Das III Hauptstück.
Von den verschiedenen Füßen der deutschen Scansion.

[673] 1 §.


Weil alle Syllben einer jeden Sprache eine gewisse Länge oder Kürze haben, so sieht man wohl, daß auch in ungebundener Rede eine gewisse Abwechselung derselben statt haben kann und muß; wenn eine Rede wohl klingen soll. Dieses ist es, was man den oratorischen Wohlklang nennet; und worinn allemal ein Schriftsteller dem andern überlegen ist. Es kömmt dabey alles auf ein gutes Gehör an, welchem zufolge, man die kurzen und langen Syllben so geschickt abwechselt, daß gleichsam eine Art der Musik daraus entsteht. Denn so wenig eine Musik wohl klingen würde, die aus lauter gleich langen Tönen oder Noten bestünde; eben so wenig würde eine Rede, die aus lauter gleichlangen Syllben bestünde, angenehm zu hören seyn.1

2 §. Doch dieser freye Wohlklang der Redner bindet sich an keine gewissen Regeln, und daher wird ihre Rede eine ungebundene Rede genennet. Sie hat nämlich kein gewisses Maaß, keine gewisse Zahl oder Abwechselung langer und kurzer Syllben; sondern ein Satz klingt so, der andere anders:[673] ja, es würde ein Fehler seyn, wenn sie alle einerley Länge oder Kürze, und eine gleiche Art des Wohlklanges hätten. Ganz anders ist es mit der Dichtkunst. Diese war gleich anfangs zum Singen bestimmet, und zwar so, daß einerley Singweise oft wiederholet werden sollte. Also mußten sich auch erstlich die Zahl, sodann aber auch das Zeitmaaß der Syllben, nach einer gewissen Ordnung und Regel richten: und daher ist die sogenannte Scansion entstanden.2

3 §. Wie man nun nach dem Cicero, eine in einem fortgehende Rede mit einem forteilenden Strome; oder besser, mit einem rauschenden Platzregen vergleicht, darinn man nichts unterscheiden kann: so ist in denen von einer Dachrinne langsam abfallenden Tropfen, ein natürliches Bild des poetischen Syllbenmaaßes zu finden3. Hier fällt ein großer Tropfen voran, und einige kleinere kommen in kürzerer Zeit hernach. Nach einer kleinen Weile kömmt wieder ein großer; und etliche kleinere folgen, eben wie vorhin. Dieses ist gleichsam ein Tact, oder ein Syllbenmaaß. Selbst in dem Geklapper der Mühlen, und in dem Hammern der Schmiede mit ungleich großen Hämmern, giebt uns die Natur Bilder und Vorspiele der Scansion. Endlich die Tennen der Bauren lassen mit ihren Dreschflegeln eben dergleichen Abwechselung langer und kurzer Schläge hören.[674]

4 §. Da nun die ersten Sänger dieses beobachtet, und in ihren Tönen nachgeahmet: so ist daraus der Tact in der Musik entstanden; ohne welchen ein Gesang sehr schlecht klingt, wie die Recitative lehren. Die Dichter richteten sich nun desto lieber darnach, da die ersten unter ihnen zugleich Sänger und Spielleute waren; wie Orpheus und Amphion. Und also erfanden sie eine ordentliche Abzählung der Füße, das ist, die poetischen Tacte; daraus ihre Zeilen, oder Verse bestunden. Da nun lange und kurze Syllben auf vielerley Art vermischet werden konnten: so entstunden auch mancherley Füße, auf welchen ihre Verse, so zu reden, fortliefen4.

5 §. Die kleineste Art der einfachen Füße besteht aus zwoen Syllben, als aus soviel Gliedern: weil sie sonst gleichsam gar zu steif und ungelenk seyn würden. Sind nun dieselben beyde lang, wie in A ku ft, Grōßmācht, oder Vōrtrāg, so nennet man es einen Spondäus. Dieser tritt sehr gravitätisch einher, würde aber in einem ganzen Verse zu langweilig klingen: indem gar keine Abwechselung darinn vorkäme. Z.E.


– – – – – – – – – U U – –

ILLI IN|TER SE|SE MAG|NA VI|BRACHIA|TOLLUNT[675]


Daher hat man es denn niemals gut befunden, ganz spondäische Verse zu machen. Man hat sie aber wohl zuweilen mit andern Arten der Füße vermenget, wie die Hexameter und Jamben der Alten zur Genüge zeigen.

6 §. Die zweyte Art solcher Füße ist einer, der aus zwoen kurzen Syllben besteht, und also Pyrrhichius, oder der feurige genennet wird5. Dieser ist gar zu flüchtig und schnell, und würde daher mit einer unglaublichen Geschwindigkeit fortlaufen, wenn er einen ganzen Vers anfüllen sollte. Es würde nicht anders klingen, als wenn eine Musik aus lauter Sechzehntheilchen bestünde. Wie nun diese dem Ohre keinen genugsamen Eindruck von der Melodie machen würde: so könnte auch dort die Seele den Sinn eines so schnellen Verses nicht erreichen, viel weniger davon gerühret werden. Denn so wenig einen die heutige gar zu gebrochene Art vieler Tonkünstler rühret, die mit einer solchen Behendigkeit über die Töne weglaufen, daß man sie weder recht hören noch unterscheiden kann; so wenig kann eine gar zu schnell hintereinander fortlaufende Rede einen Eindruck machen. Die Seele muß einige Zeit haben. Man brauchet also den Pyrrhichius nur in der Verbindung mit langen Syllben, im Anapäst, oder Daktylus.

7 §. Das Mittel zwischen diesen beyden gar zu ernsthaften, und gar zu flatterhaften Arten halten also der Trochäus,[676] und der Jambus, die aus einer langen, und einer kurzen Syllbe bestehen. Der Tro chäus fängt von der langen an, und schließt mit der kurzen: wie Vātěr, Mūttěr, hōffěn, līeběn. Dieser klingt nun sehr angenehm, und hat einen gewissen muntern muthigen Schritt6, wie z.E. Opitz singt:


– U – U – U –

Liebe! | wer sich | selber | haßt:

Aber | wer sein | gutes | Leben

Will der | freyen | Ruh er|geben

Reißt sich | von der | argen | Last etc.


Das Gegentheil davon ist der Jambus, der mit der kurzen Syllbe anfängt, und mit der langen schließt: daher er denn viel gelassener und sanfter fortgeht, etwas trauriger klingt, und der täglichen Sprache ähnlich sieht7:


U – U – U – U

So ist | denn nun | dem Dra|chen

Durch mei|nes Bo|gens Macht,

Gestillt | der wil|de Ra|chen?

Umringt | ihn nun | die Nacht | etc.


Und in diesen beyden Versarten, sind seit 900 Jahren, die allermeisten Gedichte bey uns geschrieben worden.[677]

8 §. Von den dreysyllbigen Füßen, die bey den Griechen und Römern im Schwange gegangen, sind nicht mehr als drey, bey uns im Gebrauche. Der erste ist der Daktylus, der von dem Finger seinen Namen hat, weil er, wie dieser, aus drey ungleichlangen Gliedern, d.i. aus einer langen und zwoen kurzen Syllben besteht. Zum Exempel:


– U U – U U – U U

göttliche, himmlische, menschliche, u.d.gl. Diese Art hat Aug. Buchner, Opitzens großer Freund, zuerst in unserer Dichtkunst eingeführet, als Opitz schon todt war. Er gesteht aber, daß schon andere vor ihm in Deutschland dergleichen gemachet, und führet aus Goldasten eine Stelle Ulrichs von Lichtenstein an, die so lautet:


U – U U – U U – U U – U

Swer | volget dem | Schilde, der | soll es en|blanden |

Dem | libe, dem | Gute, dem | Herze, den | Handen

Des | lonet vil | Hohe mit | hohem ge-|winne

Dü | vil werde | minne etc.


Und ich habe auch in Heinrichs von Alkmar plattdeutschen Reineke der Fuchs, eben dergleichen bemerket; der um das 1490 Jahr oder etwas später geschrieben worden. Z.E.


U – U U – U U – U U – –

Doch | Reinke gy|spreken von | manigen | Dingen,|

Gy scholden my drade in eredom bringen.

imgl. Darboven he noch myn geleyde dor breken,

Gy horde, wat klage se up eme spreken.


9 §. Ich kann nicht umhin, hier die Worte jenes großen Mannes anzuführen, die so bescheiden sind, als großsprecherisch sich einige neuere Kunstrichter auszudrücken pflegen. Es heißt (a.d. 151 S. der Wittenb. Aufl. von 1665 in 12) also: »Ob nun zwar wohl die Erfindung, sowohl der daktylischen, als anapästischen Verse, ihrer viele; auch theils um die deutsche Poeterey wohlverdiente Leute, uns zuschreiben[678] wollen; wir auch gar gern gestehen, daß selbige wohl zum ersten von uns wiederum hervorgesuchet, und auf die Bahn gebracht worden: so sind wir doch so gar ehrgeizig nicht, daß wir nicht gern gestehen wollten; dergleichen Art Verse müßten auch den Alten nicht unbekannt gewesen seyn. Denn der gemeinen Lieder zu geschweigen, darinn oftmals daktylische und anapästische Verse gefunden werden; so führet Goldast über Winsbecken etc.«8

10 §. Und wenn gleich Opitz a.d. 6 S. seiner deutschen Poeterey saget: Nicht zwar, daß wir, NB. auf Art der Griechen und Lateiner, eine gewisse Größe der Syllben können in acht nehmen; so setzet er doch gleich hinzu, welches man muthwillig und betrüglich ausläßt: sondern daß wir aus den Accenten und dem Tone erken nen, welche Syllbe hoch, und welche niedrig gesetzet soll werden9. Ein Jambus ist dieser:


U – U – U – U –

Erhalt | uns Herr | bey dei|nem Wort.|


Der folgende ein Trochäus:


– U – U – U –

Mitten | wir im | Leben | sind etc.


Denn in dem ersten Verse muß die erste Syllbe niedrig, die andere hoch, die dritte niedrig, die vierte hoch, und so fort ausgesprochen werden.[679] Heißt das nun Opitzen redlich anführen: so weis ich nicht, was ihn verdrehen heißt. Er gesteht freylich, daß die griechische Größe der Syllben sich bey uns nicht in allen Stücken beobachten lasse10; wie sie sich denn auch bey den Lateinern nicht völlig beobachten ließ, weil jede Sprache etwas eigenes hatte. Aber er zeiget doch zugleich, daß wir Deutschen wahre Jamben und Trochäen, NB. nach unserer Aussprache, nicht nach der griechischen und lateinischen Tonkunst, haben.

11 §. Von Buchnern aber, der gewiß die Alten so gut kannte, als unsere neuen Zoilen, ist es aus angezogenen Worten schon offenbar, daß er im Deutschen mehr, als ein Zählen der Syllben gelehret; da er sogar Daktylen und Anapästen im Deutschen gefunden. Er saget a.d. 145 S. ausdrücklich: Und weil sonst in unserer Muttersprache nicht wenig daktylische Wörter für sich seyn; die trochäischen auch, wenn ihnen ein jambischer nachgesetzt wird, leichtlich einen Daktylum machen können: so kann man auch füglich daktylische Verse, eben sowohl, als trochäische, in unsrer Sprache aufsetzen und machen. Heißt denn das nicht der hellen[680] Sonne im Mittage ihr Licht absprechen, wenn man sich untersteht, diese Leute auf seine Meynung zu ziehen11?

12 §. Doch wenn ich meine Gedanken sagen soll, so sind die obigen alten Verse nicht sowohl daktylische, als amphibrachische Verse. Denn der zweyte dreysyllbige Fuß heißt Amphibrachys, weil er vorn und hinten eine kurze, in der Mitten aber eine lange Syllbe hat. Solche Wörter giebt es nun im Deutschen sehr viel. Zum Exempel:


U – U U – U U – U U – U

geneigte, | beliebte, | vergebne | Gedanken. Einige unserer Dichter, und selbst Buchner, wollen zwar diese Art zu den anapästischen rechnen. Allein, diese sehen wiederum ganz anders aus, wie der folgende §. zeigen wird. Der obige Vers nun hatte vor dem Daktylus nur eine kurze übrige Syllbe; daher muß er amphibrachisch heißen, und so gezeichnet werden:


U – U U – U U – U U – U

Swer volget | dem Schilde | der soll es | enblanden |

Dem libe, | dem Gute, | dem Herze | den Handen etc.


Unsere neuen Dichter haben viele dergleichen gemachet, sonderlich ist Günther darinn glücklich gewesen12.[681]

13 §. Die dritte Art dreysyllbiger Füße sind die Anapästen. Es besteht aber ein Anapäst aus zwoen kurzen Syllben im Anfange, und einer langen am Ende; und ist also ein umgekehrter Daktylus. Wir haben auch Wörter genug im Deutschen, die so klingen: zum Exempel:


U U – U U – U U – U U – U U –

obenhin, ungemein, Majestät, unerhört, überlegt, u.d.gl. zu geschweigen, daß man durch die Zusammensetzung sehr leicht diese Art herausbringet. Der obigen Gattung aber fehlte im Anfange die zweyte kurze Syllbe, und also konnte sie nicht mit Recht anapästisch heißen. Die ganze Schwierigkeit kömmt nur auf das Anfangswort eines Verses an, die mittelsten Füße setzen sich so leicht, als die vorigen beyden, aus Trochäen und Jamben zusammen. Indessen681[682] kommen sie freylich bey unsern Dichtern nicht oft vor; es müßte denn in den Arien der Cantaten seyn13.

14 §. Nun könnte man hier noch mit leichter Mühe, die übrigen Arten der dreysyllbigen Füße, den BACCHIUM U – –, den HYPOBACCHIUM – – U und den CRETICUM – U –, anführen, von welchen allen uns die deutsche Sprache eben sowohl Exempel von Wörtern geben kann. Allein, da aus diesen Arten der Füße, bey uns keine ganze Verse gemachet zu werden pflegen: so wäre es ein Überfluß, sich lange dabey aufzuhalten. Soviel kann man merken, daß bisweilen ein Hypobacchius und Creticus die Stelle eines Daktyls; ein Bacchius die Stelle eines Anapästs, oder eines Amphibrachys vertreten kann; wann etwa die Menge der kurzen Syllben diese Arten der Verse gar zu weich, und zu hurtig machen wollten14.

15 §. Dieses waren nun die einfachen Füße: der zusammengesetzten hergegen, ist bey Griechen und Lateinern eine viel größere Menge. Es giebt noch sechzehn viersyllbige, zwey und dreyßig fünfsyllbige, und noch vier und sechzig sechssyllbige: die aber nur aus den obigen, auf verschiedene Art zusammengesetzet werden. Wie nun die alten Sprachlehrer hier unnöthigerweise die Sachen vervielfältiget, und durch[683] so viele Namen schwer gemachet; die man in der Gießenschen Poetik, im Scaliger, und bey andern nachsehen kann: also sehe ich nicht, was wir es im Deutschen nöthig haben, uns damit zu verwirren: so groß auch Isaak Vossens Meynung, von ihrer Kraft, in Erregung und Stillung der Affecten, gewesen. Denn haben sie dieselbe; so entsteht sie gewiß aus den einfachen Füßen, daraus sie zusammengesetzet sind15.

16 §. Aus diesen bisher erzählten Füßen nun entsteht das sogenannte METRUM; der Wohlklang, oder RHYTHMUS der Verse. Ich weis zwar wohl, daß einige Mückensäuger, die gern in Kleinigkeiten groß thun, unter diesen Wörtern einen himmelweiten Unterschied suchen; und andern, die ihre Grillen nicht gut heißen, eine recht barbarische Unwissenheit und Dummheit Schuld geben. Allein, die alten Redner und Sprachlehrer, auf die sie so trotzen, als ob sie selbige ganz allein kennten, und gelesen hätten, haben sich hierinn, wie in[684] andern Stücken, vielfältig widersprochen; und uns also die Freyheit gelassen, zu wählen16. Ich halte es hierinn mit Isaak Vossen, der durch das Metrum oder das Zeitmaaß nur die eigene Größe der Syllben; durch den RHYTHMUM, oder den Wohlklang aber, den Inbegriff vieler Füße, die einen ganzen Vers ausmachen, versteht17.

17 §. Gleichwohl kann man darauf so sehr nicht trotzen, als ob alle Menschen so reden müßten. Denn selbst die Alten blieben nicht dabey. Ein VERSUS BIMETER, TRIMETER, TETRAMETER heißt bey ihnen z.E. ein vier, sechs und achtfüßiger jambischer Vers; so daß ein METRUM dieser Art schon zweene Jamben in sich begreift, die gewiß vier Syllben haben. Man muß in solchen Dingen, die willkührlich sind, alle Schulfüchserey fahren lassen, und über Sachen, die zum Vergnügen der Ohren erfunden sind, wegen bloßer Namen, keine Kriege[685] erregen, die nur die freyen Künste lächerlich machen. Wie leicht kömmt es, daß ein Wort seine Bedeutung ändert? Heißt doch oft das Ganze auch so, wie der Theil, und umgekehret. Z.E. Jambus, heißt einmal ein Fuß, sodann aber auch ein ganzer jambischer Vers: wie Horaz in einer und derselben Stelle seiner Dichtkunst, beyde Bedeutungen gebrauchet hat:


SYLLABA LONGA BREVI SUBJECTA VOCATUR īambus,

PES CITUS;


Hier ist es der Fuß. Hernach heißt es:


UNDE ETIAM TRIMETRIS ACCRESCERE JUSSIT

NOMEN īambeis, CUM SENOS REDDERET ICTUS.


Hier sind die Jamben, ganze sechsfüßige jambische Verse, darinnen schon ein RHYTHMUS statt hat. Oder dünket jemanden hier bey ĪAMBEIS, das Wort VERSIBUS ausgelassen zu seyn: so nehme er folgenden dafür:


ARCHILOCHUM PROPRIO RABIES ARMAVIT ĪAMBO.


Und heißen nicht endlich JAMBI, bey andern, gar Satiren?

Fußnoten

1 Wer da wissen will, wie elend das klingt, der höre nur in der Schule eines gemeinen Schulmeisters, die Kinder lesen, wenn sie alle Syllben gleich lang hören lassen. Va – ter – un – ser – der – du – bist – u.s.w. Oder man höre die Franzosen ihre Psalmen singen, wo jede Syllbe einen halben Tact lang gezerret wird.


2 PRIMO ENIM OBSERVARUNT (VETERES), NON SUFFICERE, UT QUILIBET VERSUS ÆQUALI SYLLABARUM NUMERO ABSOLVANTUR; sed ut illi cantui aptentur, NECESSARIO ETIAM HOC REQUIRERE, ut temporum ratio in singulis Syllabis sibi constet. HUIC MALO FACILE OCCURRERE POTUERUNT, DIVIDENDO QUASVIS SYLLABAS IN LONGAS ET BREVES ET AMBIGUAS. DEINCEPS CUM ANIMADVERTERENT, NON CONCINNE MOVERI VERSUS, QUOD CONTINUI ESSENT, ET MEMBRIS CARERENT, SYLLABAS DISTRIBUERUNT IN CLASSES, AC PEDES COMMENTI SUNT, E DUARUM, TRIUM, PLURIUMVE SYLLABARUM COMPLEXIONE; UT NEMPE HIS VELUT MENSURIS ET INTERVALLIS, CANTUUM VERSUUMQUE INCESSUS DISTINGUERETUR. IB. P.45.


3 NUMERUS IN CONTINUATIONE NULLUS EST, DISTINCTIO ET ÆQUALIUM, ET SÆPE VARIORUM INTERVALLORUM PERCUSSIO, NUMERUM CONFICIT, QUEM IN CADENTIBUS GUTTIS, QUOD INTERVALLIS DISTINGUUNTUR, NOTARE POSSUMUS; IN AMNE PRÆCIPITANTE NON POSSUMUS. L.III. DE ORATOR.


4 Isaac Voßius schreibt davon P. 29. de Poematum Cantu, et virib. Rhythmi; CANTUS NON POTEST SUBSISTERE, SI SYLLABARUM NON CONSTET QUANTITAS; HUJUS AUTEM NULLAM VULGO RATIONEM HABERI APUD PLEROSQUE IN CONFESSO EST. UNO ENIM ORE OMNES FATENTUR, NEGLIGI HOC TEMPORE VERAM ET NATURALEM SYLLABARUM QUANTITATEM, SED HUNC DEFECTUM COMMODE SUPPLERI CENSENT ACCENTUUM OBSERVATIONE. – – VERUM HIC ERROR NON ALIUNDE PROFLUXIT, QUAM EX EO, QUOD EXISTIMARINT, AD LEGEM HODIERNORUM ACCENTUUM LECTA ET CANTATA OLIM FUISSE POEMATA. LONGE VERO ALITER ID SE HABERE JAM ANTEA MONUIMUS. SANE SI QUIS SCIRE DESIDERET, QUALIS FUERIT ANTIQUA CARMINUM PRONUNTIATIO, is non multum a veritate aberrabit, qui illam similem fuisse existimet, atque sit ea, quae vulgo in scandendis versibus ADHIBETUR.


5 Ich nenne ihn im Deutschen den feurigen, weil er so schnell fort flattert: ob es gleich gewiß ist, daß er bey den Alten in den Waffentänzen der Korybanten bey den Griechen, imgl. der Salier bey den Römern, nicht aber erst derer Kriegsleute, die Pyrrhus erfunden und eingeführet hatte, statt gehabt. Jene nämlich hat man schon dadurch zu starken und muntern Bewegungen gewöhnen wollen. Man findet auch schon in ältern Zeiten, daß es von dem Achilles gerühmet wird, daß er geharnischt, neben einem vierspännigen Wagen, der im vollen Trabe geführet ward, mit den Pferden habe um die Wette laufen können. Voßius saget von ihm: POTIUS VOLAT; QUAM CURRIT. NULLUM EX EO ALICUJUS MOMENTI CARMEN CONSTITUI POTEST, CUM NUMERO ET PONDERE PENE CAREAT; UNDE ETIAM A MOBILITATE DICTUS CREDITUR, quasi totus igneus.


6 Er hat seinen Namen von τρεχω, ich laufe, und also haben die Griechen geglaubet, daß er schnell im Laufe sey. Allein, meines Erachtens, und wo mich mein Gehör nicht betriegt: so hemmet die lange Dauer der ersten Syllbe diesen Lauf sehr; und der Vers bekömmt dadurch einen gesetzten und gravitätischen Klang.


7 Die Alten legten diesem Verse eine Heftigkeit, ja wohl gar eine Raserey bey. Horaz saget:


ARCHILOCHUM PROPRIO RABIES ARMAVIT ÏAMBO.


Allein, entweder haben sie hier, auf die Geschwindigkeit in der griechischen und lateinischen Aussprache der Jamben, gesehen, welche darum bey ihnen größer war, als bey uns; weil ihre Sprachen mehr Selbstlauter und weniger Mitlauter hatten, und also schneller über die Zunge rolleten. Oder es ist bloß auf den beißenden satirischen Inhalt der ersten Satiren des Archilochus angekommen. Und so leget Horaz die RABIEM nicht dem Verse, sondern dem Dichter bey.


8 So reden vernünftige und bescheidene Männer, die mehr ihrer Vorgänger, als ihre eigene Ehre ans Licht zu bringen suchen. Allein, ganz anders lautet die Sprache einiger heutigen Scioppen, die sich allein groß zu machen suchen, und sich wohl unterstehen zu sagen: Opitz und Buchner hätten selber nichts, als eine Syllbenzahl, und keine Größe der Syllben, oder Wortzeit zu beobachten geglaubet und gelehret; wodurch sie zeigen, daß sie beyde entweder nicht gelesen, oder nicht verstanden haben, oder mit Fleiß verdrehen wollen.


9 Eben, so hat Theod. Beza schon vor 200 Jahren die französischen Syllben geschätzet wissen wollen: ILLUD AUTEM CERTO DIXERIM, SIC CONCURRERE IN FRANCICA LINGUA TONUM ACUTUM CUM TEMPORE LONGO, UT NULLA SYLLABA PRODUCATUR, QUÆ NON ITIDEM ATTOLLATUR, NEC ATTOLLATUR ULLA, QUÆ NON ITIDEM ACUATUR: AC PROINDE EADEM SIT SYLLABA ACUTA, QUÆ PRODUCTA, ET EADEM GRAVIS, QUÆ CORREPTA P. 74. DE FRANC. LINGUÆ RECT. PRONÜNC. GEN. 1584.


10 Auf eben die Art redete oben Clajus von den deutschen Syllben; und wies doch, wie man allerley Arten von Füßen im Deutschen, nach Art der Alten machen könne. Ja, die Alten selbst haben es im Anfange nicht anders wissen können, welche Syllbe lang oder kurz wäre, als nach dem Gehöre bey ihrer Aussprache. S. den Gerh. Joh. Vossius L. II. DE ARTE GRAMM. CAP. XII. DE QUANTITATE. QUANTITAS, saget er, EST ILLA SYLLABÆ AFFECTIO, QUA EJUS TEMPUS, SEU MORAM IN EFFERENDO, METIMUR.


11 Ich will noch den Clajus anführen, der lange vor diesen Zeiten geschrieben hat. Dieser schreibt a.d. 261 S. seiner Grammatik. VERSUS NON QUANTI TATE (SCIL. nach den Regeln der griechischen und lateinischen Prosodie) SED NUMERO SYLLABARUM, (d.i. nicht nach der bloßen Zahl, sondern nach dem RHYTHMO, oder Wohlklange der Syllben) MENSURANTUR: SIC TAMEN, UT ἄρσις ET θέσις OBSERVETUR, JUXTA QUAM PEDES CENSENTUR AUT JAMBI AUT TROCHÆI, ET CARMEN FIT VEL JAMBICUM VEL TROCHAICUM. SYLLABÆ ENIM, QUÆ NB. COMMUNI PRONUNCIATIONE NON ELEVANTUR, SED RAPTIM, TAMQUAM SCHEVA APUD EBRÆOS PRONUNCIANTUR, IN COMPOSITIONE VERSUS NEQUAQUAM ELEVANDÆ SUNT, (welches gleichwohl unser Momus lehret) SED DEPRIMENDÆ; ET CONTRA SYLLABÆ, NB. accentum sustinentes NEQUAQUAM DEPRIMENDÆ, SED ELEVANDÆ SUNT. Was will man deutlichers haben?


12 Es irret mich also nicht, wenn ein gewisser Censor neulich öffentlich vorgeben wollen: Die deutsche Dichtkunst kenne diese Verse nicht. Ich weis nicht, wie ich die Quelle dieses Urtheils nennen soll; denn alle Namen, die ich ihr geben kann, klingen mir zu hart, als daß ich sie heraussagen wollte. Was sind denn Günthers, aus dem Johannes Secundus übersetzte Verse, anders; als amphibrachische?


U – U U – U U – U U – U

Da hast du | die Zeugen | vom ewi|gen Bunde,

Da kömmt sie | da ist sie | die seli|ge Stunde, etc.


andrer unzähliger Dichter voritzo zu geschweigen. Die Sache selbst ist also der deutschen Poesie nicht unbekannt. Sollte es also der Namen seyn, der den Deutschen unbekannt wäre? Ja freylich! Pritschmeistern und Meistersängern, die nichts von der griechischen und lateinischen Prosodie wissen, mag er wohl unbekannt seyn: aber gelehrten Leuten und Dichtern nicht, die ein jedes Kind bey seinem Namen nennen. Dieß Urtheil sieht also einem Poeten ähnlich, der da fähig gewesen, Deutschland eine Ode, unter dem Namen einer sapphischen aufzudringen, die nichts weniger, als das sapphische Syllbenmaaß, ja nicht einmal die Syllbenzahl der sapphischen Ode beobachtet; sondern bloß eine trochäische heißen kann.


– U – U – U – U – U

Freund, die | Tugend | ist kein | leerer | Name | etc.


13 Man sehe meine Vorübungen der Dichtkunst nach.


14 Dieses geschieht auch von vielen Dichtern, aus Bequemlichkeit und Unvermögen, nur gar zu oft, als daß man ihnen deswegen eine Regel zu geben nöthig hätte. Und wieviel falsche Daktylen findet man nicht in den neuen epischen Gedichten; obgleich in Hexametern dergleichen Verwechselungen der Füße niemals erlaubt gewesen? Was ich also, als eine Anmerkung beygebracht habe, das kann bey den Hexametern gar nicht zur Entschuldigung angeführet werden. Denn die wahren heroischen Verse müssen in ihrem Syllbenmaaße so rein seyn, als nur möglich ist. Man sehe, wie Gerh. Joh. Vossius den Virgil u.a. heroische Dichter, über dergleichen Beschuldigungen im II B.s. ART. GRAMM, an unzähligen Orten vertheidiget hat.


15 Man kann es nicht läugnen, daß die verschiedenen Füße nicht zum Nachdrucke der Gemüthsbewegungen viel beytragen sollten. So scheint mir allerdings ein trochäischer Vers viel gesetzter und männlicher zu heroischen Gedichten zu klingen, als ein jambischer. Z.E. wenn im II B. des Hermanns, dieser Held den König Marbod, so anredet:


König! deine Thaten haben etc.


so klingt mir dieses viel herzhafter, als wenn in Pietschens VI Karl, der doch gewiß sehr heroisch von Gedanken ist, der Großvezier den Sultan Achmet anredet. Und gleichwohl hat dieser seinen jambischen Vers etwas männlicher zu machen, sich vorn einer langen Syllbe, Nein, oder eines Spondäus bedienet; wie ihm in Jamben, allerdings, auf der er sten Stelle frey stund:


Nein, Kaiser, nein, es steht dein unbewegter Thron.


Hätte er dieses nicht gethan, so würde die Anrede sehr matt geklungen haben: weil die Stimme sich auf kurzen Syllben gar nicht verweilet, sondern gleich zur folgenden eilet.


16 Vossius schreibt davon a.d. 11. S. seines Tract. DE POEM. CANTU ET VIR. RHYTHMI also: VENIAMUS AD rhythmum, PARTEM CARMINIS PRÆCIPUAM. QUOD VOCABULUM ATTINET, DE EO NON EADEM OMNES SENTIUNT, DUM SÆPE ETIAM APUD PROBATISSIMOS SCRIPTORES, pes, metrum, ET rhythmus IDEM PRORSUS SINT; ALII VERO, NON EA QUA DEBENT RATIONE DISTINGUANT. LONGUM FORET SINGULORUM EXPLICARE SENTENTIAS, CUM NEC GRAMMATICI, NEC MUSICI, NEC PHILOSOPHI AUT RHETORES SATIS SIBI CONSTENT; IMMO NON DISCREPANTIA TANTUM, SED ET SÆPE CONTRARIA PRODANT. HÆC VOCABULORUM CONFUSIO NATA, NISI FALLOR, EX DIVERSA ACCEPTIONE metri ETC.


17 Vossius saget nämlich am angef. Orte: IN EO ENIM CONSENTIUNT FERE INTER SE ANTIQUIORES PLERIQUE GRÆCI, rhythmum ESSE BASIN SEU INCESSUM CARMINIS. MELIUS ITAQUE, QUAM CETERI, MIHI DEFINIVISSE VIDENTUR ILLI, QUI DICUNT: Rhythmum esse systema, seu collectionem pedum, quorum tempora aliquam ad se habeant rationem s. proportionem. Da auch METRUM an sich nichts, als ein bloßes Maaß, bedeutet, so kann man dasselbe sowohl auf das Zeitmaaß einer Syllbe, wodurch sie entweder lang oder kurz wird; als auf das Maaß vieler Syllben, die zu einem Fuße gehören, ziehen, wodurch ein Fuß länger wird, als der andre. Ja, man kann auch die Länge eines Verses selbst, nach der Zahl seiner Füße abmessen: so daß z.E. ein vierfüßiger Jambus, ein ganz ander METRUM haben wird, als ein fünf oder sechsfüßiger.[686]


Quelle:
Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. 12 Bände, Band 8, Berlin und New York 1968–1987, S. 673-687.
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