Der Ex-Lebendige

[95] Brutus, wo ist dein Cassius,

Der Wächter, der nächtliche Rufer,

Der einst mit dir, im Seelenerguß,

Gewandelt am Seineufer?


Ihr schautet manchmal in die Höh',

Wo die dunklen Wolken jagen –

Viel dunklere Wolke war die Idee,

Die ihr im Herzen getragen.


Brutus, wo ist dein Cassius?

Er denkt nicht mehr ans Morden!

Es heißt, er sei am Neckarfluß

Tyrannenvorleser geworden.


Doch Brutus erwidert: »Du bist ein Tor,

Kurzsichtig wie alle Poeten –

Mein Cassius liest dem Tyrannen vor,

Jedoch um ihn zu töten.


Er liest ihm Gedichte von Matzerath –

Ein Dolch ist jede Zeile!

Der arme Tyrann, früh oder spat

Stirbt er vor Langeweile.«[95]

Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 21972, S. 95-96.
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