Geoffroy Rudèl und Melisande von Tripoli

[46] In dem Schlosse Blay erblickt man

Die Tapete an den Wänden,

So die Gräfin Tripolis

Einst gestickt mit klugen Händen.


Ihre ganze Seele stickte

Sie hinein, und Liebesträne

Hat gefeit das seidne Bildwerk,

Welches darstellt jene Szene:


Wie die Gräfin den Rudèl,

Sterbend sah am Strande liegen,

Und das Urbild ihrer Sehnsucht

Gleich erkannt in seinen Zügen.


Auch Rudèl hat hier zum ersten

Und zum letzten Mal erblicket[46]

In der Wirklichkeit die Dame,

Die ihn oft im Traum entzücket.


Über ihn beugt sich die Gräfin,

Hält ihn liebevoll umschlungen,

Küßt den todesbleichen Mund,

Der so schön ihr Lob gesungen!


Ach! der Kuß des Willkomms wurde

Auch zugleich der Kuß des Scheidens,

Und so leerten sie den Kelch

Höchster Lust und tiefsten Leidens.


In dem Schlosse Blay allnächtlich

Gibt's ein Rauschen, Knistern, Beben,

Die Figuren der Tapete

Fangen plötzlich an zu leben.


Troubadour und Dame schütteln

Die verschlafnen Schattenglieder,

Treten aus der Wand und wandeln

Durch die Säle auf und nieder.


Trautes Flüstern, sanftes Tändeln,

Wehmutsüße Heimlichkeiten,

Und postume Galantrie

Aus des Minnesanges Zeiten:


»Geoffroy! Mein totes Herz

Wird erwärmt von deiner Stimme,

In den längst erloschnen Kohlen

Fühl ich wieder ein Geglimme!«


»Melisande! Glück und Blume!

Wenn ich dir ins Auge sehe,[47]

Leb ich auf – gestorben ist

Nur mein Erdenleid und – wehe.«


»Geoffroy! Wir liebten uns

Einst im Traume, und jetzunder

Lieben wir uns gar im Tode –

Gott Amour tat dieses Wunder!«


»Melisande! Was ist Traum?

Was ist Tod? Nur eitel Töne.

In der Liebe nur ist Wahrheit,

Und dich lieb ich, ewig Schöne.«


»Geoffroy! Wie traulich ist es

Hier im stillen Mondscheinsaale,

Möchte nicht mehr draußen wandeln

In des Tages Sonnenstrahle.«


»Melisande! teure Närrin,

Du bist selber Licht und Sonne,

Wo du wandelst, blüht der Frühling,

Sprossen Lieb' und Maienwonne!«


Also kosen, also wandeln

Jene zärtlichen Gespenster

Auf und ab, derweil das Mondlicht

Lauschet durch die Bogenfenster.


Doch den holden Spuk vertreibend,

Kommt am End' die Morgenröte –

Jene huschen scheu zurück

In die Wand, in die Tapete.
[48]

Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 21972, S. 46-49.
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