679. Die Osterjungfrau und die Wunderblume.793

[637] Zu Osterode, das seinen Namen von der heidnischen Jungfrau Ostera haben soll, die daselbst vor alten Zeiten verehrt wurde, liegen auf einem Hügel vor dem Harzthore die Trümmer einer Burg. Diese Burg ist ehemals ein stattliches Schloß gewesen und die Herren von Osterode haben da ihren Sitz gehabt. Als aber der letzte Herr von Osterode starb, hinterließ er eine Tochter von wunderbarer Schönheit. Ein Ritter Gerhard von Harzburg kam und warb um die junge Waise, erhielt aber eine abschlägige Antwort. Darüber ergrimmte er und beschloß, die Osteroder Burg sammt ihren Bewohnern zu vernichten. Ein Zauberer im Morgenlande hatte ihn in den Höllenkünsten unterrichtet und so zog er denn mit den Seinen auf Osterode zu, nahm und zerstörte die Burg, drang bis zu der schönen Jungfrau und sagte: »Du hast meine Liebe nicht gewollt, zur Strafe dafür sollst Du verwünscht sein: als ein greulicher Hund sollst Du hinführo tief unten in dieser Burg hausen und nur einmal im Jahre, am ersten Tage in Ostern als Jungfrau in Deiner natürlichen Art unter die Menschen gehen. Dieser Bann soll währen, bis der erstgeborene reine Sohn einer ganz keuschen Mutter Dir begegnet, Dir folgt in Deine finstere Stätte und Dich, wenn Du wieder in Deine Hundsgestalt verwandelt bist, ohne Zagen an die glühende Kette des Gewölbes legt.«

Nun erzählen die Leute zwar, daß der Räuber für seine böse That selbst nicht Ruhe finden kann und sein Geist in dem Gemäuer der alten Burg an jedem Freitage wandeln gehen muß, aber auch die arme Bezauberte kann nur einmal alljährlich am Osterfeiertage aus ihrem Kerker hervorgehen. Dann erscheint sie überaus schön in schneeweißem Gewande, wandelt langsam vor Sonnenaufgang auf den Bach zu, wäscht sich daraus und wartet, daß sie einer erlöse. Viele Menschen haben sie schon gesehen und Mancher hat Geschenke von ihr bekommen, allein es hat noch Keiner mit ihr durch die eiserne Thür kommen können, die ihr Gewölbe verschließt.

Nun trug eines Tags ein armer Leinweber aus Osterode am Sonnabend vor Ostern ein Stück Leinen nach Clausthal, mit dem Lohn dafür wollte er das Osterfest feiern und wäre gern den Abend noch wieder zurückgegangen. Aber es war spät geworden, und so im Dunkeln den Weg zu gehen, schien ihm nicht gerathen. Er blieb also die Nacht in Clausthal, wie aber der Morgen graute, machte er sich wieder auf den Weg und wie die Sonne eben am Aufgehen war, war er oberhalb der Freiheit – so heißt die Vorstadt, welche der Seesefluß von der Stadt Osterode trennt – angelangt. Da sah er, wie eine schneeweiße Jungfrau mit einem großen Bund Schlüssel im Gürtel, auf den Fluß zuging und sich daraus wusch. Betroffen stand er still und bald gewahrte ihn die Jungfrau und kam auf ihn zu. Wie er nun ganz ehrerbietig den Hut zog und sie freundlich dankte, da fragte der Leinweber: warum sie denn so früh aufgestanden sei und sich aus diesem Wasser wasche? »Das pflege ich jeden Ostermorgen vor Sonnenaufgang zu thun«, antwortete die Jungfrau, »und davon bleibe ich immer schön und jung!« Der Leinweber fragte weiter: wo sie denn wohne und ob ihr Haus[638] weit von hier sei? »Nicht weit, wenn Du Lust hast, will ich Dich hinführen!« Der Leineweber sah, daß sie eine prächtige Lilie an der Brust trug und die war so schön, wie er sein Lebelang nicht gesehen. Er wußte aber wohl, daß um Ostern noch keine Lilien blühen, also sagte er: »Ihr müßt wohl einen recht warmen und schönen Garten haben, daß Ihr jetzt schon Lilien führt?« – »Geh mit mir«, antwortete die Jungfrau, »so will ich Dir von den Lilien geben, die in meinem Garten wachsen.«

Sie kamen an den alten Trümmerhaufen, der dem Weber jetzt ganz anders und viel besser vorkam als vorhin, und standen vor einer eisernen Thür, die hatte der Weber noch gar nicht bemerkt. Vor derselben, auf einem grünen Platze, blüheten drei weiße Lilien; die Jungfrau brach eine und gab sie dem erstaunten Manne und sagte: »Die nimm hin nach Deinem Hause und verwahre sie wohl.« Der Leineweber dankte ihr ganz treuherzig und steckte die Lilie an seinen Hut. Wie er wieder aufsah, war die schöne Jungfrau verschwunden und die Thür war auch nicht mehr zu sehen und die alte Burg stand wieder so traurig und zerfallen da wie immer. Daraus wußte sich nun der arme Weber gar nicht zu finden und meinte, es sei das Beste, wenn er nach Hause gehe. Wie er zu Hause kommt, legt er die blanken Harzgulden, die ihm sein Leinen eingebracht, auf den Tisch, den Hut mit der Lilie daneben. Da fragt die Frau des Leinewebers, woher er denn die prächtige Lilie bekommen, die schimmere ja wie Gold und Silber. Da erzählt's der Mann und sagt, es sei ihm von der Blume unterwegs der Hut ganz schwer zu tragen geworden. »Ach!« ruft die Frau, »das ist die Osterjungfrau gewesen, und das ist auch keine gemeine Lilie, das ist lauter Gold und Silber! Du warst zur guten Stunde des Weges gekommen. Ist die Jungfer nicht in die eiserne Thüre gegangen?« – »Ja, das ist sie, ich wollte auch mit hinein, aber ich konnte die Thür nicht wiederfinden.« – »Ja, so geht's Allen.«

Wie die Kirche aus war, ging der Weber mit seiner Lilie zum Goldschmied, der staunte nicht wenig und sagte es denn auch, daß Alles vom feinsten Gold und Silber sei und daß die Stadt Osterode nicht Geld genug habe, diese Blume zu bezahlen; er rathe ihm deshalb, daß er das Kleinod noch eine Zeitlang aufbewahren möge, es werde sich schon der rechte Käufer finden. Das war nun bald unter die Leute gekommen, wie die Osterjungfrau dem armen Weber eine Lilie geschenkt habe, welche die ganze Stadt nicht bezahlen könne, und alle Menschen sprachen davon. Der hohe Rath ließ den Weber vor sich auf's Rathhaus fordern, daß er aussage, wie er zu der Lilie gekommen, und das that der Weber auch treu und ehrlich und zeigte den Rathsherren die herrliche Blume. Da beschlossen die Rathsherren, sie dem Herzoge zum Kaufe anzutragen. Dem Weber gaben sie ein wohlverfaßtes Schreiben an den Herzog mit und wie er damit im Hoflager angekommen war, wurde er mit dem Herzog einig, daß derselbe ihm und seinen Kindern, so lange sie leben würden, ein angemessen Jahrgeld auszahlen solle. Die Lilie wurde nachher nur an außerordentlichen Festtagen gesehen, wo sie die Herzogin trug, der Herzog aber nahm sie zur Erinnerung in das hochfürstliche Wappen auf und darin sieht man die drei Lilien bis auf den heutigen Tag.

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S. Harrys Bd. II. S. 56 etc. Hoffmann, Burgen des Harzes S. 35. 182. 209. Röhr, Merkw. des Oberharzes I. S. 382.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 637-639.
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