Die Wahl des Liebsten

[24] Es warten dein zwei Freier;

Schau her und wähle, Kind!

Nimm, den dein Herz getreuer

Und schöner, reicher find't.


Der Erste ist ein König,

Ein Fürst von dieser Welt.

»Er bietet mir zu wenig,

Nur eitel Pracht und Geld.«


Der Andre hat dort drüben

Sein ewig Königreich.

»Ja, diesen will ich lieben

Und mit ihm ziehen gleich.«
[25]

Der Erste will dir schenken

Viel Ehre, Schmuck und Reiz;

Noch kannst du dich bedenken:

Der Andre trägt ein Kreuz.


»Den Ersten laß ich stehen,

Er sucht und liebt nur sich;

Ich will zum Andern gehen,

Er trägt das Kreuz um mich.«


Halt! sieh erst noch die Krone,

Die dir der Erste reicht;

Dann sieh, was dir zum Lohne

Der Andre giebt vielleicht.


»Die Krone seh' ich prangen,

Doch ist es Feuerglanz.«

Der Andre kommt gegangen

Mit einem Dornenkranz.


»Zum Kranz die Hand ich neige,

Er soll mein Haupt umziehn:

Ich seh' aus jedem Zweige

Die schönste Ros' erblühn.«
[26]

Noch sieh, was in den Kelchen,

Die lockend vor dir stehn,

Und sage mir dann, welchen

Du dir hast ausersehn.


»Hier funkeln bunte Lügen,

Trüb schäumt der Lüste Fluth;

Im andern ruht verschwiegen

Das allerhöchste Gut.


Der erste mag wohl blinken,

Mir ist er nicht gesund;

Den andern will ich trinken

Bis auf den tiefsten Grund.«


Zuvor schau auf die Wege,

Noch winket dir das Glück;

Bedenke, überlege:

Du kannst nicht mehr zurück.


Der erste breit und linde,

Der andre rauh und steil.

»Ade denn, Welt, geschwinde!

Nun hab' ich freilich Eil'.«
[27]

»Ich seh' am Kreuz Ihn hangen,

Er streckt die Arme Sein;

Ich eil', Ihn zu umfangen,

Mit Schmerzen harrt Er mein.


Willkomm, mühselig Ringen!

Du Pfad, so steil und schmal,

Willst du zu Ihm mich bringen,

Dann Amen! Tausend Mal!«


Berlin, 1816.


Quelle:
Louise Hensel: Lieder. Paderborn 41879, S. 24-28.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Lieder (Ausgabe von 1879)
Lieder: Ausgabe von 1879
Lieder aus dem Nachlaß

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Seltsame Leiden eines Theaterdirektors

Seltsame Leiden eines Theaterdirektors

»Ein ganz vergebliches Mühen würd' es sein, wenn du, o lieber Leser, es unternehmen solltest, zu den Bildern, die einer längst vergangenen Zeit entnommen, die Originale in der neuesten nächsten Umgebung ausspähen zu wollen. Alle Harmlosigkeit, auf die vorzüglich gerechnet, würde über diesem Mühen zugrunde gehen müssen.« E. T. A. Hoffmann im Oktober 1818

88 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon