145. Der Kindfresser zu Stendal.200

[136] Im Jahre 1638 ist in der ganzen Altmark und namentlich zu Stendal große Hungersnoth gewesen. Erstlich ist sehr spät Frühjahr geworden, dann haben die Mäuse die Wurzeln des jungen Getreides zerstört und die wenigen Aehren, die noch auf den Feldern gewachsen sind, sind nach der Ernte mit den Garben zugleich durch große Regengüsse verdorben worden, also daß man so gut wie gar nichts eingeerntet hat. Im darauf folgenden Winter haben nun in Folge dessen die Leute fast gar nichts zu essen gehabt, und so hat es sich zugetragen, daß ein Soldat, der sammt Frau und Kindern zu Stendal wohnte, auch große Noth litt. Eines Tages nun hat ein kleiner[136] Knabe diesen Soldaten, seinen Vater, gar erbärmlich um Brod angesprochen, dieser aber ist darüber in Wuth gerathen, hat zum Schwerte gegriffen und sein Kind mit einem Hiebe niedergestreckt, dann dem Hingewürgten den Leib aufgeschlitzt, ihm Lunge und Leber herausgerissen und die Mutter, die vor Schluchzen fast erstickte, gezwungen, ihm, dem vor Hunger fast Vergehenden, Beides zu kochen und zu braten. Sie that es aus Furcht vor dem Grimm des Mannes, der Elende hat auch gierig des eigenen Kindes Eingeweide verzehrt, allein die Mahlzeit ist ihm schlecht bekommen, denn schnell hat er wüthende Schmerzen in seinem Leibe empfunden, wie wenn er von tausend glühenden Zangen gezwickt würde; er klagte sich schreiend an als seines eigenen Kindes Mörder, verfluchte sich selbst und sank dann plötzlich wie einst Ananias und Sapphira zu Boden und seine schwarze Seele entfloh, darauf kamen Henkersknechte, ergriffen seinen Leichnam und begruben ihn auf dem Schindanger. Diese schauderhafte Begebenheit hat sich aber in eines Bürgers Lorenz Buschels Hause in der großen201 (d.h. in der jetzigen) Bruchstraße zugetragen.

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Nach Weihe, Bd. II. S. 25 etc. Sammlung zu einer Chronik von Stendal S. 55.

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Damals gab es noch eine kleine Bruchstraße, welches die jetzige Priesterstraße ist.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 136-137.
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