meint: »Ja, ja! da geht man nun fort! Wollen sehen, daß wir uns aufrecht erhalten bis zur Rückkunft, aber ohne Frömmigkeit wollen wir hier nicht auseinandergehn, und da müssen wir uns denn das Gebet noch einigemale zusammen ansehen.« Dann sagte er mir, ich solle ihm zuweilen schreiben,... und dann küßte er mich, und da fuhren wir weg.


d.

Da ich eben auf Hensel anspiele, so muß ich ihm doch erzählen, wie mich Goethe sehr nach ihm frug und wiederholt sich nach seiner Beschäftigung erkundigte; das grüne Freundbuch muß ich ihm mehrere Tage dalassen, und er lobte es dann sehr. Die Lammgruppe in meinem Stammbuch sah er sich an und brummte:[311] »Die haben's gut! Und sieht so zierlich und hübsch aus! Und so bequem und doch schön und anmuthig!« So ging's dann weiter. Kurz, o Hensel! er ist – mit Dir zu reden – sehr für Dich.


1 Drei im Jahre 1829 für das Album von drei jungen Engländerinnen componirte Clavierstücke – später als Opus 16 herausgegeben.[312]


1769.*


1830, 1. Juni.


Mit Felix Mendelssohn-Bartholdy

Felix .... bezeichnet selbst den folgenden Tag, den 1. Juni, als den allerschönsten, den er je dort im Hause verlebt; er berichtet, wie er nach einer Spazierfahrt durch den Park den alten Herrn in bester Laune antraf, wie derselbe in's Erzählen hineinkam und sich nun eins von den Gesprächen entspann, die man in seinem Leben nicht wieder vergißt. Goethe begann den jungen Freund mit seinen Halb- und Ganzpassionen für die Schönheiten von Weimar zu necken. ›Jenny von Pappenheim‹, meinte er, ›ist gar so schön, so unbewußt anmuthig und reizend wie irgend ein leuchtend Holz oder ein Glühwurm bei Tage, man weiß nicht, wo es steckt. Zwei andre Mädchen, die Spiegels, haben ausgesehen, als gucke man in ein Paar dicke Rosensträucher... Da hatte ich einen furchtbaren Blumenstrauch[184] in meinem Garten, der blühte ganz entsetzlich, und da standen die Mädchen davor, und man konnte nur sie ansehen.‹ Nun kam er auf »Die Stumme von Portici«, auf den Engländer Stendal und Walter Scott zu sprechen. ›Mr. Stendal ist ein mittlerer Geist, hat Verstand und hat auch was gelernt, aber das Beste, Erste fehlt ihm.‹ Waverley ist der beste Roman von Scott, worin alle seine folgenden Werke liegen, ohne brillant zu sein, passend unterhaltend; ebenso nachher die Fair maid of Perth. Daher ist es hübsch, wie er sich the Author of Waverley nennt. Ebenso fing Iffland mit seinen »Jägern« an, was seine Fehler und Tugenden enthält, und Kotzebue mit »Menschenhaß und Reue«, worüber noch jetzt ›alle Damen sich todtweinen, wenn auch so mancher Herr sich dabei im Kopfe kratzt.‹ – »Schiller,« bemerkte Felix, »hat doch nicht so angefangen.« – ›Schiller,‹ fuhr Goethe fort, ›mußte sich nach seinem Don Carlos ganz umwenden; denn auf dem Wege wäre es nicht fortgegangen, obwol noch jetzt die Leute so gern seine »Räuber« sehn, weil viele davon noch auf dieser verrückten tollen Stufe stehen. So baten mich, als ich in Lauchstädt Theaterdirector war, die Studenten um »Die Räuber«; ich wollt' es nicht, wegen möglichen Skandals, indeß da sie ihr Wort gaben, ruhig zu sein, so sagte ich: ihr seid hübsche Leute, charmante Menschen, wenn Ihr also recht still sein wollt, will ich's geben. Da war es denn sehr voll, das Publicum mäuschenstill, »Ein freies Leben«[185] wurde sogar mit Feierlichkeit gesungen, und da sie nun so artig gewesen waren und auch Geld eingebracht hatten, wurden sie am folgenden Tag gelobt. Schiller konnte, was ich gar nicht kann, etwas Unmittelbares in seine Arbeiten hineinnehmen: wie er »Tell« schrieb, schweizerische Gedichte lesen, Topographien in seinem Zimmer aufhängen, und dergleichen. Er hatte ein furchtbares Fortschreiten: wenn man ihn nach acht Tagen wiedersah, so fand man ihn anders und staunte und wußte nicht, wo man ihn anfassen könnte. So ging's immer vorwärts bis sechsundvierzig Jahr, da war es denn weit genug. Er hätte zwei Trauerspiele jährlich liefern können, aber mehr nicht, nur noch außerdem Übersetzungen, Musenalmanach und dergleichen. Denn 100 Carolin, das klingt gut und er brauchte es für sich und seine Frau; denn er hatte deswegen vom Herzog ein mäßiges Gehalt verlangt, aber ausgemacht, es müßte verdoppelt werden, sobald er untüchtig zum Arbeiten wäre. Das gab ihm denn der Herzog gerne, weil er überhaupt eine Art Geiz auf große Männer hatte und darin in Weimar mehr that, als ein König.‹ – »Es ist ihm auch belohnt worden,« äußerte Felix. ›Ja‹, sprach Goethe, ›sie können ihn nun nicht wieder aus der Weltgeschichte herausstoßen, in der er einmal steht. Schuckmann wollte er herhaben, und ich stand mit ihm in Correspondenz, auch Schlosser, von dem ich ihm aber abrieth, weil er zu eisern, stets auf seinem Standpunkte stehen bleibend, eine Art Pedant war,[186] obwol er mein Schwager war und ich also wenig Anlagen zum Nepotismus zeigte. Das kam denn alles wie in einem Brennpunkt hier zusammen. O, könnte ich nur bald einen vierten Band »Leben« schreiben! Aber man kommt ja nicht dazu vor Botanik und Wetterkunde und all dem andern dummen Zeug, das einem kein Mensch danken will. Es sollte nur eine Geschichte des Jahres 1775 werden, die kein Mensch so kennt und kein Mensch schreiben kann, als ich. Wie da der Abel sich vom Mittelstand anfing übertroffen zu fühlen und sich zusammennahm, um nicht zurückzubleiben; wie da Liberalism, Jakobinism und aller Teufelsspuk auftauchte; wie sich hier nun ein neues Leben bildete, und man arbeitete und hervorbrachte, sich dann einmal verliebte zu rechter Zeit und seine Tage verdarb; wie der Aristokratism der Berliner Herren Nicolai und der anderen, der damals viel galt, von uns jungen Leuten, die wir voll Lust und Thätigkeit, dann auch wol sehr ungeschickt waren, zurückgedrängt werden mußte; wie Schiller erst einmal zu Weimar war und von niemand gekannt es wieder verließ; wie Jean Paul später kam, aber den Kreis schon geschlossen fand; wie Bertuch auf's praktische gehn, alles Mögliche, was man verlangt hervorzubringen suchte und das Industriecomptoir gründete. Ja, da war es wie im Frühling, wo alles drängt und keimt und so mancher Baum noch kahl steht, andre schon Blätter haben. Alles das Jahr 1775!‹[187]


1299.*


1830, spätestens Juni.


Mit Luise Seidler

Mein neues Bild denke ich nun in vierzehn Tagen vom Stapel laufen zu lassen. Es ist die Ausgabe von Goethe: Poesie und Kunst in der Hinsicht aufgefaßt, daß das Flüchtige und Bleibende damit ausgedrückt werde. Ich wußte mir nicht anders zu helfen, als es so zu nehmen: wie die Poesie der Kunst die Gedanken eingiebt ..... Goethe, der immer gut und freundlich und gottlob! auch wohl ist, interessirt sich für dieses Bild, als seine Aufgabe, doppelt; noch sah er aber nur den Carton.[312]


1300.*


1830, 6. Juni.


Mit Friedrich von Müller

Abends vor dem Hofe ein Stündchen bei ihm. Er war einwenig abgespannt und negirend, doch sehr freundlich. Ich gab ihm seines Sohnes Mailänder Briefe zurück, mich wundernd, daß er nichts vom Dom[312] geschrieben. »Er weiß schon, daß ich mir nichts daraus mache, ich nenne ihn nur eine Marmorhechel. Ich lasse nichts von der Art mehr gelten, als den Chor zu Köln; selbst den Münster nicht.«

Als ich ihm von dem edlen Streben der Frau Großfürstin, Weimar in der bisherigen Bedeutung, vorzüglich in socialer Hinsicht zu erhalten, erwiederte er: Das Streben ist recht und löblich, aber man muß nur den falschen Begriff einer Centralisation fern halten. Weimar war gerade nur dadurch interessant, daß nirgends ein Centrum war. Es lebten bedeutende Menschen hier, die sich nicht mit einander vertrugen; das war das Belebendste aller Verhältnisse, regte an und erhielt Jedem seine Freiheit. Jetzt finden wir hier kaum sechs Menschen, die zusammen in einen geselligen Kreis paßten und sich unterhalten könnten, ohne einander zu stören. Und nun ging er die bedeutendsten unsrer Männer durch mit epigrammatischer Schärfe und schneidender Kritik. »Darum,« damit schloß er, »entsage ich der Geselligkeit und hatte mich an die Tête à tête. Ich bin alt genug, um Ruhe zu wünschen. Ich habe keinen Glauben an die Welt und habe verzweifeln gelernt.

Was für ein unseliger Kunstkenner ist Quandt. Lauter Tobiase zu acquiriren! sind doch die Dresdner selbst blind und bedürfen der Fischblase allerseits. Vielleicht wird in der Elbe einmal ein tüchtiger Hecht gefangen, mit dessen Leber sie sich die Augen auswischen[313] können.« Er redete mir sehr zu, Müffling's Gedicht an den Großsultan dem ich »Chaos« zu überlassen.[314]


1301.*


1830, 8. Juni.


Mit Friedrich von Müller

Nachmittags von 4 bis 6 Uhr war ich bei ihm, wo ich ihn sehr heiter und mittheilend fand. »Ich bin wohl spät vernünftig geworden, aber ich bin es nun doch.« Er theilte mir die Reiseroute seines Sohnes an den Comersee und die Borromäischen Inseln mit. »Eckermann versteht am besten literarische Productionen mir zu extorquiren durch den verständigen Antheil, den er an dem bereits Geleisteten, bereits Begonnenen nimmt. So ist er vorzüglich Ursache, daß ich den ›Faust‹ fortsetze, daß die zwei ersten Acte des zweiten Theils beinahe fertig sind.«

Ich nahm Anlaß ihn an die Vollendung des vierten Theils seiner Memoiren zu erinnern. Er sagte: »In ruhigen vier Wochen könnte ich wohl damit zu Stande kommen, aber jetzt beschäftigt mich meine neue Edition der Pflanzen-Metamorphose allzusehr. Übrigens wird der vierte Theil nur das Jahr 1775 umfassen, aber einen wichtigen, inhaltvollen, gleichsam bräutlichen Zustand derselben darstellen, eine Hauptkrisis meines Lebens.«

Das ›Glaubensbekenntniß eines Denkgläubigen‹[314] nannte er, obwohl nicht mißbilligend, eine betrübende Erscheinung, weil sie auf Halbheit und kümmerlicher Accommodation beruhe. Man müsse entweder den Glauben an die Tradition festhalten, ohne sich auf ihre Kritik einzulassen, oder wenn man sich der Kritik ergebe, jenen Glauben aufgeben. Ein drittes sei nicht gedenkbar. »Mir bleibt Christus immer ein höchst bedeutendes, aber problematisches Wesen.

Die Menschheit steckt jetzt in einer religiösen Krisis; wie sie durchkommen will, weiß ich nicht, aber sie muß und wird durchkommen.

Seit die Menschen einsehen lernen, wie viel dummes Zeug man ihnen aufgeheftet, und seit sie anfangen zu glauben, daß die Apostel und Heiligen auch nicht bessere Kritik als solche Bursche wie Klopstock, Lessing und wir andern armen Hundsfötter gewesen, muß es natürlich wunderlich in den Köpfen sich kreuzen.

Mein Vater war ein tüchtiger Mann, aber freilich fehlte ihm Gewandtheit und Beweglichkeit des Geistes. Er ließ mich mit meinen Possen gewähren; obgleich alterthümlicher gesinnt in religiöser Hinsicht, nahm er doch kein Arg an meinen Speculationen und Ansichten, sondern erfreute sich seines Sohnes als eines wunderlichen Kauzes. Er tadelte nur den Leichtsinn und die geringe Achtung, mit denen ich meine Leistungen behandelte; zu mancher kleinen Zeichnung zog er selbst die Einfassungslinie, oder klebte sie auf und gab Rahmen dazu.«[315]


1302.*


1830, 27. Juni.


Mit Friedrich von Müller

Er berührte den Streit über die Wahl des Tages zur Feier der Augsburgischen Confession.1 Goethe erklärte sich für die geschehene Verlegung, allein er gab zu, daß es politischer gewesen wäre, der Volksstimme nachzugeben. »Das Volk will zum Besten gehalten sein, und so hat man Unrecht, wenn man es nicht zum Besten hält. Übrigens muß man sich um die Erfolge nichts kümmern, wenn der Beschluß vernünftig war.«


1 Endlich wurde in Weimar d. 27. Juni festgesetzt. Ein feierlicher Gesang auf dem Markte und Zug in die Stadtkirche wurde befohlen. (Geh. St.-Archiv.)[316]


1303.*


1830, 28. Juni.


Mit Friedrich von Müller

Über drei Stunden weilte ich bei ihm. Er war heiterer Laune und sehr mittheilend, zeigte mir eine Menge eigener Zeichnungen. »Es kann nicht Alles gerathen wie es sollte; das ist eben das Leben; was ist's nun weiter? Erhard, der Arzt, den Varnhagen1 trefflich schildert, war eben auch ein hübsches Talent,[316] ein guter Kopf, aber einer von den unzulänglichen Menschen, die einem so viel Qual machen, weil sie sich einbilden etwas zu sein, etwas zu können, etwas zu sollen, dem sie nicht gewachsen sind, und aus ihrer Sphäre herausgehen.«

Als ich mich über Varnhagen's Productivität wunderte, sagte er: »O Gott, der Tag ist lang, man kann entsetzlich viel thun, wenn man mit Folge arbeitet und Langeweile flieht.« Als ich ihm Elsholtzens »Hofdame«2 gab, entgegnete er: »Die guten Menschen, wenn sie nur auch was Gutes machen könnten!«

Dann erzählte er vom Aufbau des Klosters im Park und von der Wiederauffindung des darauf bezüglichen Sigmund v. Seckendorfischen Gedichtes.3

Bonnet nannte er den wackern, guten Naturhans! »Voltaire, einer der größten Geister, hatte im hohen Alter die Schwachheit, noch ein neues Trauerspiel von sich aufführen zu lassen; ich dagegen spüre immer mehr Neigung, das Beste was ich gemacht und noch machen kann, zu secretiren.«

Er erzählte von der ehemaligen Freitagsabendgesellschaft bei sich zu literarischen Zwecken. Der Herzog habe öfters beigewohnt und einst, als ihm eine Vorlesung des Staatsraths, damaligen Hofmedicus Hufeland sehr gefallen, alsobald beschlossen, ihn zum Professor[317] in Jena zu machen. Überhaupt habe der Herzog eine wahre Passion für Jena gehabt. Jene literarische Gesellschaft, wie überhaupt alles Gemeinsame, Harmonische unter Weimars ersten Männern habe eigentlich Böttiger gestört durch seine Klatschereien. Alles was er zu sehen oder zu hören bekommen, habe er nur zu seinen egoistischen Zwecken zu benutzen gestrebt.


1 Denkwürdigk. des Philosophen und Arztes Jh. Benj. Erhard Stuttgart 1830.


2 Lustspiel von 1830.


3 Gedruckt in Goethe Aufsatz: das Louisenfest.[318]


1304.*


1830, 1. Juli.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Von tausend Gelehrten [sagte Goethe] seien neunhundertneunundneunzig, denen eine Sache nichts angehe, wovon der eine fait mache und sie durchsehe. Diese ließen das gut sein, weil ihnen nichts daran liege, wie auf dem Bazar kein Kaufmann etwas dagegen habe, daß der andere seine Perlen loswerde, wenn er nur seine Shawle verschleißen könne.

Ich bemerkte, daß nicht bloß Gleichgültigkeit, sondern auch Interesse obwalte, die Sache des andern zu fördern, damit unsere auch abgehe; denn obgleich die Wissenschaften durch ein allgemeines Vinculum umschlungen zu sein gerühmt würden, so nähme eine jede doch nur von der andern gewisse lemmata (Heischesätze), berufe sich imübrigen auf die respective Wissenschaft, unbekümmert, wie es damit stehe.

Goethe kam durch obige Bemerkung darauf, zu[318] sagen (wir sahen eben die große Wirkung eines Wolkenbruches): für die Geologen, welche die Gebirge aus der Erde emporquetschen, habe es bis dahin keinen Wasserabfall gegeben. Und ich bemerkte, die Erde sei, wie das Dotter vom Eiweiß, so rings mit Wasser umrundet gewesen, daß sie darin geschwommen; durch die Blähungen des Erdkörpers sei nun erst ein Ablauf und eine Sammlung in Tellen entstanden.[319]


1305.*


1830, 2. Juli.


Mit Friedrich von Müller

Er lobte meine Rede am Johannisfest.1 Ein mäßiger Enthusiasmus, wie er sich nothdürftig rechtfertigen läßt; alles wohl zusammen gestellt, gute rhetorische Motive: »Ich bin alt genug, um das, was mir zu Ehren geschrieben wird, wie ein Unparteiischer beurtheilen und loben zu können.«

Sodann zeigte er eine herrliche Handzeichnung von Ludwig Carracci, ein Wunder mit verwandelten Rosen vorstellend, und stimmte in mein Lob über L'âne mort et la femme guillotinée [von J. Janin].

»Der ärgerliche Fall2 mit Reinhard's Schwiegersohn ist ein wahrhaft tragischer; denn tragisch nenne[319] ich eine Situation, aus der kein Ausgang war, keine Composition gedenkbar ist.«

Zufriedenheit mit meinen Äußerungen über die Geschichte seines botanischen Studiums.

»Man darf die Grundmaxime der Metamorphose nicht allzu breit erklären wollen; wenn man sagt: sie sei reich und productiv wie eine Idee, ist das beste. Man muß lieber sie an einzelnen Beispielen verfolgen und anschauen.

Das Leben kehrt eben so gut in der kleinsten Maus wie im Elephanten-Koloß ein und ist immer dasselbe; so auch im kleinsten Moos wie in der größten Palme.«

Als ich sagte: das unendlich üppige Entfalten des kleinsten Samenkorns zu einem riesenhaften Baume sei wie eine Schöpfung aus Nichts, erwiederte er: »Ja, aus Etwas. Verstünde die Natur nicht, auch das Kleinste, uns gänzlich Unmerkbare im Raume zusammen zu ziehen und zu consolidiren, wie sollte sie es da anfangen, ihren unendlichen Zwecken zu genügen?«


1 In der Loge Amalia zur Feier des 50jährigen Maurerjubiläums.


2 Discrete Privatsache.[320]


1770.*


1830, Sommer.


Mit Johannes Linder

»Die große, volle Gestalt des einundachtzigjährigen Greises hat etwas Einnehmendes. Sein Gesicht strahlt eine edle Würde aus; man fühlt, daß man vor einem großen Manne steht. Ich mache die schönste Verbeugung, die ich in fünfzehn Wochen herausgebracht habe, und stottere einige schmeichelhafte Worte von der großen Verehrung, die auch die Schweiz Sr. Excellenz schuldet und als deren Organ ich mich in diesem Augenblick anzunehmen bitte. Ein Enkel von zehn Jahren, mit einem herrlichen Gesicht, ist auch in dem großen schönen Zimmer. Ich werde zum Sopha geführt, nachdem Goethe meine Worte mit wenigem und freundlichem Lächeln erwidert hatte .... Goethe faßt mich scharf in's Auge und fängt sein Examen über den Zweck meiner Reise an. Und hier habe ich, ich gestehe es, nicht recht, wie ich sollte, bekannt. Ich habe die Brüdergemeine1 überschlagen, und gerade durch die Erwähnung von ihr würde ich meinem Minister, wie ich nachher hörte, besonders interessant geworden sein. Hingegen sagte ich ihm doch, ich hatte mich zu denen,[188] die die Bibel buchstäblich verstehen und befinde mich sehr wohl dabei, suche aber gerne auch Andersdenkende auf, weil ich überzeugt sei, daß wir auch von ihnen lernen können. Er billigte sehr die Unbefangenheit und Liberalität in religiösen Sachen. ›Die Hauptsache, die wir brauchen, ist ja sehr einfach und nahe beisammen,‹ sagte er; ›wir brauchen im Grunde gar wenig‹ ..... Er billigte sehr die Idee, auch in der Zeit der Amtsthätigkeit wieder einmal durch eine größere Reise aus dem Gewöhnlichen herauszutreten. Aus Anlaß der Nebenzwecke meiner Reise kamen wir auch auf die Armenversorgung zu reden. Als ich meinen Weidspruch anführte: die außergewöhnlichen Anstalten, die besonders in unserm Jahrzehnd für die Armenerziehung gemacht werden, seien das Werk des Samariters, der Priester- und Levitenstand dürfe aber nicht müßig vorübergehn, denn ihm sei seit Jahrhunderten die Sorgfalt für die Armuth besonders in die Hände gelegt, so konnte er nicht umhin, diesen Gedanken mit besonderer Huld aufzufassen, und mich für denselben mit einem Händedruck zu belohnen .... Herr Minister fragte auch, ob ich schon bei dem Herrn Superintendenten gewesen sei? ›O besuchen Sie doch ja unsern lieben Röhr; sie werden an ihm einen ganz vorzüglichen Mann finden.‹ Ich blieb etwa eine halbe Stunde da. Noch sprach er eine Zeit lang stehend mit mir und wünschte mir von Herzen Glück auf die Reise. Der Abschied war wirklich recht herzlich, mit Händedruck.[189] Er begleitete mich bis an die Thüre und hieß dann seinen Enkel mich herunter begleiten.«


1 In der Linder (geb. 1790) erzogen worden war, und deren nähere Kenntniß; den Hauptzweck seiner Reise ausmachte.[190]


1306.*


1830, 2. August.


Mit Friedrich Soret.1

Die Nachrichten von der begonnenen Julirevolution gelangten heute nach Weimar und setzten alles in[320] Aufregung. Ich ging im Laufe des Nachmittags zu Goethe. »Nun,« rief er mir entgegen, »was denken sie von dieser großen Begebenheit? Der Vulkan ist zum Ausbruch gekommen; alles steht in Flammen, und es ist nicht ferner eine Verhandlung bei geschlossenen Thüren!«

»Eine furchtbare Geschichte!« erwiederte ich. »Aber was ließ sich bei den bekannten Zuständen und bei einem solchen Ministerium anderes erwarten, als daß man mit der Vertreibung der bisherigen königlichen Familie endigen würde.«

»Wir scheinen uns nicht zu verstehen, mein Allerbester,« erwiederte Goethe. »Ich rede gar nicht von jenen Leuten; es handelt sich bei mir um ganz andere Dinge. Ich rede von dem in der Akademie zum öffentlichen Ausbruch gekommenen, für die Wissenschaft so höchst bedeutenden Streit zwischen Cuvier und Geoffroy de Saint-Hilaire!«

Diese Äußerung Goethes war mir so unerwartet, daß ich nicht wußte was ich sagen sollte, und daß ich während einiger Minuten einen völligen Stillstand in meinen Gedanken verspürte.

»Die Sache ist von der höchsten Bedeutung,« fuhr Goethe fort, »und Sie können sich keinen Begriff machen, was ich bei der Nachricht von der Sitzung des 19. Juli empfinde. Wir haben jetzt an Geoffroy de Saint-Hilaire einen mächtigen Alliirten auf die Dauer. Ich sehe aber zugleich daraus, wie groß die Theilnahme der franzzösischen[321] wissenschaftlichen Welt an dieser Angelegenheit sein muß, indem trotz der furchtbaren politischen Aufregung die Sitzung des 19. Juli dennoch bei einem gefüllten Hause stattfand. Das Beste aber ist, daß die von Geoffroy in Frankreich eingeführte synthetische Behandlungsweise der Natur jetzt nicht mehr rückgängig zu machen ist. Die Angelegenheit ist durch die freien Diskussionen in der Akademie, und zwar in Gegenwart eines großen Publicums, jetzt öffentlich geworden, sie läßt sich nicht mehr an geheime Ausschüsse verweilen und bei geschlossenen Thüren abthun und unterdrücken. Von nun an wird auch in Frankreich bei der Naturforschung der Geist herrschen und über die Materie Herr sein. Man wird Blicke in große Schöpfungs-Maximen thun, in die geheimnisvolle Werkstatt Gottes! Was ist auch im Grunde aller Verkehr mit der Natur, wenn wir auf analytischem Wege bloß mit einzelnen materiellen Theilen uns zu schaffen machen, und wir nicht das Athmen des Geistes empfinden, der jedem Theile die Richtung vorschreibt und jede Ausschweifung durch ein inwohnendes Gesetz bändigt oder sanktionirt!

Ich habe mich seit funfzig Jahren in dieser großen Angelegenheit abgemüht; anfänglich einsam, dann unterstützt, und zuletzt zu meiner großen Freude überragt durch verwandte Geister. Als ich mein erstes Aperçu vom Zwischenknochen an Peter Camper schickte, ward ich zu meiner innigsten Betrübniß völlig ignorirt. Mit[322] Blumenbach ging es mir nicht besser, obgleich er nach persönlichem Verkehr auf meine Seite trat. Dann aber gewann ich Gleichgesinnte an Sömmerring, Oken, D'Alton, Carus und andern gleich trefflichen Männern. Jetzt ist nun auch Geoffroy de Saint-Hilaire entschieden auf unserer Seite und mit ihm alle seine bedeutenden Schüler und Anhänger Frankreichs. Dieses Ereigniß ist für mich von ganz unglaublichem Werth, und ich juble mit Recht über den endlich erlebten allgemeinen Sieg einer Sache, der ich mein Leben gewidmet habe und die ganz vorzüglich auch die meinige ist.«


1 Über das Zweifelhafte bei dieser Mittheilung s. Düntzer der 6. Auflage von Eckermann's Gesprächen mit Goethe (Leipzig 1885) III, 287.[323]


1307.*


1830, erste Hälfte August (?).


Mit Friedrich von Müller

Und jetzt noch ein Wort über Frankreich! Der Eindruck, den diese blitzschnelle Revolution auch hier gemacht, ist unbeschreiblich. Keine größere Krisis haben wir gehabt. Goethe spricht: er könne sich nur dadurch darüber beruhigen, daß er sie für die größte Denkübung ansehe, die ihm am Schlusse seines Lebens habe werden können. Wir hoffen gleich Ihnen [Rochlitz], daß das Princip des Guten die Oberhand behalten werde, sind aber freilich auch nicht ohne ernste Besorgnisse.[323]


1771.*


1830, 21. August.


Mit Karl von Hase

Vorgestern .... fuhr ich nach Weimar. Ich war gerade in der Studirstube Herders, der mit Schleiermacher mein theologischer Heiliger ist, als ihr dermaliger Insasse, Röhr, zu mir sagte: Sind Sie noch nicht bei Goethe gewesen? nun, so müssen Sie gleich hin, er hat schon mehrmals nach Ihnen gefragt und freut sich Sie zu sehen .... – Ich wurde in einem großen Zimmer allein gelassen, der Herr werde gleich kommen .... Ich betrachtete mir eifrig die Gegenstände, um ruhiger zu werden; denn Sie würden nicht wieder sagen, daß ich hochmüthig sei, wenn Sie gefühlt hätten, wie stürmisch das Herz mir schlug und wie tief ich mich beuge vor der Majestät des Geistes, wo Sie mir wahrhaft entgegentritt. Bald kam er; das letzte Bayersche Bild ist sehr ähnlich, der erste Eindruck streng und imposant, wie eine großartige Ruine. Nun hätte ich nichts mehr gewünscht, wie wir zusammen auf dem Sofa saßen, als daß ein anderer geredet hätte und ich still hätte zuhören und betrachten können. Das Gespräch blieb durchaus gemessen und ruhig, er[190] schien wohlwollend im allgemeinen ohne etwas Persönliches und Herzliches. Der Anfang ziemlich ministeriell über das, was Jena mir biete und von mir erwarte. Dann ein Abschweif, der etwas Goethisch klang, von dem Ineinandergreifen und gegenseitigen Fördern geistiger Kräfte, dadurch man allein der unendlichen Aufgabe des Lebens näher rückte, wenn man auch nimmer zu Ende komme. Daß dieses eben das Beste sei, konnte ich aus eigner Herzensmeinung hinzufügen, da das Leben eng und ängstlich sein würde, wenn auch in noch so weiter Ferne, aber doch irgendwo, Bretter um die Welt geschlagen wären. Die Frage nach der Ludovisischen Juno und die Antwort, daß sie es sei, führte uns dann endlich nach Italien hinein, und ich konnte ihm erzählen, wie ich zumal in Girgenti als ein zweiter dankbarer Nachfahrer sein Andenken mit einem Freunde gefeiert hätte, nach welchem er sich denn auch weiter erkundigte.[191]


1308.*


1830, 21. August.


Mit Friedrich Soret

Ich empfahl Goethen einen hoffnungsvollen jungen Menschen [Ettmüller]. Er versprach, etwas für ihn zu thun, doch schien er wenig Vertrauen zu haben.

»Wer wie ich,« sagte er, »ein ganzes Leben lang kostbare Zeit und Geld mit der Protection junger Talente verloren hat, und zwar Talente, die anfänglich die höchsten Hoffnungen erweckten, aus denen aber am Ende gar nichts geworden ist, dem muß wohl der Enthusiasmus und die Lust, in solcher Richtung zu wirken, nach und nach vergehen. Es ist nun an euch jüngern Leuten, den Mäcen zu spielen und meine Rolle zu übernehmen.«

Ich verglich bei dieser Äußerung Goethes die täuschenden Versprechungen der Jugend mit Bäumen, die doppelte Blüthen, aber keine Früchte tragen.[324]


1309.*


1830, 28. August.


Mit Heinrich Franke u.a.

Zur Feier von Goethes Geburtstag, am 28. August 1830, hatte die Weimarische Bühne den umgearbeiteten »Götz von Berlichingen« vorbereitet. Mehrere der Theatermitglieder, unter ihnen Franke, fanden sich am[324] Morgen bei dem Altmeister ein, um ihm ihren Glückwunsch darzubringen und die Bitte vorzutragen, die Abendvorstellung doch mit seinem Besuche zu beehren. Goethe lehnte in milder Weise die Bitte ab, meinte aber später, als man ihm sagte, daß sein Erscheinen auf alle Mitwirkende begeisternden Einfluß haben würde: »Nun, wir wollen einmal sehen!« – Im übrigen unterhielt er sich mit großem Interesse von seinem »Götz« und den einzelnen Rollen darin. So redete er auch Franke an: »was geben Sie denn heute Abend?« -»Ich gebe den Lerse, Excellenz.« Da richtete sich Goethe auf, seine Züge wurden heiter, und er sagte: »Hören Sie, Herr Franke! diese Rolle muß Ihnen Vergnügen machen. Unter diesem Lerse habe ich mir einen so recht biedern deutschen Haudegen gedacht; das ist ein tüchtiger Kerl! Diese Rolle muß Ihnen Vergnügen machen.«

Und so war es auch. Einige Tage darauf sagte der Dichter dem Darsteller der Rolle Anerkennendes über die Vorstellung und über den Lerse – was er nämlich von anderen darüber gehört habe; denn vergeblich hatten die Künstler am Abend des 28. August nach der Loge des »Geheimen Raths« gesehen; sie war leer geblieben, wie immer, und blieb auch leer fernerhin.[325]


1310.*


1830, 29. August.


Mit Eduard Genast

In Weimar... fanden die Vorbereitungen zu »Götz von Berlichingen« statt, womit das Theater an Goethes Geburtstag wieder eröffnet wurde. Er wohnte der Vorstellung, wie sehr ich ihn auch bat, nicht bei, weil eben sein Geburtstag war und er in seinem hohen Alter Acclamationen vermied. Den andern Tag ging ich zu ihm, um den Erfolg mitzutheilen; er sagte: »Nun, ich habe schon von Eckermann1 viel Gutes über Deinen Götz gehört: Du sollst Dich sehr wacker gehalten haben! Die letzte Redaction dieses Schauspiels, die ich eigentlich auf Veranlassung Schiller's unternommen habe, will mir durchaus nicht behagen. Durch die Hinweglassung des bischöflichen Hofs wird das Ganze nur eine Ritterkomödie, und meine ursprüngliche Idee, das damalige Hof- und Ritterleben zu schildern, zerspaltet sich. Man könnte wohl den Versuch machen, es in der Form wieder zur Darstellung zu bringen, in der ich es im Jahre 1809 dem Publicum vorführen ließ.« Als ich entgegnete, daß wenn er sich entschließen könnte, die Redaction davon zu übernehmen, der Herr v. Spiegel mit großem Dank[326] seine Gabe empfangen werde, versetzte er: »Nun, das könnte wohl geschehen, wenn sich Zeit und Gelegenheit dazu fände.«


1 Unmöglich! Der war damals noch nicht von seiner Reise nach Oberitalien zurück.[327]


1311.*


1830, August.


In Dornburg

Im August 1830 kam Goethe noch einmal, und zwar mit drei Herren ans Petersburg nach Dornburg. Der Empfang war, wie jedesmal bei seinem Kommen, ein äußerst freundlicher. Die Herren amusirten sich im traulichen Gespräch in den Gartenräumen, während ich [Sckell], auf diesen Besuch nicht vorbereitet, die Küche bestellen half. Während der Tafel ließ mich Goethe auf sein Zimmer kommen, sprach nebst den Fremden seine volle Zufriedenheit über das improvisirte Mahl aus und nöthigte mich, ein Glas Champagner zu trinken. Nach Tische mußte ich den fremden Herren auf Goethes Veranlassung über Verschiedenes Auskunst ertheilen. Da trat der Bediente herein und meldete, daß angespannt sei. Darauf kam Goethe auf mich zu, beschenkte mich wieder in reichem Maße und sagte: »Das wird nun wohl das letzte Mal gewesen sein, daß ich Sie besucht habe, aber Sie können mich in Weimar besuchen.« Ich dankte für seine Freundlichkeit und erwiederte, daß, falls es meine Geschäfte erlaubten, nach Weimar zu kommen, ich nicht verfehlen[327] werde, ihm meine Aufwartung zu machen. Goethe reichte mir darauf nochmals die Hand, sie herzlich drückend und mich liebevoll ansehend, sprach er: »Nun, lieber Freund, leben Sie wohl! Der liebe Herrgott erhalte Sie und die lieben Ihrigen noch viele Jahre recht gesund!« und fügte mit gen Himmel gerichteten Augen, in denen eine Thräne glänzte, innig gerührt hinzu: »Dort oben finden wir uns wieder.«1


1 Nachdem Goethe den Sckell nach Weimar eingeladen![328]


1312.*


1830, 31. August.


Mit Johann Ludwig Deinhardstein u.a.

Als ich von meinem Spaziergange zurückgekehrt war, schickte ich zu Goethe und ließ ihn infolge einer in früherer Zeit gütig an mich ergangenen Einladung fragen, wann ich ihm aufwarten dürfe. Er ließ mir erwiedern, ich möchte gleich kommen. Mit einer Art heiligen Scheu betrat ich sein Haus. Über eine breite Treppe, an der einzelne Abgüsse von Statuen stehen, kommt man zu seiner Wohnung im ersten Stockwerke. Vor der Schwelle seiner Wohnzimmer ist ein längliches Viereck auf Mosaikart eingelegt mit dem freundlichen Worte: Salve. Das erste Zimmer fand ich mit Blumen geschmückt und mit schöner Majolica, im zweiten, an Bildern, Gipsabgüssen von Statuen und schönen Stickereien reichen, trat er mir entgegen. Er war in einen[328] einfach braunen Oberrock gekleidet und hatte das Halstuch lose umgeworfen, ohne Hemdkragen, gerade so, wie er von Stieler gemalt ist ..... Goethe hat alles Ehrwürdige des Greisenalters und noch bedeutende Reste von der Kraft früherer Jahre. Seine Haltung ist vollkommen gerade, sein Blick voll Feuer und Leben. Ein besonders gütiges Wohlwollen, fern von jeder Affectation, herrscht in seinem Benehmen vor. Wir sprachen lange, meistens über die literarischen Verhältnisse Österreichs. Er schenkte der kleinsten Bemerkung Aufmerksamkeit. Beim Fortgehen ersuchte er mich, Abends nach fünf Uhr wieder zu ihm zu kommen, wo ich einige der bedeutendsten Männer Weimars kennen lernen sollte; auch seiner Schwiegertochter wollte er mich vorstellen.

– – – – – – – – – – – – – – – – –

Um 5 Uhr ging ich zu Goethe. Ich fand dort, außer seiner höchst liebenswürdigen und geistreichen Schwiegertochter, den Kanzler Geheimen Rath Müller, Oberbibliothekar Riemer und Oberconsistorialrath Röhr. Ich werde diesen Abend nie vergessen. Welch reiner geistiger Verkehr! welch eine im eigentlichsten Verstande gute Gesellschaft! Es wurde mitunter auch mit vieler, Achtung der bedeutenderen Schriftsteller meines Vaterlandes [Österreich] vergangener und gegenwärtiger Zeit gedacht, unter den letzteren besonders Pyrker's und Grillparzer's. Goethe war die Liebenswürdigkeit selbst, belebt und voll Humor. Mit herzlicher Anhänglichkeit[329] ist er seinem kleinen zwölfjährigen Enkel zugethan, der beständig in seiner Nähe ist. Die gewählte Toilette hatte Goethen noch besser aussehen gemacht, als Vormittag: er war ganz schwarz gekleidet und trug den Stern des Großkreuzes eines der vielen Orden, die ihm die anerkennende Huld der Mäcene seiner Zeit verliehen, an der Brust. Er sah in Haltung und Benehmen einem Manne weit ähnlicher, als einem Greise. Sein Kopf ist ganz der eines Jupiters: die Stirne gewölbt und edel, das Auge voll Glanz und Kraft und eine unnachahmliche Hoheit um den Mund. Alles an ihm ist Ordnung und Ebenmaß.

Das Gespräch wendete sich zu den englischen Autoren und vorzugsweise zu Byron. Ich gedachte dabei zufällig einer Übersetzung des ›Marino Falieri‹ von tor Hardt und lobte sie als die beste, die mir von einem Byron'schen Werke zu Gesichte gekommen war; Goethe trat meiner Ansicht bei, und als seine Schwiegertochter ihn fragte, ob er das Buch besitze, antwortete er ihr, daß dem so sei, daß er es aber – weil er sich deshalb schuldig wisse, daß er dem Manne, der es ihm zugesandt, noch nicht geantwortet – vor ihr verborgen gehalten habe, um nicht an seine Pflicht erinnert zu werden, der er aus Mangel an Zeit noch nicht habe nachkommen können. All das that er mit einer Munterkeit und einem Humor von der liebenswürdigsten Art.

Beim Fortgehen ladete er mich für den künftigen[330] Tag zu Tische. »Ich möchte so gerne« – sagte er mit unbeschreiblicher Gemüthlichkeit – »Ihnen Ihren hiesigen Aufenthalt so angenehm machen, als mir möglich.«[331]


1313.*


1830, August oder September.


Über die »Briefe eines Verstorbenen«

Lies Du [Freifrau v. Beaulieu]: ›Briefe eines Verstorbenen‹ etc. (von Pückler-Muskau) – Goethe sagt, es sei das beste Buch, was neuerdings erschienen, in jedem Betracht, und ich [Caroline Gräfin Egloffstein] bin stolz auf mein eigen Urtheil geworden, weil ich es vor ihm gesagt habe.[331]


1314.*


1830, August oder September (?).


Mit Friedrich von Müller

Über den Eindruck Ihrer [Rochlitzens] Recension (im 50. Bande der Wiener ›Jahrbücher der Literatur‹ über ›Goethe neuste, in der letzten Ausgabe seiner Werke... zuerst bekannt gemachte Schriften..‹) auf Goethe kann ich sie gänzlich beruhigen. Noch ehe er wußte, wer sie verfaßt, pries er mir sie schon unbedingt an, und als er erfuhr, wem er sie zu danken habe, erhöhte sich seine Freude noch mehr. In[331] der That: was in aller Welt könnte ihn auch daran choquiren? Gerade, daß sie nicht unbedingt lobend ist, macht ihren Werth.[332]


1315.*


1830, 5 September.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Wie Mineurs und Antimineurs, so kommen mir die Parteien der Naturforscher Cuvier und Geoffroy [St. Hilaire] vor: die einen graben von außen hinein, die andern von innen heraus und wenn sie geschickt sind, so müssen Sie in der Mitte zusammenkommen.«[332]


1316.*


1830,1. October.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Ich las in ›Tristram Shandy‹ und bewunderte aber- und abermal die Freiheit, zu der sich Sterne zu seiner Zeit emporgehoben hatte, begriff auch seine Einwirkung auf unsere Jugend. Er war der erste, der sich und uns aus Pedanterei und Philisterei emporhob.«[332]


1772.*


1830, 29. October.


Mit Caroline von Wolzogen

Am 29. October, als er [August v. Goethe] schon todt war, sprach mir noch der Vater in Weimar mit Freude von seinen Briefen und von der Art, wie er die Reise benützte. Mehrere Tage [nach der Todesnachricht] hat er darüber gar nicht gesprochen. Jetzt[191] soll er mit Ottilie sprechen und die gemeinsamen Angelegenheiten bedenken.[192]


1317.*


1830, 9. November.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Wenn man die Früchte besserer Klimate genießt, so wird man augenblicklich hinüberversetzt und die Einbildungskraft erhöht den Genuß.«[332]


1318.*


1830, um 10. November.


Mit Friedrich von Müller u.a.


a.

Sein Sohn ist zu Rom am 27. October plötzlich durch einen Schlagfluß hinweggerafft worden.

– – – – – – – – – – – – – – – –

Sie [Rochlitz] können leicht ermessen, welche bittere Ausgabe es für mich war, solche Schreckenskunde dem ehrwürdigen Vater beizubringen. Doch er empfing sie mit großer Fassung und Ergebung. »Non ignoravi, me mortalem genuisse!« rief er aus, als seine Augen sich mit Thränen füllten.


b.

Und was für Berichte haben wir.. aus Weimar erhalten! Der Kanzler, der ewige Pasquale, hatte mit Vogel übernommen, dem Vater die Trauerpost kundzuthun. Der Alte hat sie nicht ausreden lassen. »Als er fortging, gab ich ihn schon verloren« – hat er gesprochen, hat sie verabschiedet und die Herren konnten mit sich selbst nicht einig werden, ob er sie wirklich verstanden. Zu Ottilien sagte er: »August kommt nicht wieder, desto fester müssen wir beide aneinanderhalten.«[333]


1319.*


1830, 23. November.


Mit Johann Peter Eckermann

Ich ging zuerst zu Frau v. Goethe .....

Ich ging sodann zu Goethe hinunter. Er stand[333] aufrecht und fest und schloß mich in seine Arme. Ich fand ihn vollkommen heiter und ruhig. Wir setzten uns und sprachen sogleich von gescheidten Dingen, und ich war höchst beglückt, wieder bei ihm zu sein. Er zeigte mir zwei angefangene Briefe, die er nach Nordheim an mich geschrieben, aber nicht hatte abgehen lassen. Wir sprachen sodann über die Frau Großherzogin, über den Prinzen und manches andere; seines Sohnes jedoch ward mit keiner Silbe gedacht.[334]


1320.*


1830, 25. November.


Mit Johann Peter Eckermann u.a.

Goethe sendete mir am Morgen einige Bücher, die als Geschenk englischer und deutscher Autoren für mich angekommen waren. Mittags ging ich zu ihm zu Tische. Ich fand ihn eine Mappe mit Kupferstichen und Handzeichnungen betrachtend, die ihm zum Verkauf zugesendet waren. Er erzählte mir, daß die Frau Großherzogin ihn am Morgen mit einem Besuche erfreut, und daß er ihr meine Ankunft verkündigt habe.

Frau von Goethe gesellte sich zu uns, und wir setzten uns zu Tische. Ich mußte von meiner Reise erzählen. Ich sprach über Venedig, über Mailand, über Genua, und es schien ihm besonders interessant, nähere Nachrichten über die Familie des dortigen englischen Consuls zu vernehmen. Ich erzählte sodann von Genf, und er erkundigte sich theilnehmend nach der Familie[334] Soret und Herrn von Bonstetten. Von letzterm wünschte er eine nähere Schilderung, die ich ihm gab, so gut es gelingen wollte.

Nach Tische war es mir lieb, daß Goethe von meinen Conversationen zu reden anfing. »Es muß Ihre erste Arbeit sein,« sagte er, »und mir wollen nicht eher nachfassen als bis alles vollkommen gethan und im Reinen ist.«

Übrigens erschien Goethe mir heute besonders still und oft in sich verloren, welches mir kein gutes Zeichen war.[335]


1321.*


1830, Anfang December.


Mit Johann Peter Eckermann

Goethe setzte uns vorigen Freitag [26. November] in nicht geringe Sorge, indem er in der Nacht von einem heftigen Blutsturz überfallen wurde und den ganzen Tag nicht weit vom Tode war.

– – – – – – – – – – – – – – – – –

Nach Goethes rasch erfolgender völligen Genesung wendete er sein ganzes Interesse auf den vierten Act des »Faust« sowie auf die Vollendung des vierten Bandes von »Wahrheit und Dichtung«.

Mir empfahl er die Redaktion seiner kleinen bis dahin ungedruckten Schriften, desgleichen eine Durchsicht seiner Tagebücher und abgegangenen Briefe, damit es[335] uns klar werden möchte, wie damit bei künftiger Herausgabe zu verfahren.

An eine Redaktion meiner Gespräche mit ihm war nicht mehr zu denken; auch hielt ich es für vernünftiger, anstatt mich mit dem bereits Geschriebenen zu befassen, den Vorrath ferner durch Neues zu vermehren, so lange ein gütiges Geschick geneigt sein wolle es mir zu vergönnen.[336]


1322.*


1830, gegen Ende (?).


Mit Karl Vogel

Ich gedenke noch..., wie Goethe nach dem Tode seines Sohnes eines Tages mit hervorbrechendem Unmuthe und deutlicher Beziehung äußerte: »Daß die Eltern vor den Kindern sterben, ist in der Ordnung, unnatürlich aber ist, wenn der Sohn vor dem Vater abgefordert wird.«[336]


1323.*


1830, 22. December.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Was einmal gut gedacht und gesagt ist, soll man beruhen lassen und nichts daran ändern.«[336]


1567.*


1830.


Mit William Makepeace Thackeray u.a.

Of course I remember very well the perturbation of spirit with which, as a lad of nineteen, I received the long expected intimation that the Herr Geheimrath would see me on.. a morning. This notable audience took place in a little antechambre of[115] his private apartments, covered all round with antique casts and bas-reliefs. He was habited in a long grey or drab redingot, with a white neckcloth and a red ribbon in his buttonhole. He kept his hands behind his back, just as in Rauch's statuette. His complexion was very bright, clear, and rosy. His eyes extraordinarily dark, piercing, and brilliant. I felt quite afraid before them, and recollected comparing them to the eyes of the hero of a certain romance called Melmoth the Wanderer, which used to alarm us boys thirty years ago; eyes of an individual who had made a bargain with a Certain Person, and at an extreme old age retained the eyes in all their awful splendour. I fancied Goethe must have been still more handsome as an old man than even in the days of his youth. His voice was very rich and sweet. He asked me questions about myself, which I answered as best I could. I recollect I was at first astonished, and then somewhat relieved, when I found he spoke French with not a good accent ....

Any of us who had books or magazines from England sent them to him, and he examined them eagerly. Frazer's Magazine had lately come out, and I remember he was interested in those admirable outline portraits which appeared for awhile in its pages. But there was one, a very ghastly caricature of Mr. R-, as Madame de Goethe told me, he shut up and put away from him angrily. ›They[116] would make me look like that‹, he said; though in truth I can fancy nothing more serene majestic, and healthy looking, than the grand old Goethe.[117]


Quelle:
Goethes Gespräche. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Band 1–10, Leipzig 1889–1896, Band 9.1, S. 115-118.
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