6.

[55] Wir finden sie in einer Extrapostchaise wieder, die eines frühen Morgens in jene zaubervolle, sonnenglanzverklärte Ebene niederfährt, die man von einer großen Terrasse der Stadt aus nur mit dem Hochgefühl der Sehnsucht und des Entzückens betrachten kann.

Berge ringsum; aber nichts mehr, was bedrückt oder beengt, wie daheim, wo die vier verhängnißvollen Bächlein niedergingen. Ein großer freundlicher Strom schlängelt sich durch Wiesen und Felder hin, und erst die äußersten Ränder desselben sind mit waldigen Höhen umkränzt. Ueber das ganze große Panorama hin die bunteste Abwechselung. Hier grüne junge Saaten, dort die gelben großen Tücher der nordischen Oelpflanze; dann ein dunkler Eichenforst, hinter dem wieder die blauen Wogen des Stromes aufblitzten; die Häuser so schmuck mit rothen Ziegeldächern, die Herrschaftssitze mit langen Pappelalleen, die in mäßiger Verwendung jeder Gegend einen ganz besonders vornehmen Ausdruck geben, und so auf Stunden und auf Meilen hin.

Die Berge da, sagte Lucindens Begleiter, sind die Weserberge! Dahinter geht's nach Bremen und dann – nach Amerika![56]

Es war ein wunderschöner Junimorgen. Die Sonne brannte, und gern hätte Lucinde die Glasfenster des Wagens geöffnet.

Ihr Begleiter wollte erst die nächste Station abwarten. Auch dort noch bat er, die Schwüle des engen Raumes lieber noch eine Weile zu ertragen.

Erst gegen zehn Uhr, als sie wol schon fünf Meilen von der von ihnen verlassenen Stadt entfernt waren und es eine waldige Anhöhe hinaufging, öffnete er und ließ das Fenster ganz zurückschlagen.

Viel lieber hätte Lucinde die Aussicht genossen, die sich früher dargeboten hatte, Fernblicke auf die rothgedachten Meiereien, altersgraue, aus Busch und Baum hervorblickende Thürme alter Edelsitze und Abteien, Mühlenwerke und Fabriken, deren hohe Schornsteine die blaue Luft mit kräuselnden Nebelwolken erfüllten, wunderliche Kirchthürme, die bald den Minarets der Moscheen glichen, bald aber auch ganz verbuttet aussahen, wie alte Büchsen und Flaschen für Pferdemedicamente … Jetzt lag nur zur Rechten ein fast undurchdringlicher Tannenwald, zur Linken ging es eine kleine Anhöhe mit niederm Gehölz hinauf, an das sich zuletzt eine Buchenwaldung lehnte. Belebt war's ringsum. Fink, Drossel und Pirol ließen ihren frischen Waldruf ertönen. Aus dem Tannendickicht zur Rechten hörte man dann und wann ein hallendes Geräusch, das die Nähe von Holzschlägern verrieth. Zur Linken fiel die Sonne so günstig über die grünen Baumkronen, daß sich ganz jene lieblich magischen Lichtwirkungen erzeugten, die eben auch nur den Buchenwäldern eigen sind.[57]

Nach Amerika!

Das war weit von diesen summenden Käfern, diesen um die Rosse des Postillons schwärmenden Brummfliegen, weit von diesem selbst, der die Anhöhe zu Fuß nebenher ging und mit einem aus dem Vorholz zur Linken gebrochenen Birkenzweige über das lichtbraune Glanzhaar seiner schweißgebadeten Thiere hinfächelte!

Bei so fernem Reiseziel mochte wohl gerechtfertigt sein, daß der junge Buchhalter – denn Oskar Binder ist Lucindens Begleiter – schon seit fünf Uhr Morgens, wo sie ausgefahren, so außerordentlich nachdenklich ist und immer nur eine kleine Kassette betrachtet, die er auf dem Schoose hält.

An und für sich war er fast gekleidet als ging' es zum Balle …

Als Lucinde vorm Thore, wo sie seiner Weisung zufolge ohne irgendein anderes Gepäck, als das sie selbst in der Hand tragen konnte, an zwei einsam am Wege stehenden Pappeln erscheinen sollte, seiner in einem harrenden Wagen ansichtig wurde, erkannte sie ihn kaum. Er blickte hinaus und winkte heftig, daß sie rasch auf den Tritt der Chaise und durch die von ihm gehaltene Thür einsteigen möchte. Er hatte sich von gestern, wo sie kurz und rasch erklärt hatte, es wäre sicher am besten, wenn sie sich ihm zur Reise nach Amerika anschlösse, bis heute früh seinen schönen Bart sowol um Mund wie Kinn und Wange abnehmen lassen, und hatte eine ganz curiose Physiognomie bekommen, die früher aus der Bartwaldung heraus kaum erkennbar gewesen war.

Hätte sie nicht ihr Wort gegeben und wäre des[58] »nun doch verpfuschten« Lebens in der Residenz überdrüssig gewesen, so hätte sie umkehren mögen, so wenig gefielen ihr jetzt die Nase, der Mund und die Ohren des jungen Buchhalters, denn auch diese hatten früher nicht so grell hervorgestanden, als seit heute früh, wo auch seine schönen langen, zierlich über den Hemdkragen in einem einzigen Strich herabfallenden dunkelbraunen Haare von der Schere vertilgt worden waren. Die gelben Glacéhandschuhe trug er wie immer. Für den schwarzen trug er einen grünen Reitfrack mit goldenen Knöpfen, dazu elegante carrirte Beinkleider, eine hohe Mütze von schottischem Zeuge mit einer Troddel, und einen Plaid, den er sofort, als fröstelte ihn in allen Gliedern, über seinen ganzen Körper ausbreitete, sorgfältig aber dabei der Knöpfe seiner Glacéhandschuhe achtend und diese selbst ab und zu ungeduldig niederstreifend wie beim Anprobiren …

Dafür, daß auch Lucinde sich, nach seinem ausdrücklichen Wunsche, ja Befehl, gänzlich metamorphosirt hatte, schien er im ersten Augenblick kaum ein Auge zu haben, und doch bot sie eine phantastische Erscheinung dar.

Ein kleines kurzes Strohhütchen nahm sie ab, und da fielen ihr die vollen Haare, die sie sonst nur in Flechten getragen, in langen dunkeln Locken über die Schulter bis in den Nacken herab. Von gestern Abend sieben bis neun Uhr hatte sie von ihrer Schwester, die in diese Reise eingeweiht war, sich ihr Haar so ordnen lassen, hatte die Nacht geschlafen mit funfzig Papilloten um den Kopf, die von Luisen mit einer großen, über zwei Talglichtern[59] glühend gemachten Ofenzange gebrannt worden waren. Alle Liebesbriefe, die beim Ausrangiren der so »leicht wie möglich« herzustellenden Bagage auf dem Boden der kleinen Dachstube ausgebreitet lagen, waren zu diesen Papilloten benutzt worden.

Zu dem reizenden Kopfschmuck gesellte sich fast eine Balltoilette, ein luftiges, bauschiges, weißes Kleid, das schönste, das sie hatte, bestehend aus einem geblümten Musselinstoff. Die vor Eile fast athemlos klopfende Brust bedeckte eine rothe Florecharpe mit langhängenden seidenen Fransen. Dazu zwar hohe Schnürstiefel aus Seidenzeug, keine Schuhe, wohl aber helle Handschuhe und Manschetten von langen weißen Spitzen. Es hätte zu dieser Erscheinung ein mit Seide ausgeschlagener offener Landau, nicht die auf jeder Station gewechselte schmuzige Postchaise gehört.

Aber sowol für diese Toilette wie für das dagegen auffallend genug abstechende Bündel, das Lucinden beim Tragen bis zum Thor fast zu schwer geworden war, hatte der junge Mann stundenlang keine Augen. Ueber seine eigene Metamorphose lächelte er mit gezwungener Leichtigkeit, und befahl dann immer nur mit einer seine Begleiterin mehr erschreckenden als ihr imponirenden Barschheit dem Postillon die größte Eile.

Jetzt erst, um zehn Uhr, als Lucinde doch auch einmal aussteigen und sich etwas dehnen und recken wollte, bemerkte er, wie sie seine Weisung, sich vornehm und anders als gewöhnlich zu kleiden, bis zum »Auffallenden« misverstanden hatte; er bat sie, lieber im Wagen zu bleiben. Sie hatte gedacht, er würde endlich sagen: Nein aber[60] wie schön! Wie entsprechend der gegebenen Anweisung! Und vollends waren jetzt sogar die Locken aufgegangen und hingen ihr, wie einer Genoveva, lang über den Nacken herab, ein wildromantisches Aussehen gebend … Aber Oskar Binder zankte sogar.

Die Vögel werden nicht vor mir erschrecken! sagte sie spitzig, als er sich dabei ängstlich umsah. Sie ließ sich nicht abhalten und stieg aus.

Wie wohl that ihr's, endlich im Walde die beklommene Brust ausdehnen zu können!

Oskar Binder gefiel ihr heute nicht. Sie wußte nicht, wie sie so schnell und unüberlegt in diese »Gelegenheit nach Amerika« hatte einwilligen können. Sah diese Reise doch einer Erhörung seiner Huldigungen nicht unähnlich, und doch hatte sie Oskar'n bisjetzt keine Zärtlichkeit gestattet. Wäre er ihr heute früh fünf Uhr bei den beiden Pappeln gleich um den Hals gefallen, dann hätte es mit ihrer Zukunft seine Richtigkeit gehabt, der Augenblick hätte sie überwunden, sie hätte sich liebkosen lassen und nach Gefühl erwidert; jetzt aber war der Augenblick verfehlt, und wenn bei den beiden Stationen, die sie hinter sich hatten, jedesmal beim Weiterfahren der junge Mann einen Anflug von Zutraulichkeit bekam und ihre Hand ergreifen wollte, zog sie sie zurück. In dem zornigen Temperament, das ihrem Blute eigen schien, bei dem schwachen »Talent zur Treue«, wie sie es selbst nannte, überlegte sie schon bei den ersten ahnungsvollen Blicken in die nächste Ferne, ob denn in der That nicht Amerika auch zu weit liegen möchte; denn nach ihrem Princip mochte sie hier in jedem Dorfe[61] gleich halten und in jedem Schlosse gleich die Leute kennen lernen.

Den Bitten des nur mit seiner Kassette beschäftigten Oskar, im Wagen zu bleiben, gab sie kein Gehör. Der Weg ging bergauf, der Postillon schritt auch zu Fuß und sie wollte sogar noch weiter links in den Buchenwald hinein. Das dort noch gehäufte Laub vom vorigen Jahre lockte sie. Das raschelte so gleichförmig zu ihren Füßen hin, und sie wollte dabei an Amerika und das große Weltmeer denken, das sie mit dem jungen Manne und seiner thörichten Liebe zu ihr zu durchschiffen hatte. Und wie gebieterisch er schon wurde! Er rief einmal über das andere in englischer Betonung: Mary! Mary! Als wenn auch er ihren Namen Lucinde zu verleugnen hätte! Sie staunte dabei, daß Oskar, wie sie bei den zurückgelegten Stationen schon bemerkt zu haben glaubte, sich mit den Posthaltern und Wagenmeistern in gebrochenem Deutsch unterhielt. Mehr aus gereiztem Spott als aus guter Laune war es, daß sie von ihrem Laubmeer, das ihr bis an die Knöchel ging, zur Landstraße hinüber antwortete:

Yes, my dear! Yes, my dear!

Die englische Conversation that Oskar'n wohl und schien zu seiner Beruhigung zu dienen. Während der Postillon horchend mit seinem Birkenzweig die Gäule kitzelte, fing jener laut einen englischen Discurs an, der im Walde hüben und drüben nachschallte.

Lucinde verstand ihn freilich nicht mehr als der Postillon; sie sagte immer nur: Yes, my dear! Yes, my dear! Ihr Augenmerk war auf Eichkatzen gerichtet, deren sie[62] nicht wenige aus dem Laube, unter dem noch manche vorjährige Buchecker lag, aufschreckte.

Wie sie so hin- und herrannte und die Thierchen die Stämme hinaufschossen, mußte sie sonderbarerweise der längst vergessenen und aus der Stadt entschwundenen Frau Hauptmännin von Buschbeck gedenken. Diese stand ihr plötzlich in dem Nachtkamisol mit der großen Haube über der Nase und dem aufgebundenen Unterrock vor Augen und vergegenwärtigte ihr besonders den Moment, wenn sie auf den Mäusefang ging. Fand nämlich Frau von Buschbeck auf ihrem Boden der Kartoffeln zu viele zernagt, so hatte die seltene Frau auch das Talent, Mäuse aus freier Hand zu fangen. Lucinde war ihr oft nachgeschlichen, wie sie auf der Hühnersteige, die zum Dache führte, auf der Lauer lag, listig um sich blickte und mit raschem Griff sich eines ihrer Opfer bemächtigte. Hing dann am Morgen in der Küche immer ein halb Dutzend Mäuse an den Schwänzen aufgereiht und hätte die Jägerin gesagt, es wäre ein Vorurtheil, so reinliche und leider von den besten Dingen sich nährende Thierchen nicht zu speisen, in den ersten Wochen, wo Lucinde von Langen-Nauenheim zu ihr gekommen war, hätte sie voll staunender Bewunderung und in ihrer »damaligen Dummheit« nicht widersprochen, sondern sie auf Befehl gegessen, gesotten oder gebraten, wie die Frau Hauptmännin nur gewollt. Warum ihr aber das gerade jetzt so entgegenkam? Hier im Walde? In dieser Einsamkeit? Sie sah die Alte deutlich, sie sah sie zwischen den Bäumen hinhuschen und Mäuse fangen; sie mußte sich schütteln; sie kannte sich noch darauf nicht,[63] was es ist, vom Fieber durchschauert zu werden. Sie war vor Aufregung seit gestern Abend mit dem Lockenbrennen und Frühaufstehen und »nach Amerika Reisen« nicht zur Ruhe gekommen und eine Krankheit drohte.

Der junge Anglo-Amerikaner merkte nicht, wie gespenstisch blaß sie sah, als sie mit hängenden Locken über das raschelnde Buchenlaub zu ihm zurückkehrte und in den Wagen stieg, der jetzt bergab und schneller fuhr. Nur wieder seine Kassette, sein gedrucktes Reisehandbuch und die Entfernung bis zur nächsten Station hatte er im Kopfe.

Eine wundervolle Gegend! sagte er dann einmal ganz gedankenlos und bemerkte kaum, wie sich Lucinde in die Ecke des Wagens drückte, seinen Plaid um sich zog, den er ihr schon nach der zweiten Station übergelegt hatte, als es sie dort schon trotz der Schwüle des geschlossenen Wagens fröstelte.

Ich will schlafen! sagte sie jetzt und zog den Plaid bis über die Stirn.

Hätte der Entführer eines den wunderlichen Widerspruch von Gescheidt und in vielem noch völlig Beschränkt verbindenden Mädchens Gefühl gehabt für irgendetwas anderes als die Sorge, für seine Reise einen großen Vorsprung zu gewinnen, so hätte er bemerken müssen, wie ihr Antlitz in Wachs sich verwandelt hatte, ihre Lippen bebten, ihre Hände schlaff hingen, das Kleid sich verschob und die Schultern marmorkalt hervorsahen. Es war auch wol ein solches Fieber, wie man es nach geistigen wie leiblichen Geburten hat. Sie begriff allmählich, wie es doch mit dieser schnellen Reise zusammenhängen[64] mochte. Oskar Binder hatte Ursache zur Eile. Lucinde war, einfach in die Sprache der täglichen Welt übersetzt, erstens von ihm entführt, und zweitens war sie es von einem Diebe.

Daß sie in ihrem Zustande keine Erquickung, keine Mittagsrast begehrte, kam dem Flüchtling ganz genehm. Er eilte nur und wetterte auf allen Stationen im geläufigsten Englisch oder gebrochenen Deutsch. Gegen Mittag kaufte er kalte Küche, sie im Wagen zu verzehren.

Lucinde wollte nur einen Trunk Wasser.

Jetzt bemerkte er erst ihren Zustand …

Ich bin das Fahren nicht gewohnt, hauchte sie.

Ihre Zunge war trocken. Wenige Tropfen Wassers löschten den Durst nur auf einen Augenblick; und doch schauderte sie, mehr zu trinken. Sie drückte sich wieder in ihre Ecke.

Da sie die Versicherung gab, daß ihr nichts fehle, beruhigte sich der Flüchtling.

Es war zwei Uhr, und man hatte wol schon acht Meilen zurückgelegt. Die Gegend nahm einen neuen Charakter an. Oskar Binder fing an zu trällern; er pfiff sich einige Arien, die er sonst wol auch mit einer schönen Tenorstimme zu singen verstand. Er bekam die unternehmende Haltung wieder, die ihm sonst geläufig war, strich sich das Gesicht an den Stellen, wo sonst sein Bart gestanden hatte, und lachte einmal über das andere laut auf.

Jetzt interessirten ihn kleine Dinge am Wege, ein Dorf, ein bellender Hund, dem er nachahmte und ihn[65] damit nur noch heftiger reizte, die Landestracht. Auch den falschen Engländer hielt er nicht mehr so consequent fest und gegen Lucinden wurde er aufmerksamer. Er setzte sich rücklings und lehnte die Halbschlummernde über den Rücksitz bequemer aus, schlug ihre Füße in seinen ausgebreiteten Plaid, strich die langen Haare von der kalten feuchten Stirn zurück, küßte die Hände, deren Handschuhe schon abgezogen waren, und kniete sogar nieder, um von dem Glück seiner Eroberung, von der Zukunft, von der baldigen Ruhe in einem guten Hotel und den Bequemlichkeiten eines ersten Kajütenplatzes auf einem deutsch-amerikanischen Dampfer zu sprechen.

Lucinde hörte allem in träumerischer Abwesenheit zu. Die Küsse, die ihr Begleiter auf ihre Hände drückte, schien sie nicht zu fühlen. Ruhig ließ sie ihn auch ihre Locken streicheln. Zu lange auch verweilte er bei seinen Zärtlichkeiten nicht; immer wieder fuhr er auf, das kleinste Geräusch konnte ihn erschrecken. Kehrte er dann von einem Blicke aus dem Wagenschlage zurück, so griff er erst nach seinem Reisehandbuche und verglich das, was er las, mit dem was er eben draußen gesehen.

Seltsam genug mochte ihm sein, in seinem »Guide« vielleicht zu lesen: Nun öffnet sich das große Becken, wo einst die Römerwelt mit den Germanen zusammenstieß, Varus seine Schlachten verlor, Arminius das Schwert des Rächers über die vernichteten Legionen schwang, bis dann um achthundert Jahre später die Römer wiederkehrten, mit dem Kreuze voran, dem Schwerte Karl's des Großen hintennach. Hier an diesen Strömen vollzogen sie an den Sachsen die Bluttaufe …[66]

Von den Wonnen des Geschichtskundigen, der hier zwischen diesen Bergketten und Längenthälern die ersten deutschen Klöster errichtet weiß, die damaligen ersten Pflanzstätten der Bildung, der das Auge dort nach einem sagenreichen Hügel, hier nach einer waldverlorenen Kapelle richtet und sieht, wie zwischen Katholicismus und Protestantismus das Land getheilt wellenartig dem grünen Landmeere, Westfalen genannt, und von dort den großen geschichtsmaßgebenden Strömen und Meeren zu sich windet … davon hatte nach Bildung und Gefühl das starre Auge des jungen Verbrechers keine Ahnung.

Um drei Uhr war es wieder eine Waldung, in die die Reisenden einfuhren …

Diesmal eine von Birken. Geisterhaft standen die blendendweißen schlanken Stämme, die Zweige hingen nieder wie an den Trauerweiden. Kein Herbstlaub war von den dürftig geschmückten Kronen mehr auf dem Boden sichtbar, Moos und Flechtengewächse zogen sich, von blauen Blumen unterbrochen, weithin zwischen den sonnenbeschienenen, feenhaft winkenden Stämmen. Hielt der Wagen, so flüsterte es von den Espen, die zwischen den Birken standen, wie ein Säuseln der Allnatur, und Wässerchen sickerten da und dort aus dem Moose hervor und benetzten die ihrem Laufe schon folgenden Vergißmeinnicht wie in der Idylle eines Traumes.

Lucinde lag in Betäubung … Ihr Auge war geschlossen, doch schlief sie nicht. Sie fühlte wohl, daß die immer gewecktere Laune, immer fröhlichere Stimmung ihres Begleiters angefangen hatte nur ihr allein sich zu[67] widmen; sie duldete es, um nur Ruhe zu haben. Sie wußte und fühlte wol etwas von der Berührung ihrer Lippen. Sie war machtlos, geistig und körperlich ohne Willen.

So ging es eine Weile wie im Traume fort …

Da plötzlich springt sie auf, wie von einer Natter gestochen. Der Muth des jungen Mannes hatte mehr gewagt. Krampfhaft stößt sie ihn zurück und sieht ihn mit starren, weit aufgerissenen Augen an …

Aber auch ihm war gerade in demselben Augenblicke mehr geschehen als nur der Widerstand eines ihm zu hülflos geschienenen Opfers.

Die fünf Finger jeder Hand streckte er krampfhaft vor sich ihn, wie einer, der eine Scene unterbricht mit plötzlicher Anstrengung seines Gehörs, und kaum hatte diese Bewegung eine Secunde gedauert, kaum Lucinde ihr eigenes Entsetzen vor dem starren Schreck des Frevlers vergessen, als dieser nach einem Griff auf seine immer zur Hand stehende Kassette den Schlag geöffnet hatte, Halt! donnerte, ohne Mütze aus dem Wagen sprang und für sie verschwunden war.

Lucinde sank vor dem plötzlich haltenden Wagen in den Sitz zurück, erhob sich aber wieder, wickelte sich aus dem Plaid heraus und machte Miene, instinctmäßig dem Flüchtling zu folgen.

Indem schlug ein Geräusch an ihr Ohr wie von Pferdehufen.

Sie blickte zum Schlag hinaus, den der Postillon voll Erstaunen über das Benehmen seines Passagiers auch auf seiner Seite, der linken, geöffnet. Man sah[68] zwei Gensdarmen mit klapperndem Seitengewehr in noch ziemlicher Entfernung daherjagen. Lucinde, wie in der Ansteckung des Augenblicks, springt hinunter, die Pferde halten aber nicht recht, scheuen und wollen auf den Fußweg. Dadurch gibt ihr der Instinct des Moments den Gedanken, nicht zur Rechten, wo Binder verschwunden war, zu entfliehen, sondern nach der linken Seite. Ein Fluch der Verwunderung von seiten des Postillons folgt ihr. Sie rennt das niedrige Gestrüpp quer hindurch. Haselgesträuche und Brombeerhecken biegt sie zurück, läuft, wie von Furien verfolgt, in der ganzen athemlosen Hast der fieberhaftesten Erregung, mit Kräften ausgerüstet, die sie im Augenblick hernimmt, sie weiß nicht woher, läuft durch Heck' und Moos, durch weiche, versinkende Stellen, Sträuche zurückbiegend und keinem Verstecke, der sich darbietet, vertrauend. Wie von der Luft getragen, fliegt sie dahin, und erst, als sie nicht mehr kann, reicht das Entsetzen über Gefahren, die sie sicher nicht zu groß sich ausgemalt, nur noch so weit aus, auf die Zweigstämme eines rings von hohen Büschen umgebenen Baumes zu klettern, die Zweige des Umwuchses zurückzudrängen, die höhern Wipfel an sich zu ziehen, sich fest an sie anzuklammern und mit einem einzigen kühnen Sprunge auf die Astgabel des Baumes zu springen, wo sie dann leichtere Mühe hat höher zu klimmen und athem- und kraftlos, mit herabhängenden Händen und niedergebeugten Hauptes zusammenzusinken.

So lugt der Luchs mit starren Augen aus grünen Zweigen und harrt des nahenden Jägers.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 1, Leipzig 1858, S. 55-69.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Der Zauberer von Rom
Der Zauberer Von ROM (4); Roman in Neun Buchern
Der Zauberer Von ROM (5); Roman in Neun Buchern
Der Zauberer Von ROM (1); Roman in Neun Buchern
Der Zauberer Von ROM (9)
Der Zauberer Von ROM (3); Roman in Neun Buchern

Buchempfehlung

Mickiewicz, Adam

Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Litauen

Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Litauen

Pan Tadeusz erzählt die Geschichte des Dorfes Soplicowo im 1811 zwischen Russland, Preußen und Österreich geteilten Polen. Im Streit um ein Schloß verfeinden sich zwei Adelsgeschlechter und Pan Tadeusz verliebt sich in Zosia. Das Nationalepos von Pan Tadeusz ist Pflichtlektüre in Polens Schulen und gilt nach der Bibel noch heute als meistgelesenes Buch.

266 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon