Der Räuber und der Wolf

[11] eine Fabel


Ein Wolf, ein grauses Scheusal der Natur,

Das Schrecken aller Schäfer auf der Flur,

Hielt, hingestreckt auf grüne Matte,

Ein Lamm, das er zerissen hatte,

Und, ungerührt von herben Klagen

Der Mutter, er davongetragen,

In seiner Klau und fraß. Ein Räuber sah

Das blutge Paar. Raubgierig schrie er, ha!

Schmeckts, guter Freund? – Mit seinem Schwerte

Bohrt er den Wolfen hin zur Erde.

Da stöhnt der matt: Du bist so bös wie ich,

Und doch, du Brudermörder, tötest mich!

Der nimmt das Lamm. Mein Bruder, höre,

Spricht er, zu spät nun diese Lehre.

Kein arger Böswicht ist des andern Freund,

Und selbst, Freund, merke dirs, sein ärgster Feind.


Den 16ten November 1805


Quelle:
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Band 1, München [1960–1965], S. 11.
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