Zinsvögel

[235] Am vollen Erntewagen

Froh wallte der Bauer einher,

Die Erntekränze sie lagen

Auf garbenbeladenem Wagen,

Die Rößlein zogen gar schwer.


Ein Adler flog an den Wagen:

»Mein Bäuerlein, halt, ich bin's!

Daß Füchse dein Huhn nicht nagen,

Verbarg ichs in meinem Magen;

Lad' ab mir den Schutzherrnzins!«


Ein Falke flog in den Räumen:

»Mein Bäuerlein, halt, ich bin's!

Ich lasse dein Saatfeld keimen,

Wie Sonn' und Hagel es reimen;

Lad' ab mir den Bodenzins!«


Gehüpft kam auch ein Rabe:

»Mein Bäuerlein, halt, ich bin's!

Daß ich, der einst dich begrabe,

Zu überleben dich habe,

Lad' ab mir den Sterbezins!«
[236]

Zur Scheuer rollte der Wagen,

Die Rößlein zogen nicht schwer;

Die Erntekränze nur lagen

Und soviel Garben im Wagen,

Daß Einer drauf schlafe, nicht mehr!


Der Bauer betet gen oben:

»Es soll, hilf Herre des Alls!

Der Adler mein Blei noch erproben,

Der Falk' in den Schlingen mir toben,

Umdreh' ich dem Raben den Hals!«


Hui! sank er aufs Stroh, ein Müder,

Und an ein Schnarchen ging's!

Da schwebten vom Himmel hernieder

Zwei Täublein im Silbergefieder,

Eins rechts zu ihm, eins links.


Sie fächeln ihm mit den Schwingen

Den Schweiß vom Stirnenrund,

Die goldenen Schnäblein klingen.

Was sie ins Ohr ihm wohl singen?

Süß lächelt und lispelt sein Mund.


Das mocht' ihn gar tröstlich umschmiegen,

Das mochte gar Friedliches sein,

Er läßt ja den Adler noch fliegen,

Den Falken in Lüften sich wiegen,

Den Raben hüpfen und schrei'n.


Dieß Liedlein, in blühenden Hagen

Sang's einer vom Falkengeschlecht,

Hat oft von den Erntewagen

Sein Futter sich heimgetragen,

Weiß Gott, es schmeckt ihm nicht recht.

Quelle:
Anastasius Grün: Gesammelte Werke, Band 1–4, Band 1, Berlin 1907, S. 235-237.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Sämtliche Werke 2: Gedichte. Hg. von Anton Schlossar [Reprint der Originalausgabe von 1906]
Sämtliche Werke 4: Jugendgedichte. Gedichte früherer und späterer Zeit. Ungedruckte Gedichte. Hg. von Anton Schlossar [Reprint der Originalausgabe von 1906]

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Flucht in die Finsternis

Flucht in die Finsternis

Robert ist krank und hält seinen gesunden Bruder für wahnsinnig. Die tragische Geschichte um Geisteskrankheit und Tod entstand 1917 unter dem Titel »Wahn« und trägt autobiografische Züge, die das schwierige Verhältnis Schnitzlers zu seinem Bruder Julius reflektieren. »Einer von uns beiden mußte ins Dunkel.«

74 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon