Das I Hauptstück.
Historie und Vertheidigung des Syllbenmaaßes überhaupt, und des deutschen insonderheit.

[634] 1 §.


Wenn wir den rechten Grund und Ursprung des poetischen Syllbenmaaßes erforschen wollen: so müssen wir in die ersten Zeiten zurück gehen, als die Poesie noch in der Wiege gelegen hat. In diesen Tagen, als die bloße Natur eine so schöne Tochter zur Welt brachte, war sie noch ohne allen Putz, den ihr nach und nach die Kunst angeleget hat. Sie redete gleich den Kindern, oder lallete vielmehr bloß die Sprache der Leidenschaften; sie drückte ihre Empfindungen, in einer ungezwungenen Lebhaftigkeit, voller Feuer und Nachdruck, bald zärtlich, bald heftig aus: wußte aber weiter von keinen andern Zierrathen, als welche die Veränderung der Töne in der Aussprache, oder eine gewisse Art einer unförmlichen Musik, zuwege bringen konnte. S. das I Cap. meiner kritischen Dichtkunst1.

2 §. Auf diese ersten Versuche, worinnen die ältesten Völker, ohne vorhergehende Beyspiele, sich selbst die Bahne gebrochen, mögen wohl diejenigen bessern Lieder gefolget[634] seyn, die uns von den alten Hebräern, unter dem Namen der Psalmen2 übrig geblieben sind. Diese haben schon eine etwas abgemessenere Gestalt, indem allemal zwo Zeilen zu einem Verse gehören, die ungefähr von gleicher Länge sind, Diese aber haben weder eine gleiche Anzahl von Syllben, noch eine richtige Abwechselung langer und kurzer Syllben, noch einen gleichklingenden Ausgang der Endsyllben; d.i. keinen Reim. Kurz, sie klingen im Hebräischen nicht viel anders, als das älteste hebräische Lied, das Mirjam am rothen Meere anstimmete, im Deutschen klingt:


Ich will dem Herrn singen; denn er hat eine herrliche That gethan:

Roß und Wagen hat er ins Meer gestürzet etc.


Oder wie Debora und Barak gesungen haben:


Lobet den Herrn, daß Israel wieder frey geworden;

Und daß das Volk willig dazu gewesen ist.


3 §. Auf eben die Art sehen die ältesten Überbleibsel der saliarischen und fescenninischen Verse bey den Römern, und der ältesten nordischen Völker ihre aus, die noch übrig geblieben sind. Sie hatten weder eine richtige Syllbenzahl noch ein Syllbenmaaß, noch Reime: bis endlich die Natur des Gesanges die Ohren etwas zärtlicher, und die Aussprache feiner gemachet hatte. Olaus Worm soll uns hernach aus seiner LITERATURA RUNICA in einer Strophe alter nordischer Verse das Beyspiel geben: wo man vergeblich Syllbenmaaß, Wohlklang oder Reim suchen wird. Die Musik nämlich, die sich nach dem Othem des Singenden richten mußte, erfoderte einige gleichere Abschnitte; in den Zeilen aber eine[635] Abwechselung langer und kurzer Töne, damit nicht alles in einerley Langsamkeit und Geschwindigkeit ausgesprochen würde. Dieses hat; wie ich glaube, den ersten Grund zur Scansion, und zu einer gemessenen Art von Versen geleget3.

4 §. Hierzu half nicht wenig, daß die Sprachen, die im ersten Ursprunge mehrentheils aus einsyllbigten Wörtern bestunden, allmählich auch vielsyllbigte Wörter bekommen haben. Denn je mehr Nebenbegriffe dieselben auszudrücken anfiengen, je genauer man den Zusammenhang der Gedanken bestimmen wollte: desto mehr Syllben bekamen die Wörter, theils vor, theils hinter sich: und da war nichts natürlicher, als daß in der Aussprache die Hauptsyllbe, oder das Stammund Wurzelwort, einen längern Ton bekam; das ist, mit größerm Nachdrucke ausgesprochen werden mußte. Die natürliche Aussprache gab also dem Gehöre schon eine, obwohl unordentliche Abwechselung, langer und kurzer Syllben zu bemerken; wie alle Sprachen zur Gnüge zeigen4.

5 §. Dichter und Sänger nun, die ein musikalisches Gehör hatten, merketen bald darauf, daß ein langer Ton, zu einer kurzen Syllbe sich eben so schlecht schickete, als ein kurzer Laut zu einer langen Syllbe. Ein Exempel von der Sache zu haben, nehme man das alte deutsche Lied: Vater unser[636] im Himmelreich. Nach der natürlichen Aussprache, sind die beyden ersten Wörter zween Trochäen, die man so zu zeichnen pflegt:


– U – U

Vater unser.


Zieht man aber den Fortgang, und die folgende Zeile, nebst der Musik in Betrachtung: so ist alles folgende jambisch, und muß so gezeichnet und gesungen werden.


U – U – U – U –

Vater | unser | im Him|melreich


U – U – U – U –

Der du | uns al|le hei|ßest gleich | etc.


Eben so geht es mit der dritten Zeile, die man der Melodie nach, wider ihre Natur so aussprechen muß.


U – U – U – U –

Brüder | seyn und | dich ru|fen an | etc.5


Das war nun dem Gehöre eine schlechte Gnüge gethan!

6 §. Wie übel nun dieses klänge, das hörten die ersten zärtlichen Ohren eines Dichters, auch ohne Regel u. Unterricht: ja nicht nur die Dichter, sondern auch das gemeine Volk[637] ward es allmählich gewahr, daß ein Vers, der solch eine verkehrte Aussprache nicht erfoderte, viel besser klang, als ein solcher, darinn man wider die gewohnte Art zu reden, lesen und singen mußte. Cicero bezeuget dieses von seinen Römern, wenn er schreibt:


»Da im Machen, zwischen einem Gelehrten und Ungelehrten ein so großer Unterschied ist: so ist es ein Wunder, wie wenig sie im Urtheilen unterschieden sind. Denn da die Kunst von der Natur entstanden ist, so wird jene gewiß nichts ausrichten: wofern diese nicht beweget und ergetzet. Nichts aber ist unsern Seelen so sehr verwandt, als ein Tonmaaß, und der Gesang etc. welches Numa, jener gelehrte König, und unsere Vorfahren wohl verstanden haben; wie bey ihren feyerlichen Gastmahlen die Seytenspiele und Pfeifen, imgleichen die saliarischen Lieder zeigeten etc. Wie aber der Pöbel in den Versen gewahr wird, wo man gefehlet hat; so merket ers auch, wenn irgend in unsern Reden etwas hinket« etc.6


7 §. Aus diesem zarten Gehöre nun, leite ich es her, daß die ältesten Dichter, die ohne dieß ein musikalisches Volk waren, schon um des Linus, Musäus, Orpheus und Amphions Zeiten, wohlklingende Lieder gemachet, die eine grobe Art von Syllbenmaaße gehabt: obgleich ihnen noch kein Sprachlehrer und Kunstrichter, von der Länge und Kürze der Syllben, Regeln gegeben hatte. Fehlten sie aber, wie zu vermuthen ist, bisweilen noch, so besserten es[638] ihre Nachfolger je mehr und mehr. Daher kömmt es, daß Homer, Hesiodus, Anakreon, Sappho und Pindarus, bloß nach dem Tone ihrer Musik und Melodien, verschiedene Versarten erfunden; ehe ihnen noch jemand Anweisung gegeben hatte, wie sie das verschiedene Syllbenmaaß derselben einrichten sollten. Daher haben endlich auch die von aller europäischen Kunst entfernten Peruaner in America, lange vor der Spanier Ankunft, wohl scandirte Lieder gehabt; denen es auch ein ihrer Sprache nicht kundiger anhören kann, daß sie ein Syllbenmaaß haben7.


8 §. Wollen wir auf unsere Landsleute kommen, so ist freylich in den ältesten Zeiten keine größere Richtigkeit von ihnen beobachtet worden, als in den Psalmen der Hebräer. Ottfried, der in der Hälfte des IX Jahrhunderts schrieb, zählet seine Syllben nicht einmal recht, und mischet bald jambische, bald trochäische Zeilen unter einander: welches gewiß keine Schönheit ist. Allein, dieß war der Rauhigkeit seiner Zeiten zuzuschreiben8. Ganz anders gieng es im XIIten Jahrhunderte, zu Kaisers Friedrichs des I Zeiten. Z.E. im 32sten[639] Verse der Winsbekischen Ermahnung an seinen Sohn, heißt es ganz jambisch:


U – U – U – U –

Sun, du | solt sel | ten schaf | fen icht |

An deiner wisen Fründe rat

Ob dir daran gelunge nicht

Das were niht ein missetat.


Will man ein trochäisches aus eben diesen Zeiten haben: so kann folgendes, aus einem Manuscripte unserer Rathsbibliothek zur Probe dienen:


– U – U – U – U

Ich quam | da mit | Vreuden | saissen |

Ritter nüne sunder pin

Reyner Wibe lof sie maissen

Sprach der erst die vrauwe min

Is ein erin Husgeruste

Minis Herzen mut geluste

Hait mir got an ir gegebin etc.[640]


9 §. Wären nun diese guten Muster allenthalben bekannt und gemein geworden, so würde man viel eher gut scandirte Gedichte in Deutschland bekommen haben. Allein, die damalige Schwierigkeit, geschriebene Bücher recht unter die Leute zu bringen, hinderte den Fortgang der guten Prosodie sehr. Im Anfange des XIX Jahrh. nämlich 1312 lebte Niklas Jeroschim, der eine preußische Chronik in Reimen aufsetzete. Die pergamentne Handschrift davon ist von der Königsbergischen Schloßbibliothek nach Berlin genommen worden; wo sie also noch seyn muß: eine Nachricht davon aber, steht in der preuß. Sammlung II B. im V St. Dieser Dichter giebt uns in seiner Vorrede die damaligen Regeln der deutschen Poesie an, nach denen er sich gerichtet: wo man aber nichts von der Länge und Kürze, sondern nur von der Zahl der Syllben höret, die nicht unter sechs, und nicht über neun, in einem Verse vorkommen dörften. Seine Worte lauten halb jambisch, halb trochäisch, also:


Ouch des Tichters Zunge

An der Materien Straße

Soll die rechte Maße,

Gehaltin an den rymen

Glich zu glichen lymen

In lenge sine Lute

Das sich alles betute

Viel Worte man glich schribet

Der Lute unglich blibet.

Solch rimen soll man miden

Den Sin ouch nit verschniden

Die Lenge hält der Silben zahl

Darunter man ouch merken sal

Das fünf Silben sind zu kures,

Zehen han zu langen schures

Zwischen den zween enden

Rimen die behenden.


(d.i. geschickten Dichter.)


10 §. Nach diesen Regeln nun haben sich die Dichter selbiger Zeiten mehr oder weniger gerichtet, wie ich anderwärts9 durch alle Jahrhunderte zeigen werde. In eben dem[641] XIVten Jahrhunderte lebte der Teichner, ein österreichischer Dichter, der sich vor andern eines genauen Syllbenmaaßes befliß. Er hat fast lauter trochäische Verse, und zwar von verschiedener Länge gemachet, wie folgende Proben zeigen werden. Das eine Gedicht hebt so an:


– U – U – U –

Von ge | schicht ein | frawn ich | vand

Das ich zarters nie bechant

Gar ze wunsch an allen prechen

Abt ich torst ein wort nicht sprechen etc.


Über das zweyte von der Empfängniß Mariä, hat eine neuere Hand des Vorredners, Augustins von Hammersteten, wiewohl mit schlechterer Geschicklichkeit im scandiren, ausdrücklich in trochäischen Zeilen geschrieben:


– U – U – U –

Vff si | ben syl | leb ge | macht,

Merks die sach Ir Inhalt acht

– U – U – U –

Ir hort | wol die | heilig | schrift

Sey ein Vellung und ein gift

Da mans nach dem Text verstat

Und die gloß darczu nicht hat

Dauon sind die Juden swach

Das sie gent dem texte nach etc.


Wer dieß nicht für einen mit Fleiß gesuchten Wohlklang erkennet, der muß ein schlechtes Gehör haben.


11 §. Der erste aber, der sichs im XVten Jahrhunderte unterwunden, recht nach der Kunst zu scandiren, ist ein gewisser Joseph gewesen, der 1486 ein Gedicht von der[642] Buhlschaft gemachet: wie der Schluß seines Gedichtes zeiget, welches ich von der Zwickauischen Bibliothek gedruckt bekommen habe. Er ruft erst den Merkur, hernach den Phöbus und die Musen an, und sodann saget er, was er für Verse machen wolle; nämlich sechssyllbige, die aber überaus richtig scandiren:


U – U – U –

O got | mercu|rius |

Von dir zefurdern vß

Beger ich Hilff und gunst

Syd du wolredens kunst

Ein got vnd gebet bist etc.

Das mir nun das gedych

Got Phöbus so verlych

Mir dazu sinn vnd mut etc.

Desglychen ruff ich an

So best ich ymmer kan

Das ich sollichs volleist

Zum höchsten aller maist

In meiner ted begynn

Gedichtes vch göttinn


U – U – U –

Die mu|se sind | genant | etc.

Herby vnd helfend mir

Diß ticht mit rymen bloß

Nach rechter Zal vnd maß

Vnd silben sechsen stuntz

Vß tailen bey der vntz

Wie sich zum besten schickt

Die Wörter unvertzückt

Gebrochen recht vnd fry

Nach Kunst ortography

Figuren kurz vnd lang

In mittel nach Anfang

Bis hin zu ende gar etc.


12 §. Im 1497sten Jahre hat Augustin von Hammersteten aus Wien in Österreich, den obigen alten Dichter, den Teichner genannt, an ein paar sächsische Herzoge zum Geschenke geschickt, und darinn die Richtigkeit des Syllbenmaaßes genau angemerket. Das Mspt. ist noch itzo auf der hochf. goth. Bibliothek, und ich habe es zu meinem Gebrauche in Händen gehabt. Am Schlusse nun die ser Teichnerischen Gedichte, saget er seine Meynung von demselben folgendergestalt, daß er auch der Syllbenzahl schon erwähnet.


– U – U – U –

Was der | teychner | hat ge|setzt

Das ist gut und vnuerletzt

In syben vnd auch in acht

Der Sillebzal wol gemacht.[643]


Weil aber bey diesem Dichter ein ander Gedicht eines Meistersingers, Conrads von Wirzburg goldene Schmiede, geschrieben war: so setzet unser Kunstrichter, der doch selber darinn tadelhaft ist, was er an andern aussetzet, seinen kritischen Ausspruch so hinzu, daß er auch das Syllbenmaaß nicht vergißt. NON PERLEGI ILLA:


QUARE? Daz ist maystergesank

Etwan kurz etwan lank

Vnd west dadurch nit erlangen kain Dank

Darvmb Maister vnd gesellen

Singen wie sy wellen

Achten wenig der sillebmaaß

Das gedicht ich in sein wirden laß.


13 §. Wem nun diese Syllbenzahl, und dieses bemerkte Syllbenmaaß noch keine Gnüge thut, den will ich in den Anfang des XVIten Jahrhunderts führen. Zwar in der Schweiz, und im Frankenlande fand sich noch kein besser Gehör. D. Thomas Murner zu Basel, der 1515 den Virgil deutsch herausgab, und sonst Verse genug machte, schrieb nichts besser, als sein Landsmann Sebastian Brand geschrieben hatte: und Pfinzings berühmter Theuerdank, der 1517 zu Nürnberg, und 1519 zu Augsburg prächtig gedruckt ward, beobachtete die Tonmessung und Zahl der Syllben nicht genauer. Auch der Ritter Johann von Schwarzenberg in seinem Memorial der Tugend und Kummertroste, lehrete seine Franken um diese Zeit noch nichts feiners. Allein, viel besseres Glück hatte das Syllbenmaaß in Sachsen. Hier gab nämlich D. Luther nicht nur in dem christlichen Glauben10, ein schönes Exempel wohl scandirter Jamben und Trochäen; sondern auch seine andern Kirchenlieder breiteten diesen Geschmack merklich aus.[644]

14 §. Noch deutlicher aber leuchtet dieses zu eben diesen Zeiten vom Paul Rebhuhn, einem gelehrten Rector in Zwickau, und nachmaligen Superintendenten in die Augen: welcher ausdrücklich die Zeichen des lateinischen Syllbenmaaßes zu seinen Versen geschrieben hat. Schon im 1535sten Jahre hat er: ein geistlich spiel von der gotfürchtigen keuschen Frauen Susan nen, in 4. heraus gegeben, und darinn allerley jambische und trochäische Versarten gebrauchet. Als man aber seine darinn gebrauchte Kunst nicht merken wollte, gab er 1540 die Klag des armen Mannes in 8 heraus, wo er nicht nur ausdrücklich in der Vorrede sagete: »daß er nach der Lateiner Art, mancherley Vers in ›METRIS TROCHAICIS und JAMBICIS‹, deren die deutschen[645] Reym etzlicher maß gemeß sind, gemacht«; sondern auch über jedes Gedicht die Scansion drucken ließ, die er darinn beobachtet hatte. Und so finden sich folgende Arten nach einander11:


U – U – U – U –

1) Ach gott | was soll | ich fan|gen an | etc.?

– U – U – U – U

2) Lieber | Mensch weil | du mir | klagest | etc.

U – U –

3) Weshal|ben dann | etc.

– U – U – U – U – U

4) Lieber | Mensch weil | du mich | ferner | fragest etc.

U – U – U – U – U – U

5) Je lie|ber A| dam weil | du mir | bezei|gest etc.

– U – U – U – U – U –

6) Mensch ich | sag dir | nach wie | vor denk | ja nur | nicht etc.

U – U – U – U – U – U –

7) Ja lie|ber A| dam so | die Mey|nung al| so steht | etc.

– U – U – U – U –

8) Lieber | Mensch so | du doch | dechst der | red etc.

U – U – U – U – U

9) O A|dam so | ich recht | betrach|te etc.

– U – U – U –

10) Lieber | Mensch dein | frag ich | hör etc.

U – U – U – U

11) O lie|ber I|sac dei|ne

Vertröstung ist nicht kleine etc.


15 §. So weit brachte man es damals hier in Obersachsen: ganz anders sah es im übrigen Deutschlande aus. In Nürnberg that sich vor allen Hans Sachse hervor, der vornehmste der Meistersänger, die schon lange vor ihm im Schwange gegangen, und vor andern 12 große Meister aufzuweisen hatten. Aus den vielen und weitläuftigen Regeln, die Wagenseil[646] von ihrer Kunst angegeben, erhellet aber im geringsten nicht: daß diese Leute den mindesten Begriff von einem Syllbenmaaße, oder der Scansion gehabt hätten. Sie zähleten ihre Syllben nur, und beobachteten in der Länge der Zeilen, und in der Anzahl derselben in jedem Gesetze, das, was die Weise oder Melodie von ihnen erfoderte, darnach sie ihre Bar, oder Lieder verfertigen wollten: wofern nicht irgend einer eine neue Singweise erfand, dabey er es nach Belieben halten konnte. Außer solchen Liedern nun machte zwar Hans Sachs noch viel andere Gedichte, die fünf Folianten füllen. Allein, auch hier findet man kein richtiges Syllbenmaaß: ja nicht einmal die Zahl der Syllben, oder die Länge der Zeilen, sind recht darinnen beobachtet. Doch scheint ihm bisweilen etwas richtigers, gleichsam von ungefähr, entfahren zu seyn: wie das Lied, Warum betrübst du dich mein Herz, zeiget. Allein, so ordentlich etliche Verse gerathen sind; so schlecht klingen andere: Z.E.


Joseph in Egypten verkaufet ward.

Vom Pha|rao | gefan|gen hart, |

Um seinr | Gottsfürch|tigkeit: |

Gott macht | ihn, zu | ein'm gro|ßen Herrn |

Daß er konnt Vater und Brüder ernehrn.


16 §. Etwas besser beobachtete um eben diese Zeiten Burcard Waldis, ein Geistlicher im Heßischen, den Wohlklang, der aus der Abwechselung langer und kurzer Syllben entsteht. In seinen verdeutschten äsopischen Fabeln, die 1548 zu Frf. am Mayn herauskamen, sieht man, daß dieser feine Mann ein besseres Gehör, als andere seines gleichen, gehabt. Z.E. die IV Fabel hebt so an:


Ein stück|e fleisch | erwüscht | ein Hundt, |

Vnd trugs hinweg in seinem mundt,

Er dacht, ich darfs ums Gelt nit kauffen,

Vnd wolt vber ein Wasser lauffen,

Als er kam mitten in den bach, etc.[647]


Die hochdeutsche Übersetzung des Reinike Fuchs, die um diese Zeit 1545 herauskam, machte es beynahe auf eben den Schlag. Auch der Theuerdank, den eben der Burcard Waldis, ganz verändert und verbessert herausgab, gewann in Ansehung des Wohlklanges und Syllbenmaaßes, viel: ungeachtet es sonst nicht zu billigen war, daß dieser ein fremdes Werk so umgeschmolzen hatte. Und obgleich Conrad Gesner 1555 in seinem Mithridates einen Versuch that, ob er lateinische Hexameter im Deutschen machen könnte: so hinderte ihn doch seine rauhe Zürcher Mundart an einem guten Erfolge: und da er selbst kein Dichter war, der einiges Aufsehen hätte machen können; so gerieth sein Vorschlag ganz ins Vergessen. Denn selbst in Straßburg, wußte Ölinger, der 1574 seine deutsche Grammatik herausgab, noch nichts von den Geheimnissen des Syllbenmaaßes, wie aus den oben angeführten Stellen aus ihm erhellet. Barthol. Ringwald aber zeigete 1580, in Thüringen, daß er ein ziemliches Gehör hatte, wenn er sich in seiner deutschen Wahrheit so hören ließ:


Nachdem denn itzt die Menschenkind,

So gar verstockt und sicher sind,

Daß sie nicht gläuben, daß auf Erd

Der große Richter kommen werd etc.


17 §. Die rechte Ehre, das deutsche Syllbenmaaß in Regeln und Ordnung zu bringen, war also abermal Obersachsen, oder Meißen aufgehoben: als Joh. Clajus, 1578 hier zu Leipzig, beym Joh. Rhamba, seine GRAMMATICAM GERMANICÆ LINGUÆ herausgab. Hierinn handelte er nicht nur die Prosodie, nach den Zeugnissen der im obigen angeführten Stellen, so ab, daß er die Möglichkeit der jambischen und trochäischen Verse im Deutschen zeigete und lehrete; sondern er gab auch von allen jambischen und trochäischen Arten die METRA, und Exempel dazu. Ja, er ließ es dabey nicht bewenden; er setzete auch ein Hauptstück DE RATIONE CARMINUM[648] NOVA hinzu, und lehret, wie man auch die lateinischen und griechischen Versarten machen solle; nachdem er von dem Tonmaaße deutscher Syllben Regeln gegeben. Z.E.


EXEMPLUM CARMINIS HEROICI.


– U U – – – – – – – U U – –

Bitte den | Herren | Herrn, der | wird dich | gnädig er|hören, |

– – – – – – – – – U U – –

Vnd wird | dir ge|ben, nach | dem das | ewige | Leben.


CARMINIS ELEGIACI.


– – – – – – – U U – U U – –

Gott sey | mein Bey|stand, barm | herziger | ewiger | Heiland! |

– – – – – – U U – U U –

Denn ich | bin dein | Knecht, | mache mich, | Herre, ge|recht, |


JAMBICI DIMETRI.


Bewar | mich Herr | mein höch|ster Hort, |

Auf daß ich ewig lebe dort.


HENDECASYLLABI.


Nu sey | Christe ge|lobet | vnd ge|preiset, |

Hast mein | seele ge|trenket | vnd ge|speiset.


SAPPHICI CUM ADONICO.


Lobe mit | Cimbeln, | der ob | allen | Himmeln |

Dich mit Heil | zieret, bene|deit, re|gieret,

Noch gesund | sparet, | wider | angst be|waret,

Lobe den Herren.


Sind nun gleich diese Exempel nicht ganz untadelich: so sieht man doch, daß ein gelehrter Sprachkenner schon der Sache Möglichkeit eingesehen, und den Anfang dazu, nicht ganz unglücklich, gemachet hat.[649]

18 §. Kurz darauf fanden sich ein Paar andere Eiferer für das richtige Syllbenmaaß, die zwar von diesen Erfindungen nichts wußten; aber doch mit der gemeinen im Schwange gehenden Versart der Pritschmeister, ohne Zahl und Maaß zu reimen, übel zufrieden waren. Der erste davon war ein gelehrter Mann D. Erasmus Alberus, der 1590 zu Frf. am Mayn, neun und vierzig äsopische Fabeln ans Licht stellete. Dieser saget in der Vorrede ausdrücklich: er habe eimjeglichen Versacht Syllben gegeben, ohn wo ein INFINITWUS am Ende gefelt, der bringet mit sich ein übrige Syllbe; ohne Zweifel, weil er an andern darinn eine Nachläßigkeit beobachtet hatte. Allein, noch stärker drücket sich davon Adam Puschmann, ein Poet zu Breslaw, in seiner Komödie vom Patr. Jakob, Joseph und seinen Brüdern, 1592, aus. Denn »er giebt es für die dritte und fürnehmste Vrsach dieser seiner Arbeit an, daß er das, was von vielen, den Regeln der alten Autoren in deutscher Poeterey zuwider, begangen würde, bessern möchte.« Dieser Puschmann war aber nur ein ungelehrter Meistersinger, und Schüler von Hans Sachsen: daher dringt er auch, wie Alberus, nur auf die bloße Zahl der Syllben12.

19 §. Mit dem Ende dieses, und Anfange des folgenden Jahrhunderts thaten sich noch drey Dichter hervor, die aber[650] der Sache kein besseres Ansehen gaben. In Magdeburg trat Rollenhagen mit seinem Froschmäuseler 1597 ans Licht. In Nürnberg lebte und dichtete Jakob Ayrer viele Schauspiele, die auch 1610 und 1618 in einem Folianten ans Licht kamen. Und in Augspurg lebte Johann Spreng, der nicht nur die Ilias und Äneis, sondern auch Ovids Verwandlungen, und den Palingenius in deutschen Versen ans Licht stellete. Aber der erste ist in seinen Reimen sehr ungebunden, so daß er nicht einmal die Zahl, geschweige denn das Maaß der Syllben recht beobachtet. Der zweyte machte es nicht viel besser, als sein Vorbild Hans Sachs, dessen Spuren er in allem folget. Der dritte trifft noch den jambischen Wohlklang am besten.

20 §. Nach allen diesen Vorschlägen, Versuchen und Vorspielen eines regelmäßigen Syllbenmaaßes, erschien endlich Martin Opitz, den sein großer Geist sowohl, als die Kenntniß der alten Dichter, geschickt machten, die gänzliche Einführung desselben in ganz Deutschland zu bewirken. Ohne die Gewalt eines Gesetzgebers auf dem deutschen Parnasse zu haben, wirkten seine schönen Muster, daß alles die Wahrheit des Lehrsatzes erkannte: die deutsche Dichtkunst kann, und muß ein richtiges Zeitmaaß der Syllben beobachten. Seine Poeterey setzte dieses noch besser ins Licht; und sein Freund Aug. Buchner in Wittenberg, bestärkte solches in seinem deutschen Poeten, noch mehr. Alles übrige aber, was nur in Deutschland Verse machte, bemühete sich um die Wette, ihm zu folgen; wiewohl immer einer mit besserm Glücke, als der andere13. Und ungeachtet Opitz einmal dem Dan. Heinsius die Schmäucheley machet; daß dessen niederländische Poesie der Seinen Mutter sey: so sieht man doch aus allem obigen wohl, daß nach so vielen Vorbereitungen, ein solcher Kopf, als seiner war, schon in seinem Vaterlande Anleitung genug gehabt, dergleichen Veränderung, mit gutem Glücke zu bewerkstelligen.[651]

21 §. Der einzige Einworf, den die Bewunderer des griechischen und lateinischen Syllbenmaaßes hier machen, ist dieser. Die deutsche Prosodie, sagen sie, richtet sich nach dem bloßen Gehöre, nicht aber nach den Regeln des griechischen und lateinischen Syllbenmaaßes. Folglich sind denn die deutschen Verse nur solche VERSUS POLITICI, als die barbarischen[652] Mönche, welche die wahre Quantität der lateinischen Syllben nicht wußten, in den mittlern Zeiten, im Lateine gemachet haben. So wenig, als nun dieser ihre lateinische Scansion eine rechte prosodische Scansion war: so wenig ist auch unser deutsches Syllbenmaaß ein rechtes prosodisches Wesen, das sich nach der Natur der Syllben richtet.14

22 §. Auf diesen Einwurf ist verschiedenes zu antworten. 1) Giebt mans zu, daß die alten Mönche mit ihren VERSIBUS POLITICIS keine gute lateinische Prosodie beobachtet haben. Allein, woher kam das? Das Latein war ihre Muttersprache nicht: sie hatten auch die wahre, alte und gute Aussprache des Lateins nicht mehr in ihrer Gewalt; sondern es galt zu ihrer Zeit eine verderbte und falsche Mundart, nach der sie sich richteten15. Sie hätten sich also, in Ermangelung der ersten, nach den prosodischen Regeln richten sollen: als welche dazu gemachet waren, die wahre alte Aussprache zu lehren, und sie wenigstens in Versen dabey zu erhalten. Virgil aber brauchte zu seiner Zeit solche Regeln nicht: er war ein gebohrner Lateiner, und scandirte, wie man in Rom redete; wie das Gehör es ihm gab, und wie der Wohlklang es erfoderte16.[653]

23 §. Allein, wie schicket sich nun 2) dieses Exempel der lateinisch dichtenden Mönche auf uns? Schreiben wir etwan auch in einer fremden Sprache, deren wahrer Klang und Syllbenton längst verlohren gegangen ist? Dichten wir nicht in unserer Muttersprache, die bey uns in vollem Schwange geht, und durch keinen Einfall fremder und barbarischer Völker verderbet worden? Wäre dieses, so müßte man freylich durch Regeln, die alte wahre Aussprache des Deutschen, so wie sie etwa bey unsern Vorfahren gelautet hätte, wie der herzustellen suchen. Aber davon wissen wir Gottlob! nichts. Wir sind Herren in unserm Lande; wie die Römer zu Augusts Zeiten. Wir dörfen also die Syllben nicht nach den Regeln, sondern nach dem bloßen Gehöre, abmessen.

24 §. Zum 3) ist freylich unsere Aussprache mit der griechischen und römischen nicht einerley. Wir sprechen manche Syllbe lang aus, die jene kurz machten, und umgekehrt. Allein, daraus folget noch nicht, daß wir Deutschen keine Prosodie hätten, oder beobachteten. Denn wer versichert uns erst, daß die alten Griechen und Römer, die wahre unverbrüchliche,[654] allgemeine Prosodie der Natur beobachtet haben? Sie haben scandiret, wie sie gesprochen haben; und zwar die Lateiner schon etwas anders, als die Griechen: folglich richteten sie sich nach ihren besondern Mundarten. Die neuesten Poeten scandirten auch schon etwas anders, als die ältern. Des Plautus Syllbenmaaß, stimmet mit dem Prudentius nicht allemal überein: auch wenn sie beyde Jamben machen. Lucrez stimmet mit dem Claudian in den Quantitäten auch nicht recht zusammen: und das ist kein Wunder. Die Zeiten hatten die Aussprache geändert; daher scandirte ein jeder, wie seine Ohren es aussprechen hörten17. Was folget nun daraus? Dieses, daß jedes Volk, daß jede Sprache und Zeit ihre besondere Prosodie hat, oder ihre eigene Wortzeit und Syllbengröße beobachtet, wie ihre besondere Aussprache es mit sich bringet; und daß sich also unsere deutsche Prosodie, nicht eben nothwendig, nach den Regeln der griechischen und lateinischen richten muß.

25 §. Ja, spricht man: die Natur lehret aber gleichwohl, daß eine Syllbe, die aus vielen Mitlautern besteht, eine längere Zeit zur Aussprache erfodert, als eine andere, die wenige oder gar keinen hat. Dieß beobachten nun die gelehrten Sprachen; die deutsche aber nicht. Ich antworte: Es ist wahr, daß viele Buchstaben der Zunge, und den Lippen mehr zu thun schaffen, als wenige; aber es kömmt auch viel auf die[655] Übung und Gewohnheit der Zungen an. Ein Pohl spricht vier, fünf Mitlauter vor einem einzigen Selbstlaute, eben so schnell aus, als ein anderer einen bloßen Selbstlaut hören läßt. Ja, ein und dasselbe Volk, machet bisweilen einen Selbstlaut ohne Mitlauter, zur langen Syllbe; und spricht ihn hergegen ein andermal mit dreyen Mitlautern kurz aus. Ist nicht z.E. das A im Lateine, wenn es von heißt, oder im ABLATIVO PRIMÆ DECL. lang? Aber eben dieß A wird in der ersten Syllbe PATRIS oder PATREM auch kurz gesprochen, ob es gleich vorne ein p und hinten tr hat. Werden nicht alle Selbstlauter bald kurz, bald lang? Ist das Wort MATER, physikalisch von den Buchstaben zu reden, wohl anders beschaffen, als PATER18? Ist das Wort MALUS anders, wann es was Böses, als wann es einen Apfelbaum bedeutet? Gleichwohl ist es einmal kurz, und einmal lang19: zu einem deutlichen Beweise, daß die Römer ihrer Aussprache, nicht aber der Natur der Buchstaben gefolget sind, wenn sie die Länge und Kürze der Syllben bestimmet haben.

26 §. Endlich kann man freylich soviel einräumen, daß ein Dichter, der wohlklingende und leicht fließende Verse machen will, darauf zu sehen habe; daß er nicht gar zu viel harte und[656] rauhe Syllben zusammen stopfe. Denn die Zunge brauchet allerdings mehr Zeit, so viele Mitlauter hinter einander auszusprechen, als wenige: und es klingt gut, daß man auch gelindere Syllben mit unterlaufen läßt, darinn sie nicht so viel zu thun hat. Darum klingen eben Lohensteins und Königs Verse so hart; Kanitzens und Bessers aber so fließend. Jene beschweren und ermüden die Zunge, diese nicht: jene belästigen, diese aber vergnügen das Ohr. Nur dörfen wir darum doch die ganze lateinische Prosodie noch nicht annehmen; sondern müssen uns nach unserer Mundart richten, die oft auch erlaubet, mehrere Mitlauter, bey einer Syllbe, schnell und kurz auszusprechen.

27 §. Hieraus wird man nun beurtheilen können, ob Isaak Vossius recht habe, wenn er in seinem Buche, DE POEMATUM CANTU & VIRIBUS RHYTHMI, welches zu Oxford 1673 in gr. 8 heraus gekommen, vorgiebt: daß alle heutige europäische Sprachen kein Syllbenmaaß in ihrer Poesie hätten. Eben so haben Lami, Rollin, und Beaumarchais geurtheilet. S. der Krit. Dichtkunst, 4 Aufl. a.d. 78, 79 S. Wir sind völlig mit ihnen eins: daß Verse, ohne eine gewisse Scansion, barbarisch klingen; und sich zur Musik, wenigstens in Liedern von vielen Strophen, zu einerley Melodie unmöglich schicken. Wir geben ihm zu, daß die Franzosen in ihrer Poesie kein rechtes Syllbenmaaß, sondern nur eine Syllbenzahl beobachten: der Abt Olivet mag auch in seiner PROSODIE FRANÇOISE sagen, was er will20. Aber daß deswegen alle heutige Völker in Europa, nichts von der Scansion und dem wahren poetischen Wohlklange, oder RHYTHMO wissen sollten, das hat er gar nicht bewiesen21.[657]

28 §. Denn fürs erste ist es eine ausgemachte Sache, daß schon zu Vossens Zeit, Engländer und Holländer, deren Poesie er hat kennen müssen, scandiret haben. Daß ferner die Wälschen in allen ihren Operarien, bald jambisch, bald trochäisch scandiren, fällt einem jeden in die Ohren, der sie entweder von einem Wälschen recht lesen, oder singen höret. Ja er hätte nur den TRISSINO, DELLA POETICA, in der II Abth. lesen dörfen, so würde er erkannt haben: daß dieselben vor zweyhundert Jahren schon, vom Syllbenmaaße, von Jamben und Trochäen, und andern Arten der Füße, eben so geredet haben: als wir Deutschen22. Wenn aber das alles gleich nicht wäre: so ist es doch gewiß, daß unsere hochdeutsche Poesie, seit mehr als dreyhundert Jahren, eines wahrhaften Syllbenmaaßes nicht nur fähig gewesen; sondern selbiges auch[658] wirklich ausgeübet, und immer mehr ins Feine gebracht hat. Er hat uns also zu frühzeitig verdammet, ohne uns vorher recht gekannt, oder gehöret zu haben; welches keinem wahren Kunstrichter wohl ansteht.

29 §. Dieses habe ich von der Historie, und zur Vertheidigung des deutschen Syllbenmaaßes, hier nothwendig beybringen müssen; auch ehe ich noch die Regeln davon vorgetragen. Denn es haben sich auch unter uns, mitten in dem Flore der deutschen freyen Künste, Männer gefunden, die uns alle Prosodie in unsern heutigen Versen absprechen; und uns mit den alten barbarischen Versmachern in den Klöstern, in eine Classe haben werfen wollen23. Man kann kaum begreifen, daß etwas anders, als eine unsägliche Begierde, ganz allein für tiefeinsehende Richter und Wiederhersteller der schönen Wissenschaften gehalten zu werden, ein so verwägnes Urtheil von unserer Dichtkunst ausgehecket haben kann. Was ist das aber nicht für ein Stolz, sich allein für sehend, und alle Dichter eines Volkes, wenigstens seit zweyhundert Jahren her, für blind zu erklären?[659]

30 §. Dieses nochmals durch D. Luthers Exempel darzuthun, will ich ein paar kleine Sinngedichte dieses großen Mannes, aus seiner eigenhändigen Schrift mittheilen, die noch auf der Zwickauischen Bibliothek bewahret wird. Hier wird man sehen, wie dieser große Mann, auch keine Syllbe falsch scandiret; wenn er nicht etwa in Übersetzungen aus lateinischen Gesängen, sich zu sehr an den Grundtext halten wollen: wie ihm z.E. in dem Weihnachtliede, Nun komm der Heiden Heiland, wiederfahren ist. Sie lauten aber folgendermaßen.


I.


U – U – U – U –

Dies Büch | lein ist | ein ed | les gut |

Gros Kunst vnd weisheit lehren thut

Wohl dem, der sich auch helt darnach

Dem wird Gott segnen all sein sach

Denn Gottes wort bleibt ewigleich

Vnd theilet mit das Hymmelreich

Wir müssen doch von dieser Welt

Alsdenn das Wort fest bey uns helt

Vnd sterkt uns jnn des sterbens not

Vnd hilft vns aus dem ew(i)gen tod.


D.M.L.

II.


Die Fraw muß selber sein die Magd

Wil sie jm hause schaffen radth

Der Herr muß selber sein der Knecht

Wil ers jm Hause finden recht24

Gesinde nimmermehr bedenkt

Was nutz vnd schad' im Hause brengt

Es ist ja nichts erlogen dran

Weil sie es nicht für eigen han.


D.L.

Fußnoten

1 Die Lieder, welche man zu Labans und Jakobs Zeiten in Mesopotamien gesungen hat, (im I B. Mose im 31 Cap. 27 V.) werden auf diese Art geklungen haben. Die Dichtkunst des Buches Hiobs ist auch nicht viel anders beschaffen: obgleich Josephus die Griechen und Römer bereden wollen, daß es in Hexametern geschrieben sey. Und kurz, aller Völker älteste Verse müssen so ausgesehen haben; wie die Lieder der Americaner und Lappländer noch itzo aussehen.


2 Wer dieß näher einsehen will, der lese Eduard Manwärings II Brief, in lat. Sprache nach, den er von dem hebräischen Syllbenmaaße insonderheit geschrieben hat, und bey dem TRACT. A RECOVERY OF THE LATIN, GREC, AND HEBREW NUMBERS, 1738, zum zweytenmale zu London ans Licht gestellet worden. Denn er meynet, die hebräischen Psalmen wären eben so richtig scandiret, als Pindars Oden.


3 Quintil. L. IX. CAP. ULT. schreibt: POEMA NEMO DUBITAVERIT, IMPERITO QUODAM INITIO FUSUM, & AURIUM MENSURA, & SIMILITER DECURRENTIUM SPATIORUM OBSERVATIONE, ESSE GENERATUM; MOX REPERTOS PEDES.


4 Nichts ist natürlicher, als daß ein Hauptwort, oder ein Beywort, oder ein Zeitwort in seiner Stamm- oder Wurzelsyllbe einen langen Ton habe; alle zufällige Syllben aber, die dieser vor, oder nachgesetzet werden, nur kurz lauten, weil sich die Stimme dabey nicht aufhält. Z.E. wachs, walt, stirb, sind Stammsyllben, folglich lang. Dieß bleiben sie auch in Gewächsen, gewaltig, gestorben.


5 Das war unsers ersten Sprachlehrers Ölingers Meynung, wenn er auf der 199sten S. schrieb; DE QUANTITATE SYLLABARUM IN HAC NOSTRA LINGUA NIHIL CERTI PRÆSCRIBERE POSSUMUS: NAM SÆPE SYLLABÆ IN RHYTHMIS CORRIPIUNTUR, QUÆ IN PROSA ORATIONE PRODUCUNTUR, & E CONTRA. UT


U – U – U – U –

An dich | und dein | heilig | Gebott |

Geden|ken in | der Lei|besnot. |


Allein, der ehrliche Mann muß über lauter schlechte Poeten gerathen seyn. Denn wenigstens haben Luther, Rebhuhn, Ringwald, auch wohl Hans Sachs, und Alberus in seinen Fabeln, dieses nicht oft gethan.


6 MIRABILE EST, CUM PLURIMUM IN FACIENDO INTERSIT, INTER DOCTUM & RUDEM, QUAM NON MULTUM DIFFERAT IN JUDICANDO. Ars enim; cum a natura profecta sit; NISI NATURA MOVEAT AC DELECTET; NIHIL SANE EGISSE VIDEATUR. NIHIL EST AUTEM TAM COGNATUM MENTIBUS NOSTRIS, QUAM NUMERI ATQUE VOCES, QUIBUS & EXCITAMUR, & INCENDIMUR, & LENIMUR, & LANGUESCIMUS, & AD HILARITATEM, & AD TRISTITIAM SÆPE DEDUCIMUR; QUORUM ILLA SUMMA VIS CARMINIBUS EST APTIOR & CANTIBUS; NON NEGLECTA, UT MIHI VIDETUR, A NUMA, REGE DOCTISSIMO, MAJORIBUSQUE NOSTRIS, UT EPULARUM SOLENNIUM FIDES AC TIBIÆ, SALIORUMQUE VERSUS INDICANT; MAXIME AUTEM A GRÆCIA VETERE CELEBRATA; – – – Verum ut in versu vulgus, si est peccatum, videt: SIC, SI QUID IN NOSTRA ORATIONE CLAUDICET, VIDET. LIB. III. DE ORAT. C. 51.


7 In der HISTOIRE DES YNCAS, ROIS DE PEROU, findet man a.d. 116 S. eine Probe solcher peruanischer Verse, wovon ich etwas hieher setze, um zu zeigen: wie die Natur des Gehöres die Dichter allenthalben, auch ohne die Regeln, den Wohlklang des Syllbenmaaßes gelehret habe. Denn wer merket nicht, daß diese Verse der Haraveke, oder ihrer Dichter, trochäisch sind?


Die erste Art klingt so:


CAYLIA CLAPI

PUNNUNQUI;

CHAUPITUTA

SAMUSAC.


d.i.


Bey dem Singen

Schläffst du ein:

Und im Finstern

Komm ich hin.


Die andere so:


CUMAC NUSTA

TORALAY QUIN

PUNNUY QUITA

PAQUIR CAYAN.


d.i.


Schöne Nymphe,

Hat dein Bruder

Dein Gefäße

Nun zerbrochen? etc.


8 Er gesteht es auch selbst, wenn er schreibt: NON QUO SERIES SCRIPTIONIS HUJUS METRICA SIT SUBTILITATE CONSTRICTA etc. S. die Vorrede seines Evangelii, an den Erzbischof Luitbert, zu Maynz. Gleichwohl hat er sein Möglichstes gethan. Ein Exempel machet die Sache denen klar, die Schilters Sprachschatz nicht besitzen, und also unsere älteste Versart nicht kennen. Er schreibt dieses im I Cap. und redet ausdrücklich von dieser Materie des Syllbenmaaßes.


d.i. nach Schilters lateinischer

Dollmetschung.


Ist iz prosun slichti

Thaz drenckit thih in richti

Odo metres kleini

The ist gouma filu reini

Sie duent iz filu suazi

Jo mezent sie thie fuazi

Thie lengi joh thie kurti

The is gelustich az uuurti.

Eigun sie iz bithenkit

Thaz syllaba in ni uuenkit

Si es alles uuio ni ruachent

Ni so thie fuazi suachent. etc.


Ist es prosa schlechte

Das erquicket dich recht

Oder METRA kleine

Da ist der Gaum viel reiner

Sie thun es viel süßer

Ja messen sie die Füße,

Die Länge und die Kürze

Daß es lustiger würde

Eigen sie es bedenken

Daß Syllben nicht wanken,

Sie alles fast nicht achten

Wo sie nicht Füße suchen.


Man sieht also wohl, daß es bey dem ehrlichen Ottfried nicht am Wissen und Wollen, sondern am Können gelegen habe.


9 In meiner ausführlichen Historie der deutschen Sprache und Poesie, woran ich schon verschiedene Jahre gearbeitet habe, werde ich mehr Proben davon anführen.


10 Es ist werth, daß wir einen Vers des Glaubens hieher setzen, und die Zeichen der Länge und Kürze, zur Überführung der Zweifler, darüber stellen.


U – U – U – U –

Wir gläu|ben auch | an Je|sum Christ,


– U – U – U – U

Seinen | Sohn und | unsern | Herren,


U – U – U – U –

Der e|wig bey | dem Va|ter ist,


– U – U – U – U

Gleicher | Gott von | Macht und | Ehren |

Von Maria der Jungfrauen

Ist ein wahrer Mensch gebohren,

Durch den heilgen Geist im Glauben,

Für uns, die wir warn verlohren.


U – U – U – U –

Am Kreuz | gestor|ben und | vom Tod

Wied'r auf | erstan | den ist | durch Gott.


Hier sieht man nun deutlich, daß ein zartes Gehör unserm Dichter ein richtiges Syllbenmaaß an die Hand gegeben. Denn da er in allen Strophen gleich, die männlichen Zeilen allemal jambisch, die weiblichen aber allemal trochäisch gemachet: so erhellet klärlich, daß ihm hier nichts von ungefähr geglücket; auch nichts aus besonderer Neigung angedichtet werde. Ein gleiches wird man an dem Liede: Gott der Vater wohn uns bey etc. bemerken.


11 Siehe die krit. Beyträge.


12 Zum andern, (schreibt er in der Vorr.) »halten sie keine Zahl noch masse der Syllben in Versen, oder RITHMUS; das ist sie machen offtmal 2, 3 oder 4 Syllben mehr oder weniger, als in den andern Versen (Nur das sie vermeinen bessern Verstand der meynung an den Tag zu geben.) samp schrieben sie etwan eine Missiven, oder ander Getichte, welche sich nicht reymen dörffen, ist auch ein groß VICIUM.

Wie viel man aber Syllben in einem Versen machen sol, wil ich allhie niemandt sonderliche ISTSTRUCTION geben. Sondern ich habe bey vielen Gelehrten Leuten, auch an Hans Sachses Composition der deutschen Versen gesehen, daß sie gemeiniglich zu stumpffen Versen oder Reymen 8 Syllben, vnd zu den klingenden Versen 9 Syllben, gebrauchen. Bey solcher anzahl der Syllben – – ich es meiner einfalt nach, verbleiben lasse, etc.«


13 Z.E. der berühmte latein. Kunstrichter allhier, Caspar Barth, ließ sichs, nach dem Beyspiele August Buchners und Joh. Freinsheims, in den Sinn kommen, deutsche Gedichte zu machen. Er gab auch wirklich, 1626, und also in demselben Jahre, als der Oberste vom Werder das befreyete Jerusalem in dieser neuen Versart ans Licht stellete, seinen deutschen Phönix, in Frf. am Mayn, zwölf Bogen in 4 oder 94 Seiten stark, ans Licht. Wie schön es aber diesem großen Humanisten gelungen sey, wird folgende Probe zeigen.


O außerkohrne Cron, O fürbündige Blum,

O schönstes Meysterstück, von übermenschlichem Rhum,

Ein Kern, ein Ehr, ein Zierd der himmlischen Weißheit,

Zum Spiegel, welche dich hat jhrer Kraft bereit.

O Contrafet, Figur, abdruck der Herrlichkeit,

Die in sich selbst, von sich, durch sich die Ewigkeit,

Besteht, bleibt ausser forcht des Wandels vnd der Zeit. etc.

O Wapen steter Frewd, vnverblühter Jugent,

In Alter unverzehrt, alzeit grün in Tugent,

Alzeit frisch in Liebe, alzeit rein in Ehren,

Den keine Macht noch List des Todes kann verzehren,

Der alte Drache selbst in Abgrund der Spelunken etc.

An welches starkem Gesetz die augenblicklich Minut

Hinlauffet schnell, und schnell sich wiederkehren thut.


Hätte man diesem ehrlichen Manne nicht zurufen können: SI TACUISSES, POETA MANSISSES! Da sieht man aber, wie die großen Helden im Latein, die alles, was deutsch ist, mit einem stolzen Naserümpfen verachten, selbst ihre Schwäche verrathen, und zu ihrer eigenen Schande die Feder ergreifen: wenn sie sich in dasjenige deutsche Feld wagen, welches ihnen so verächtlich vorkömmt. Das heißt ja, mit dem Horaz:


LUDERE QUI NESCIT, CAMPESTRIBUS ABSTINET ARMIS,

INDOCTUSQUE PILÆ, DISCIQUE TROCHIQUE QUIESCIT;

NE SPISSÆ RISUM TOLLANT IMPUNE CORONÆ;

QUI NESCIT, VERSUS TAMEN AUDET FINGERE.


14 Diese seltsame Meynung, hat der hiesige Prof. Christ, weil. theils in seinen NOCTIBUS ACADEMICIS, theils in den EXCURSIBUS bey seinem SUSELICIO, am eifrigsten getrieben; aber so schlecht zu erhärten gewußt, als seine eigenen deutschen Verse klungen. Von diesem könnte man, wie vom SILIUS ITALICUS, mit dem jüngern PLINIUS sagen: VERSUS ETIAM FACIT, MAJORI CURA QUAM INGENIO. Sein Tod hat uns von der Furcht befreyet, dereinst seine deutschen Geburten nach lateinischen METRIS, ja wohl gar deutsche Komödien von ihm gedruckt zu sehen; oder vielmehr des Vergnügens beraubet, sie zu belachen.


15 Haben wir itzo doch alle, sowohl im Griechischen, wenn wir es nach den Accenten lesen, als im Lateinischen, eine so verderbte Aussprache, daß sie den alten Atheniensern und Römern lächerlich vorkommen würde. Das gesteht GERH. J. VOSSIUS, in seinem Buche DE ARTE GRAMMATICA, L. II C. XII. DOCTRINAM HANC (PROSODIAM) ADDISCERE HODIE COGIMUR, PARTIM EX ARTIS METRICÆ SCRIPTORIBUS, PARTIM, AC TUTISSIME, EX LECTIONE POETARUM. E PRONUNCIATIONE VERO, quæ admodum recessit ab antiqua, AURIUM JUDICIUM FACERE NON POSSUMUS. SIQUIDEM IN PLURIMIS EODEM MODO PRONUNCIAMUS VOCALEM BREVEM AC LONGAM. NEC ENIM AXITER EFFERIMUS venit PRÆSENTIS, QUAM PRÆTERITi; viro A VIR, QUAM IN virus; a IN dabo, QUAM IN stabo, & SIC IN CETERIS.


16 Eben der Vossius setzet gleich darauf: OLIM AUTEM IN PRÆTERITO venit, E SONABAT, QUASI DUO ee, I IN virus, QUASI ei FUISSET, stabo QUASI staabo. ALITER QUI OUM EXTULISSET, NÆ ILLE PASTORITIA FISTULA EXCEPTUS ESSET, etiam a vulgo: QUOD, ETSI ARTEM METRICAM NON DIDICISSET E POETIS, OPTIME TAMEN POTERAT DE MODULIS JUDICARE. Und hierauf führet er noch folgende Ciceronische Stelle an, EX ORATORE: IN VERSU QUIDEM THEATRA TOTA RECLAMANT, SI FUIT UNA SYLLABA AUT BREVIOR, AUT LONGIOR. NEC VERO MULTITUDO PEDES NOVIT, NEC ULLOS NUMEROS TENET; NEC ILLUD QUOD OFFENDIT, AUT CUR, AUT IN QUO OFFENDAT, INTELLIGIT; & TAMEN OMNIUM LONGITUDINUM AUT BREVITATUM JUDICIUM, IPSA NATURA IN AURIBUS NOSTRIS COLLOCAVIT.


17 Z.E. In FIO, haben die alten Lateiner die erste Syllbe lang gebrauchet: Prudentius aber und andere christliche Poeten brauchen es kurz. Und ob man wohl die Ausnahme macht, daß das I in diesem Worte kurz wird, wenn ein R folget, als in FIERI, so hat doch Terenz ADELPH. ACT. I. SC. II. es auch in diesem Falle lang gebrauchet,


INJURIUM EST; NAM SI ESSET, UNDE ID FEBRET,

FACEREMUS.


wie Donatus selber dabey anmerket; FIERET, PRODUCTA PRIMA SYLLABA. Man sieht hieraus, daß die Alten manche Syllben lang gesprochen, die in neuern Zeiten kurz geworden.


18 Man weis wohl, daß das erste von μητερ, und das andere von πατερ kömmt: da dann das η allezeit lang ist. Allein, wußten das alle Römer, die kein Griechisch konnten? Sie schrieben in beyden Wörtern ein A, und sprachen eins lang, das andere kurz: wie in DABO und STABO. Und wenn die Griechen das η allezeit lang gesprochen: so hatten sie auch dieß besondere Zeichen zum langen e erdacht, welches den Römern fehlte.


19 Daher findet man in Gruters und anderer alten Aufschriften: NAATA, RAARUS, THRAACUM, PAASTORES, REE, SEEDES, MARUNAS, u.d.gl. Und Vossius führet aus dem Quintilian L.I.c. 4. an, daß dieß die Gewohnheit der alten Lateiner durchgehends gewesen, die langen Vocalen zu verdoppeln. Ein anders war also bey ihnen MALUS, ein anders MAALUS: ein anders POPULUS, das Volk, ein anders POOPULUS, die Pappel. Die neuern aber setzten gar ein Strichlein darüber, wenn es lang seyn sollte: welches doch Quintilian verwirft: ob ers gleich bey dem a und o der sechsten Endung billiget.


20 Indessen könnten sie selbige gar leicht einführen, wenn sie wollten. Z.E. in des LE FEVRE HIST. DES POETES GRECS, steht a.d. 102 S. folgendes Sinngedicht:


MILLE & MILLE FOIS

ET PRINCES ET ROIS

APPRETENT À RIRE

A TOUT LEUR EMPIRE.


Hier sind unstreitig die drey letzten Zeilen recht rein amphibrachische Verse von dieser Art,


U – U | U –

U – U | U – U


die man auch sonst Daktylen, vorn mit einer übrigen Syllbe, zu nennen pfleget, und so zeichnet


U | – U U | –

U | – U U | – U


Was hindert sie nun, auch andere Arten zu machen? Hier will mir zwar ein Freund einwenden, ich hätte die französische Zeile, ET PRINCES ET ROIS, nicht richtig für fünfsyllbig gelesen, denn sie hieße:


ĒT PRĪNCE' ĔT RŌIS.


Allein, mit seiner Erlaubniß, irre ich hier gar nicht. Ein s am Ende der Syllbe fließt mit der folgenden Syllbe nicht zusammen, sondern machet eine volle Syllbe für sich. Alle übrigen Zeilen sind auch fünfsyllbig: warum hätte der Poet diese unrichtig gemachet? Übrigens werden ihm alle französische Psalmen, die man in Kirchen singet, zeigen, daß solche Syllben eigene, mit andern gleich lange Noten haben.


21 Es ist die Art der Franzosen, wenn sie ein wenig italienisch und spanisch können, sich einzubilden, sie verstünden nun alle europäische Sprachen; um Aussprüche von allen zu thun. Verstehen sie aber auch das Englische, Deutsche, Holländische, Dänische, Schwedische und Pohlnische? Ja selbst das Wälsche verstehen sie nicht einmal recht, wenn sie ihm das Syllbenmaaß absprechen; wie im folgenden §. erhellen wird, und wie alle Operarien zeigen.


22 Seine Worte lauten so: nachdem er erkläret hat, was die vier zweysyllbigen Füße sind, damit sich die italienische Poesie behilft, der Jambus, Trochäus, Spondäus und Pyrrichius: DI QUESTI QUATRO PIEDI SI FANNO I VERSI, DE I QUALI ALCUNI DAL JAMBO, CHE IN ESSI HA PREEMINENZA MAGGIORE, SI CHIAMERANNO JAMBICI, & ALTRI DAL TROCHEO TROCAICI; & QUESTI JAMBICI SONO COMMUNEMENTE DI DUE MISURE, ESSENDO CIASCUNA MISURA DI DUE PIEDI: IL PERCHÈ QUELLI DI DUE MISURE SI CHIAMANO DIMETRI, & QUELLI DI TRE, TRIMETRI. TROVANSI ANCORA MONOMETRI, CIOÈ VERSI DI UNA MISURA, MA RARI. Und nachdem er dergestalt von den jambischen Versen gehandelt hat, so handelt er auch ausführlich DE I TROCAICI. Jenes stund auf der 16, dieß aber auf der 19 S. seines Buches DELLA POETICA. Ich bediene mich der Veronesischen Ausgabe seiner OPERE, die 1729 in Fol. herausgekommen, woselbst die POETICA im TOM. II. gleich anfangs steht. Eben das bestätigen CASTELVETRO, MINTURNO, MURATORI, u.a.m. in ihren Schriften.


23 Welches der obgedachte wunderliche Grübler nochmals, kurz vor seinem Tode, in der DISS. DE METRIS SATURNINIS wieder aufgewärmet, und der Welt aufbürden wollen; aber bey keinem Kenner den geringsten Beyfall gefunden.


24 Diese Verse sind mit eben so viel Worten auch vom Rollenhagen in seinem Froschmäuseler wiederholet worden: woraus man sieht, daß sie viel Beyfall müssen gefunden haben, und gleichsam zum Sprüchworte geworden.[660]


Quelle:
Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. 12 Bände, Band 8, Berlin und New York 1968–1987, S. 634-661.
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