Thränen in grosser Hungers-Noth

1.

So muß dein Fluch den Himmel schliessen?

Versiegelst du der Brunnenquell?

Indem wir Thau und Regen missen

Und schmachten/ als in einer Höll?

So wird die Erden/ die uns nehret;

In Fels und Eisen gantz verkehret!


2.

Weh mir! die ehrnen Wolcken brennen!

Die tunckel-rothe Sonne glüht!

Indem der Grund sich wil zutrennen!

Und man die Ufer wachsen sieht.

Die Ströme die sich vor ergossen/

Sind fast den Bächen gleich verschossen.


3.

Der Wald steht Laubloß und empfindet

Wie der verhaste Sud auszehr/

Die Aest und Wipffel offt entzündet.

Schau wie die Wiese sich verkehr/

Das Gras mit Blum und Klee vermenget/[105]

Ist Boden gleich/ gantz abgesenget.


4.

Das scheue Wild macht sich von hinnen/

Der Vögel junge Zucht verschmacht:

Man sieht kein Tröpflein abwerts rinnen/

Wie hart der Wetter-Sturm erkracht!

Das Vieh wirfft die verdorrten Glieder

Todt bey der leeren Krippen nieder!


5.

Was rühr ich/ Ach! der Menschen Zagen

Das nunmehr unaussprechlich ist.

Ach wer kan diese Ruth ertragen!

Ach Herrscher der du alles siehst!

Ergetzet dich ja unser Sterben/

So laß uns doch nicht so verderben.


6.

Schau wie die lebenden Gerippe

Mit tieffen Augen dir nachsehn/

Wie sie mit gantz verschrumpter Lippe/

Fast Athem-loß dich/ Herr/ anflehn!

Und wenn sie nun den Geist hingeben

Zu dir die dürren Arm' erheben.


7.

Des Kindes Hertze wird gebrochen

An der verstarrten Mutter-Brust/

Der Mutter die (nur Haut und Knochen)

Selbst auf dem Kind erblassen must!

Der sucht vor den erhitzten Magen

Was schwer und schrecklich ist zu sagen.


8.

Ach Herr! ach! ach! daß dich erweiche

Die gri ist und allgemeine Noth/

Das gantze Land ist eine Leiche/

Ist deine Vater Treu denn Todt?

Nein! nein! du wirst uns Herr nicht lassen;

Du kanst nicht dein Geschöpffe hassen.


9.

Eröffne die liebreichen Hände/

Und speise was sich dir verpflicht.

Erfreu die dürren Feld-Gewende

Durch Korn und Segen-reiche Frücht.

Theil unter dürfftige Gemüther/

Die Füll und Schätze deiner Güter.


10.

Laß unser Seuffzen dich versöhnen/[106]

Eil aus mitleidend-vollem Sinn

Das Jahr mit Fruchtbarkeit zu krönen

Daß unsre Nahrung nicht zerrinn/

Du hast das Leben ja gegeben:

Gib denn/ was nöthig ist zu leben.

Quelle:
Andreas Gryphius: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Band 3, Tübingen 1963, S. 102-103,105-107.
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