Das dreiundzwanzigste Kapitel.

[158] Simplex betrachtet sein mühsames Leben,

Will sich bekehren, der Frömmkeit ergeben.


Ich lase einmals, wasmaßen das Oraculum Apollinis den römischen Abgesandten, als sie fragten, was sie tun müßten, damit ihre Untertanen friedlich regieret würden, zur Antwort geben: Nosce te ipsum, das ist, es sollte sich jeder selbst erkennen. Solches machte, daß ich mich hintersann und von mir selbst Rechnung über mein geführtes Leben begehrete. Weil ich ohndas müßig war, da sagte ich zu mir selber: »Dein Leben ist kein Leben gewesen, sondern ein Tod; deine Tage ein schwerer Schatten, deine Jahre ein schwerer Traum, deine Wollüste schwere Sünden, deine Jugend eine Phantasei und deine Wohlfahrt ein Alchimistenschatz, der zum Schornstein[158] hinausfähret und dich verläßt, eh du dich dessen versiehest! Du bist durch viel Gefährlichkeiten dem Krieg nachgezogen und hast in demselbigen viel Glück und Unglück eingenommen, bist bald hoch, bald nieder, bald groß, bald klein, bald reich, bald arm, bald fröhlich, bald betrübt, bald beliebt, bald verhaßt, bald geehrt und bald veracht gewesen. Aber nun du, o meine arme Seele, was hast du von dieser ganzen Reise zuwege gebracht? Dies hast du gewonnen: Ich bin arm an Gut, mein Herz ist beschwert mit Sorgen, zu allem Guten bin ich faul, träg und verderbt, und was das allerelendeste, so ist mein Gewissen ängstig und beschwert, du selbsten aber bist mit vielen Sünden überhäuft und abscheulich besudelt! Der Leib ist müde, der Verstand verwirrt, die Unschuld ist hin, meine beste Jugend verschlissen, die edle Zeit verloren. Nichts ist, das mich erfreuet, und über dies alles bin ich mir selber feind. Als ich nach meines Vatters seligen Tod in diese Welt kam, da war ich einfältig und rein, aufrecht und redlich, wahrhaftig, demütig, eingezogen, mäßig, keusch, schamhaftig, fromm und andächtig, bin aber bald boshaftig, falsch, verlogen, hoffärtig, unruhig und überall ganz gottlos worden, welche Laster ich alle ohn einen Lehrmeister gelernet. Ich nahm meine Ehre in acht, nicht ihrer selbsten, sondern meiner Erhöhung wegen. Ich beobachtete die Zeit, nicht solche zu meiner Seligkeit wohl anzulegen, sondern meinem Leib zunutz zu machen. Ich habe mein Leben vielmal in Gefahr geben und habe mich doch niemal beflissen, solches zu bessern, damit ich auch getrost und selig sterben könnte. Ich sahe nur auf das Gegenwärtige und meinen zeitlichen Nutz und gedachte nicht einmal an das Zukünftige, viel weniger, daß ich dermaleins vor Gottes Angesicht müsse Rechenschaft geben!« Mit solchen Gedanken quälete ich mich täglich, und eben damals kamen mir etliche Schriften des Guevarae unter die Hände, davon ich etwas hieher setzen muß, weil sie so kräftig waren, mir die Welt vollends zu verleiden. Diese lauten also:

Quelle:
Grimmelshausens Werke in vier Teilen. Band 1, Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart o.J. [1921], S. 158-159.
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