Viertes Gespräch

[74] PHILOLAUS. Hier haben Sie Ihr Buch mit Dank wieder. Man hört Lessing reden, wenn er auch nur Silben hervorbringt; über unsre Materie aber hätte ich ihn doch gern ausführlicher vernommen, ich kann's nicht leugnen.

THEOPHRON. Ich gleichfalls; wie gefällt Ihnen indeß das Wenige, was er sagt?

PHILOLAUS. Es ist zu wenig, um darüber zu urtheilen, auch, wie es ein Gespräch geben mußte, zu abgerissen, ja hie und da nach Lessing's Manier in Gesprächen vielleicht zu kräftig gesagt. Ist's Ihnen nicht entgegen, so will ich seine Worte herausheben und darüber ohne alle Anmaßung meine Meinung sagen.

THEOPHRON. Thun Sie's! Sie werden damit blos Commentator einer Autors, der sich selbst uns nicht mehr erläutern kann. O, daß er uns hier der dritte, d.i. der erste Mann wäre!

PHILOLAUS. »Die orthodoxen Begriffe von der Gottheit sind nicht mehr für mich; ich kann sie nicht genießen.«40 Ich, nachdem mir einige Steine des Anstoßes aus Spinoza weggeräumt sind, auch nicht. Das müssige Wesen, das außerhalb der Welt sitzt und sich selbst beschaut, so wie es sich Ewigkeit hindurch beschaute, ehe es mit dem Plan der Welt fertig ward, ist nicht für mich, für Sie, Theophron, auch nicht.

THEOPHRON. Ich weiß aber nicht, Philolaus, warum wir das Phantom dieses langweiligen trägen Gottes orthodoxe Begriffe[74] nennen. Es hat weder die Consistentz eines Begriffes, noch ist's je die Meinung orthodoxer, d.i. der Philosophen gewesen, die deutlicher Begriffe fähig waren. Ein solcher Gott mag Orthodoxie der Indier sein, deren Gott Jaganat schon viele Jahrtausende her mit über den Bauch geschlungenen, hangenden Armen sitzt und sich wohl befindet. Ein anderer ihrer Götter liegt seit Aeonen im Schlummer, sein Haupt ruht im Schooß eines seiner Weiber, die ihm den Kopf kratzt, seine Füße im Schooß einer andern, die ihm die Fußsohlen streichelt. Unaufhörlich fließt der Zucker- und Milchfee in ihn; er genießt und ruht in träumender Selbstbeschauung Aecht orthodoxe Götter der Hindus! ich sehe aber nicht, warum der unsrige ein Jaganat oder Wischnu sein müßte.

PHILOLAUS. Ich lese weiter. »Hen kai pan! Eins und Alles! Ich weiß nichts Anders.«41 – Ich auch nicht; nur wünschte ich aus der Seele Lessing's zu vernehmen, wie er sich die Verbindung dieser beiden größten Worte, deren unsere Sprache fähig ist, erklärte. Auch die Welt ist ein Eins; auch die Gottheit ist ein All. Lessing fühlte selbst, daß er damit noch nichts Bestimmtes gesagt habe; er kam sich darüber näher zu erklären; aber auch diese seine nähere Erklärung reicht nicht so weit, als man wünschte. Ich sehe seine Hochachtung gegen die Philosophie des Spinoza, da aber ihn wie uns der Geist des Spinozismus, »ich meine den«, sagt er,42 »der in Spinoza selbst gefahren war«, eigentlich allein interessirt; da, wie er sagt,43 »sein Credo in keinem Buche steht« und er es nur unter einer Bedingung, die sich eigentlich selbst aufhebt, 44 an sich kommen läßt, sich nach Jemanden nennen zu wollen, so sind uns diese und andre Winke, ja die ganze Denkart Lessing's gnugsame Bürgen, daß er gewiß keine phantastisch-rohe sinnliche All-Einheit, dergleichen auch das System des Spinoza nicht ist, zu seinem System gemacht haben werde. Eben hier fing meine Begierde an, zu wissen, wie Lessing »den Geist, der in Spinoza selbst gefahren war«, zu sich gezaubert und zu dem seinigen gemacht habe; und eben hier, ich muß es bekennen, war meine Begierde vergebens. Lessing hört von einer verständigen, [75] persönlichen Ursache der Welt und freut sich dabei nach seiner Art, daß er jetzt etwas ganz Neues zu hören bekommen werde.45 Am Verstande Gottes konnte Lessing's Verstand nie zweifeln; seine Neugierde war also auf die »persönliche« Ursache der Welt gerichtet; darüber wollte er etwas Neues erfahren.

THEOPHRON. Erfuhr er's?

PHILOLAUS. Der Ausdruck Person, selbst wenn ihn die Theologen von Gott gebrauchen (die diese Person aber nicht der Welt entgegensetzen, sondern als Unterschied im Wesen Gottes annehmen), ist (denn der Theolog sagt nicht: »Gott ist eine Person«, sondern: »In Gott sind Personen«).

THEOPHRON. Lassen wir die Sprache der Theologen und reden vom Wort Person philosophisch.

PHILOLAUS. Zuerst also doch wol davon, was das Wort im festgestellten Gebrauch bedeutet. Person (prosôpon) hieß – – Larve, sodann – theatralischer Charakter; dadurch führte es auf das Eigenthümliche eines Charakters überhaupt, wodurch er sich von einem andern unterscheidet; so ging das Wort in die Sprache des gemeinen Lebens über. »Dieser«, sagt man, »spielt seine Person; er bringt seine Persönlichkeit in die Sache« u.s.w. So setzte man Person der Sache entgegen, immer etwas Abstechendes, auszeichnend Eigenthümliches in ihr bezeichnend. So ging es in die Gerichtssprache, in die Verschiedenheit der Stände. Können wir von dieser Prosopopöie etwas auf Gott anwenden? Er ist weder eine Larve noch Maske, weder eine Standesperson noch ein abgezeichneter Charakter, der mit andern da ist und neben ihnen spielt. Lassen wir diese Personalien, die immer doch, wo nicht auf etwas Falsches, Angenommenes, Angedichtetes, so doch auf etwas Eigenthümliches an Gestalt, Bildung, Abzeichnung von Andern, auf Stand, Rang und dergleichen führen, mithin vom reinen Begriff einer ganz unvergleichbaren Wesenheit und Wahrheit entfernen. So wenig Gott die Person ansiehet, so wenig spielt er eine Person, so wenig affectirt er Persönlichkeiten, hat eine persönliche, mit andern abstechende, contrastirende Denkart u.s.w. Er ist. Wie er ist Niemand.[76]

THEOPHRON. Sollte aber nicht »die höchste Intelligenz« das Wort »Persönlichkeit« fordern, so daß »Einheit des Selbstbewußtseins« die Personalität ausmachte?

PHILOLAUS. Ich sehe nicht; vielmehr bleibt Persönlichkeit diesen Begriffen immer ein fremdes, ausgemaltes Wort. Dafür sahen es auch Locke und Leibniz an und suchten es durch bestimmtere Ausdrücke zu erklären;46 dafür sieht's der Sprachgebrauch an, der mit dem Wort Person, Persönlichkeit als mit einem Scheindinge spielt. Das innigste Selbstbewußtsein vergißt die Apparenz der Person (das personnel und das personnage) so ganz, daß man es mit diesem Gerichtswort des persönlichen Erscheinens gleichsam aus sich selbst jagt. Dies Alles wußte Lessing besser wie wir. – Ich lese weiter: »Lessing hört von einer verständigen Ursache der Welt.«

THEOPHRON. Hat er sich darüber näher erklärt?

PHILOLAUS. Ihm ward dazu nicht Zeit, wahrscheinlich war er hierin auch mit Spinoza völlig eins. Wir sahen, Dieser unterschied den Verstand, sofern er zur entsprungenen Natur gehört, von jener primitiven Denkkraft, die der Grund der Dinge selbst ist. Der abgeleitete Verstand kann nur verstehen, was vor oder in ihm liegt, was ihm gegeben ist; der ursprünglichen Denkkraft ist nichts gegeben als sie selbst; aus ihr folgt Alles. In diesem Sinn erkennt der höchste, d.i. primitive Verstand nur sich selbst und in sich alles Mögliche als Folge.

THEOPHRON. Ist dieser Sinn des Wortes aber auch der Sprache gemäß?[77]

PHILOLAUS. Wenn er es auch nicht wäre! Er ist's aber in allen Sprachen, in denen man philosophirte. Wenn Locke seinen Verstand (understanding) die »Macht zu percipiren« nennt und ihn sogar einer dunkeln Kammer, in welcher durch die Sinne Licht fällt, vergleicht,47 so kann Gott eine solche dunkle Kammer, in welche Licht durch die Sinne fällt, nicht zugeschrieben werden. Wenn dem schärfer bestimmenden Leibniz das Verstehen eine »deutliche Perception ist, verbunden mit der Fähigkeiten zu reflectiren«,48 wer wird das höchste Wesen zum Schüler machen und ihm dergleichen »Fähigkeit zu percipiren und dann zu reflectiren« zueignen? Die Sprache selbst sträubt sich dagegen, in deren mehreren das Wort Verstand ein Auffassen und Auseinenderlesen der Objecte (intellectionem) ausdrückt, welche fremde, ihm zum Verstehen gegebne Objecte las und liest Gott aus einander?

THEOPHRON. Ich bitte, lesen Sie weiter!

PHILOLAUS. Lessing spricht über die Freiheit des Willens. »Ich begehre«, sagte er, »keinen freien Willen; ich bleibe ein ehrlicher Lutheraner und behalte den mehr viehischen als menschlichen Irrthum und Gotteslästerung, daß kein freier Wille sei; worein der helle reine Kopf Spinoza's sich auch doch zu finden wußte«.49 So scherzt er mit den Worten des Reichstagsschlusses zu Augsburg, und indem er uns auf den hellen, reinen Kopf Spinoza's verweist, erklärt er selbst, wie er den unfreien Willen des Menschen angenommen haben wolle. Mir ist kein Weltmeister bekannt, der die Knechtschaft des menschlichen Willens gründlicher auseinandergesetzt und die Freiheit desselben vortrefflicher bestimmt habe als Spinoza.50 Dem Menschen ist kein geringeres Ziel der Freiheit vorgesetzt als die Freiheit Gottes selbst, durch eine Art innerer Nothwendigkeit, d.i. durch vollständige Begriffe, die uns Erkenntniß und Liebe Gottes allein gewähren können, über unsre Leidenschaften, ja über das Schicksal selbst Herren zu werden. Gründlich beweist es Spinoza, daß, wenn man Freiheit für tolle, blinde Willkür nimmt, der Mensch ebenso wenig als Gott selbst den edeln Namen der Freiheit verdiene; vielmehr gehöre es zur Vollkommenheit der Natur Gottes, daß er auf diese Art nicht frei sei, d.i. daß er eine blinde Willkür nicht kenne, wie es denn auch zur Vollkommenheit seiner Werke gehört, daß tolle Willkür aus der[78] ganzen Schöpfung verbannt ist. Sie wäre (um auch mit dem Reichstage zu Augsburg zu reden) eine gotteslästerliche Lücke in der Schöpfung und für jedes Geschöpf, das sie besäße, ein zerstörendes Uebel. Glücklich also, daß sie ein Widerspruch in sich selbst, ein Unbegriff ist. Sie sind doch eben der Meinung, Theophron?

THEOPHRON. Keiner andern; aber was sagt Lessing von dem Gedanken Gottes? Das schülerhafte »Verstehen« ist weggeräumt; was setzte er dagegen oder darüber?

PHILOLAUS. Hier ist die Stelle.51 »Es gehört zu den menschlichen Vorurtheilen, daß wir den Gedanken als das Erste und Vornehmste betrachten und aus ihm Alles herleiten wollen, da doch Alles mitsammt den Vorstellungen von höheren Principien anhängt. Ausdehnung, Bewegung, Gedanke sind offenbar in einer höheren Kraft gegründet, die noch lange nicht damit erschöpft ist. Sie muß unendlich vortrefflicher sein als diese oder jene Wirkung; und so kann es auch eine Art des Genusses für sie geben, der nicht allein alle Begriffe übersteigt, sondern auch völlig außer dem Begriffe liegt. Daß wir uns nichts davon denken können, hebt die Möglichkeit nicht auf.« – Was denken Sie von dieser Stelle, Theophron?

THEOPHRON. Ich wünschte zu wissen, was Sie davon denken.

PHILOLAUS. So muß ich bekennen, daß ich mir vergeblich Mühe gebe, etwas Bestimmtes daraus zu finden. Daß es zu den menschlichen Vorurtheilen gehöre, den Gedanken als das Erste und Vornehmste zu betrachten und aus ihm Alles herleiten zu wollen, gebe ich zu. Wir kennen nichts Höheres in seiner Art als den Gedanken; Lessing selbst hat nichts Höheres namhaft machen können. Alles aus dem Gedanken, d.i. aus Einsicht herleiten zu können, ist bisher ein vergeblicher Versuch gewesen; denn wie Schwere, Bewegung und jede andre der tausend wirkenden Kräfte des Weltalls mit dem Gedanken zusammenhange, ist immer noch ein Räthsel. Daß der Gedanke auf viele andre ihm untergeordnete Kräfte wirke, wissen wir, ob wir gleich die Art der Wirkung nicht einsehn. In welcher höheren Kraft aber Gedanke, Bewegung und alle Kräfte der Natur gegründet seien, wer ist, der uns dieses sage? Lessing[79] selbst sagt nur, es könne eine solche Kraft geben, bekennt aber selbst, daß wir nicht im Stande seien, etwas von ihr zu gedenken.

THEOPHRON. Wie, wenn ich Ihnen aus Spinoza selbst zwar nicht eine einzelne höhere Kraft oder Gattung Kräfte, aber den reelen Begriff nennte, in welchem alle Kräfte nicht nur gegründet sind, sondern den sie auch allesammt nicht erschöpfen? Er hat jede Eigenschaft, die Lessing von seiner unbekannten Kraft fordert, »er ist unendlich vortrefflicher als jede einzelne Wirkung einer einzelnen Kraft und giebt wirklich eine Art des Genusses, der nicht nur alle Begriffe übersteigt, sondern auch (zwar nicht außer, aber) über und vor jedem Begriffe liegt«, weil jeder Begriff ihn voraussetzt und auf ihn ruht.

PHILOLAUS. Und dieser Begriff ist –?

THEOPHRON. Wirklichkeit, Realität, thätiges Dasein; es ist der Hauptbegriff bei Spinoza, der Grund und Inbegriff aller Kräfte. Wirklichkeit, Realität, Dasein ist vortrefflicher als jede seiner Wirkungen; es giebt einen Genuß, der einzelne Begriffe nicht nur übersteigt, sondern mit ihnen auch nicht auszumessen ist; denn die Vorstellungskraft ist nur eine seiner Kräfte, der viele andere Kräfte gehorchen. So ist's bei Menschen; bei allen eingeschränkten Wesen muß es derselbe Fall sein; und bei Gott?

PHILOLAUS. Auf die eminenteste Weise. Seine Existenz ist die Wirklichkeit selbst, Urgrund aller Wirklichkeiten, Inbegriff aller Kräfte, ein Genuß der über alle Begriffe geht.

THEOPHRON. »Der aber auch völlig außer dem Begriff liegt?« Diese Behauptung liegt völlig außer mein Begriff; d.i. ich kann mir dabei nichts denken. Die höchste Kraft muß sich selbst kennen; sonst ist sie eine blinde Macht, die sich selbst weder genießen noch gebrauchen kann, der die innigste, wahrste Wirklichkeit fehlt.[80]

PHILOLAUS. »Er, Spinoza, war aber fern, unsre elende Art, nach Absichten zu handeln, für die höchste Methode auszugeben und den Gedanken obenan zu setzen.«52

THEOPHRON. Nach dem Dasein, als dem Grunde aller Kräfte, steht der Gedanke auch bei ihm obenan; nur ist er weit entfernt, dem Unendlichen eingeschränkte Vorstellungsarten, Kenntnisse a posteriori, Aufhellungen seiner selbst durch mühsames Verständniß und Einverständniß mit Dingen außer ihm, fehlbare Berathschlagungen, willkürliche Absichten, die er durch künstliche Mittel zu erstreben habe, zu leihen; welches eben die Vortrefflichkeit seines Systems ausmacht.

PHILOLAUS. Lessing fragt ferner53: »nach was für Vorstellungen sein Freund eine persönliche, extramundane Gottheit annehme, ob etwa nach den Vorstellungen des Leibniz«, und fürchtete, Dieser sei im Herzen selbst ein Spinozist gewesen.54

THEOPHRON. Was Leibniz im Herzen gewesen sei, mag ich nicht wissen; seine »Theodicee« aber sowie viele seiner Briefe zeigen, daß er, eben um nicht Spinozist zu sein, sein System ausgedacht hatte. Lieber neigte er sich zu Anthropopathien einer göttlichen Wahl nach Ueberlegung, einer Auswahl des Besseren unter vielem Schlechtern nach Convenienzen; Alles, um der Spinozischen Nothwendigkeit zu entkommen, die ihm Mechanismus schien, und gegen welche er den behutsamern Ausbruch einer moralischen Nothwendigkeit wählte. Er wählte die Mitte zwischen Bayle's[81] Zweifeln und Spinoza's harten Ausdrücken, zwischen welchen er durchzukommen glaubte. Allerdings geschahe es mit vieler Kunst; aber Bayle und Spinoza lebten nicht mehr; sie konnten ihm nicht antworten.

PHILOLAUS. »Leibnizen's Begriffe von der Wahrheit«, sagt Lessing ferner55, »waren so beschaffen, daß er nicht vertragen konnte, wenn man ihr zu enge Schranken setzte. Aus dieser Denkungsart sind viele seiner Behauptungen geflossen, und es ist bei dem größten Scharfsinn oft sehr schwer, seine eigentliche Meinung zu entdecken«. Eben darum halt' ich ihn so werth; ich meine wegen dieser großen Art zu denken und nicht wegen dieser oder jener Meinung, die er nur zu haben schien oder denn auch wirklich hatte.

THEOPHRON. Trefflich! Nur ein kleiner Kopf ist's, der sein Dutzend schön bemalter Wortschächtelchen als Kram nicht nur, sondern als Monopolium mit sich trägt und nicht begreifen kann, daß andre Krämer andre Schächtelchen tragen. Dem wahren Philosophen ist an den Behältnissen überhaupt wenig gelegen; er sieht, was drin sei, und was für ihn diene. Meinen Sie dies nicht auch, Philolaus?

PHILOLAUS. Spinoza hat mich gelehrt, daß je vollständiger unsre Begriffe sind, desto mehr schweigen unsre Affecten, desto williger vereinigen sich in der deutlich erkannten Wahrheit alle menschlichen Gemüther; denn es giebt nur eine Vernunft, nur eine Wahrheit. Bei Leibniz indeß kann ich's nicht bergen, daß er mir oft zu biegsam, zu hypothesenreich scheine. Es ist seine Art, sich gern Allem anzuschmiegen, damit er Alles nutze und für sich gebrauche.

THEOPHRON. Hören Sie, was darüber Lessing anderswo sagt: »So eingenommen«, schreibt er56, »man sich auch Leibnizen für seine Philosophie denken darf oder will, so kann man doch wahrlich nicht sagen, daß er sie den herrschenden Lehrsätze aller Parteien anzupassen gesucht habe. Wie wäre das auch möglich[82] gewesen? Wie hätte es ihm einkommen können (mit einem alten Sprichworte zu reden), dem Mond ein Kleid zu machen? Alles, was er zum Besten seines Systems dann und wann that, war gerade das Gegentheil: er suchte die herrschenden Lehrsätze aller Parteien seinem System anzupassen. Beides ist nichts weniger als einerlei. Leibniz nahm bei seiner Untersuchung der Wahrheit nie Rücksicht auf angenommene Meinungen; aber in der festen Ueberzeugung, daß keine Meinung angenommen sein könne, die nicht von einer gewissen Seite, in einem gewissen Verstande wahr sei, hatte er wol oft die Gefälligkeit, diese Meinung so lange zu wenden und zu drehen, bis es ihm gelang, diese gewisse Seite sichtbar, diesen gewissen Verstand begreiflich zu machen. Er schlug aus Kiesel Feuer; aber er verbarg sein Feuer nicht in Kiesel«.

PHILOLAUS. Wer weiß also auch, welchem Kabbalisten er sich oder sich ihn eben damals anzupassen wollte, als er, wie Lessing anführt, von Gott sagte, »derselbe befinde sich in einer immerwährenden Expansion und Contraction; dies sei die Schöpfung und das Bestehen der Welt«. Mich wundert, daß Lessing an der ungeheuern Verkörperung Geschmack fand.

THEOPHRON. In Leibniz ist mir diese Stelle noch fremd. Daß aber Lessing sich an ihr ergetze, woran, mein Freund, ergetzt man sich nicht manchmal im Gespräch? Für das System des Spinoza hielt Lessing dies Bild gewiß nicht. Wer die Schöpfung und das Bestehen der Dinge durch eine immerwährende Expansion und Contraction Gottes erklären kann, von dem möchte ich mir diese Erklärungsart auch, wie Lessing sagt57, »natürlich ausgebeten haben«. Lassen Sie uns das Lessing'sche Gespräch endigen.

PHILOLAUS. Es ist zu Ende. Wir haben also diesmal weniger gelernt, als wir wünschten.[83]

THEOPHRON. Und doch ist mir's nicht unlieb, daß auch dies abgebrochene Gespräch bekannt gemacht ist. Dem Verstorbnen kann es nicht schaden, wofür ihn der schwache Sectenmacher halte, und uns ist's angenehm zu sehen, daß einem so ausgezeichneten Denker, wie Lessing war, Spinoza nicht unbemerkt geblieben sei58, ja, was er aus ihm hätte machen können, wenn er Spinoza's System auseinanderzusetzen und in die ihm eigne klare Sprache zu übertragen sich Zeit und Muße genommen hätte. Im Buch seines Freundes werden Sie gewiß auch viel Wahres und Schönes, männlich schön gesagt, gefunden haben.

PHILOLAUS. Gewiß; nur muß ich ebenso aufrichtig bekennen, Theophron, daß ich mit seiner »persönlichen, supra- und extramundanen Gottheit« so wenig fortkomme als Lessing. Gott ist nicht Welt, und Welt ist nicht Gott, das bleibt gewiß; aber mit dem extra und supra ist's, dünkt mich, auch nicht ausgerichtet. Wenn man von Gott redet, muß man alle Idole des Raums und der Zeit vergessen, oder unsre beste Mühe ist vergeblich.

Zweitens, kann ich's ebenso wenig bergen, daß Jacobi mit dem Begriff nicht übereinstimmt, den ich jetzt von Spinoza's System habe, und in welchem wir Beide uns doch Punkt für Punkt verstanden. Also, kann ich auch in die Conclusionen nicht einstimmen;59 »Spinozismus ist Atheismus. Die Leibniz-Wolffische Philosophie ist nicht minder fatalistisch als die Spinozistische. Jeder Weg der Demonstration geht in den Fatalismus aus.« u.s.w. Denn nach meiner Einsicht ist Spinozismus, wie ihn sich Spinoza dachte, kein Atheismus; auch ist in den harten Ausdrücken des Spinoza die Leibniz- Wolffische Nothwendigkeit mit der Spinozische nicht einerlei;60 und dann muß man sich von dem Wort Fatalismus, dünkt mich, so[84] wenig schrecken lassen als von irgend einem Worte. Hören wir darüber Spinoza selbst:61 »Auf eine Weise unterwerfe ich Gott dem Fatum. Daß mit unentweichlicher Nothwendigkeit aus der Natur Gottes Alles folge, denke ich mir so, wie sich Jedermann denkt, daß aus der Natur Gottes es folge, Gott erkenne sich selbst. Dies leugnet Niemand, und doch denkt sich Niemand dabei, daß Gott durchs Schicksal gezwungen sich selbst erkenne; er erkennt sich frei, obgleich nothwendig.

Weder göttliche noch menschliche Rechte hebt diese Naturnothwendigkeit auf. Die moralischen Vorschriften selbst (ipsa moralia documenta), sie mögen die Form des Gesetzes oder Rechts von Gott empfangen oder nicht, sind dennoch göttlich und heilsam; das Gute, daß aus der Tugend und aus der Liebe Gottes folgt, ob wir es von Gott als einen Richter empfangen, oder wenn es aus der Nothwendigkeit der Natur Gottes folgt, es wird deshalb weder mehr noch minder wünschenswerth, so wie gegentheils die Uebel, die aus bösen Handlungen und Affecten folgen, deshalb, weil sie aus ihnen nothwendig folgen, nicht weniger furchtbar werden. Bei unsern Handlungen endlich, wir mögen sie nothwendig oder zufällig thun, führt uns dennoch Furcht oder Hoffnung.[85] Vor Gott werden die Menschen keiner Entschuldigung fähig, weil sie in seiner Macht sind wie Thon in der Hand des Töpfers, der aus demselben Leim Gefäße macht, einige zur Ehre, andre zur Unehre« u.s.w.

THEOPHRON. Ohne Zweifel haben Sie nachgedacht, wodurch sich Spinoza das sonderbare Schicksal zubereitet hat, auch von seinen Freunden mißkannt zu werden.

PHILOLAUS. Ja wohl, und ich bin immer auf der Ursachen zurückgekommen, auf die Sie mich gleich anfangs wiesen.

Zuerst sind's harte Ausdrücke, die in einer zum Druck nicht ausgearbeiteten, nach dem Tode des Verfassers erschienenen Schrift mit andern verglichen und wenigstens milde ausgelegt werden sollte. Wenn Spinoza z.B. »die menschliche Seele, sofern wie ich die Dinge nach der Wahrheit vorstellt, einen Theil des göttlichen Verstandes nennt und diese deutlichen Begriffe in ihr Begriffe Gottes nennt, nicht sofern er unendlich ist, sondern sofern er durch die Natur der menschlichen Seele ausgedrückt wird und ihr Wesen ausmacht, oder sofern er mit ihr auch andre Begriffe denkt«: so lag (man dürfte nur diese sofern auslassen) ein Mißverständniß vor der Thür, daß sein System ganz aufhebt. Körper und Seele wurden also als Theile von ihm gedacht, von ihm, dem nach Spinoza Unheilbaren. Man addirte Körper, man summirte menschliche Gedanken und sagte: »Siehe Spinoza's Gott! Der unendliche Verstand bei ihm ist nichts als das Resultat aller menschlicher, auch der Diebs- und Narrengedanken.« Hätte man überlegt, daß Gedanken und Gedankenweisen sich nicht addiren, daß sie addirt keine Kraft ausmachen, die untheilbar in sich selbst, untheilbar in jeder sie darstellenden Wirkung sein soll; hätte man überlegt, daß nach Spinoza es eine Urkraft und in ihr ein lebendiger Begriff ist, der die Ordnung und Verknüpfung aller Begriffe und ihrer Folgen, mithin die Verknüpfung und Ordnung aller Dinge in sich faßt und thätig ausdrückt: würde man ihm den seinem System widrigsten, jeder Vernunft anstößigen Unsinn zugeschrieben haben? Ein paar unbequeme Wortformeln waren daran Schuld, die man in einer ihm ungeläufigen Sprache ihm hätte verzeihen können.

Ebenso schädlich ist's ihm gewesen, daß er manches seiner prägnantesten Worte nicht erklärte, auf dessen bestimmten Sinn doch so viel ankam. So z.B. »wenn jedes der unendlichen Attribute seines Gottes auch in allen seinen modis und Veränderungen ein unendliches ewiges Wesen ausdrücken soll«; was bedeutet hier das prägnante Wort Ausdruck? Sind diese [86] modi bloße Symbole oder ausdrückende Charaktere? sind sie Repräsentanten und Darstellungen des ewigen Wesens, daß ihr Wesen und Dasein ausmacht? Dem, der verstehen will, hat Spinoza gnug gesagt; denn sein Werk ist eine Idee von Anfange bis ans Ende. Wer über Worte streiten wollte, fand desto mehr zu streiten.

Endlich seine an sich vortreffliche synthetische Methode; sie schickte sich nicht hierher, wenigstens zwang sie ihn zu Voraussetzungen und Formeln, die, durch die Analyse gefunden, durchaus nicht auffallend gewesen wären, z.B. Substanz, Attribut, Modus u.s.w. Getrauten sie sich nicht, Theophron, in analytischer Form das ganze System Spinoza's ganz unanstößig vorzustellen?

THEOPHRON. Lessing konnte es gewiß. Was glauben Sie, Philolaus, wenn Spinoza wieder erschiene, was würde er Denen, die ihn für einen Atheisten, Pantheisten, Gottesvertheiler, Gottessummirer u.s.w. halten, sagen?

PHILOLAUS. Mich dünkt, sehr bescheiden und sehr entscheidend würde er fragen: »Was macht ihr aus meinem System, dessen Grund, eine einzige ewige Idee, Ihr zerstört? Sind Modificationen ohne innere Realität, ist Ausdruck ohne etwas, das sich ausdrückt, sind Gedankenweise ohne eine unbeschränkte thätige Denkkraft gedenkbar? Wenn ich in einer mir ungeläufigen Sprache Alles that, was ich thun konnte, um Euch den reinen Begriff und Genuß einer untheilbaren Kraft vorstellig zu machen, die in sich Alles, durch und aus sich Alles im innigsten Selbst mächtig fühlt, wirkt und darstellt; wenn ich Euch dies Wesenhafte analogisch in Euch selbst darstellte, um Euch dadurch zur höchsten Freude und Seligkeit zu führen: wie? Ihr wolltet mir andichten, daß ich das Eins zum Nichts, das thätige Wesen zu einem leeren Seckel und Collectivnamen von Schatten, die ohne Licht ja auch nicht Schatten sein könnten, gemacht, daß ich die Sonne ausgelöscht hätte, um aus allen Funken der Johanneswürmer eine Unsonne zu fabriciren – ich bitte Euch, lest andre als meine, zwar nicht im Geist, aber im Ausdruck unvollendete Schriften!«

THEOPHRON. Gnug, Sie sprachen von dem Schätzbaren, das Sie sonst in diesem kleinen Buch62 fanden.

PHILOLAUS. Das Schätzbarste war mir die Denkart des Verfassers, der auch im Gespräch mit Lessing vorzüglich darauf hinausgeht, »Vernünfteln sei nicht das ganze Wesen, nicht der ganze Bestand menschlicher Denkkraft. Wie Allem, so auch dem edelsten[87] Kräften unsrer Natur liege Dasein zum Grunde; dies könne nicht in Vernünftelei aufgelöst oder gar durch sie hinwegraisonnirt werden. Ohne Existenz und eine Reihe von Existenzen dächte der Mensch nicht, wie er denkt; folglich müsse der Zweck seiner Gedanken sein, nicht, sich Hirngespinnste zu erträumen, mit Scheinbegriffen und Scheinworten wie mit einer selbstgemachten Wirklichkeit zu spielen, sondern, wie er's nennt, Dasein zu enthüllen, solches als etwas Gegebnes aber (nach seinem Ausdruck) als eine Offenbarung Gottes anzunehmen, über welche und hinter welche man nicht hinaus kann. Seine Sinne müsse man durch Erfahrung, seinen innern Sinn durch Wahrheitsliebe, Ordnung und Zusammenhang im Denken reinigen und schärfen, willkürlichen Verbindungen existenzloser Scheinbegriffe, d.i. dem trägen, todten Nichts entsagen und dafür, was da ist, inden Eigenschaften und Beziehungen, wie es da ist, kennen lernen. Ein solches Erkenntniß mit innigem Gefühl der Wahrheit verbunden, sei allein wahr, dies allein helle den Geist auf, bilde das Herz, bringe Ordnung und Regelmäßigkeit in alle Verrichtungen unsers Lebens; da hingegen jene Grübelei, ohne ein Dasein von außen und Regeln der Wahrheit von innen vorauszusetzen, den Kopf öde und das Herz leer mache.«

THEOPHRON. Vortrefflich! Jene menschliche Erkenntniß ohne und vor aller Erfahrung, jene sinnlichen Anschauungen ohne und vor aller sinnlichen Empfindung eines Gegenstandes nach eingepflanzten Formen der Denkkraft, die ihr von Niemanden eingepflanzt[88] worden, sind Undinge, die Jedem, der seine eigne Existenz wahrnimmt, den Kopf veröden. Auch wir, Philolaus, haben in unserm Gespräch den heiligen Namen oft als ein bloßes Symbol brauchen müssen: wie wäre es, wenn wir den Luftgang unterbrächen? Sie kennen und sprechen die erquickende Sprache der Töne; wolan! hier ist ihr Werkzeug.

PHILOLAUS. Ich spreche gern diese Geistessprache:


Lobt den gewaltigen, den gnäd'gen Herrn,

Ihr Welten seines Alls!

Ihr Sonnenheere, flammt zu seinem Ruhm,

Ihr Erden singt sein Lob!


Der Widerhall lob' ihn, und die Natur

Ging' ihm ein froh Concert!

Und Du, der Erden Herr, o Mensch, zerfließ

In Harmonien ganz!


Dich hat er mehr als Alles sonst beglückt;

Er gab dir einen Geist,

Der durch den Bau des Ganzen dringt und forscht

Die Räder der Natur.


Erheb ihn hoch zu Deiner Seligkeit!

Er braucht kein Lob zum Glück.

Die niedern Neigungen und Laster fliehn,

Wenn Du zu ihm Dich schwingst.


Die Sonne steige nie aus rother Fluth

Und sinke nie darein,

Daß Du nicht Deine Stimme einigest

Der Stimme der Natur.


Lob ihn in Regen und in dürrer Zeit,

Im Sonnenschein und Sturm,

Wenn's schneit, wenn Frost aus Wasser Brücken baut,

Und wenn die Erde grünt!


[89] In Ueberschwemmungen, in Krieg und Pest

Trau ihm und sing ihm Lob!

Er sorgt für dich; denn er erschuf zu Glück

Das menschliche Geschlecht.


Und o, wie liebreich sorgt er auch für mich!

An Ruhm und Goldes Statt

Gab er mir Kraft, die Wahrheit einzusehn,

Und Freund' und Saitenspiel.


Erhalte mir, o Herr, was du mir gabst!

Mehr brauch' ich nicht zum Glück.

Mit heil'gem Schau'r will ich, ohnmächtig sonst,

Dich preisen ewiglich.


In finstern Wäldern will ich mich allein

Mit dir beschäftigen

Und seufzen laut und nach dem Himmel sehn,

Der durch die Zweige blickt.


Und irren aus Gestad' des Meeres und Dich

In jeder Woge sehn

Und hören Dich im Sturm, bewundern in

Der Au' Tapeten Dich.


Ich will entzückt auf Felsen klimmen, durch

Zerrissne Wolken sehn

Und suchen Dich den Tag, bis mich die Nacht

In heil'ge Träume wiegt.


THEOPHRON. Ich danke Ihnen, Philolaus. Möchte man nicht von der Musik sagen, was Banini von seinem Strohhalm sagte: »Wäre ich so unglücklich, am Dasein Gottes zu zweifeln, und hörte Musik, so würde sie mir Demonstration sein«?

PHILOLAUS. Da sind Sie von einer sehr alten Denkart, Theophron; denn neuerlich hat man es sich klar gemacht, daß es eine Demonstration von Gott weder könne noch gebe.

THEOPHRON. Und ich möchte behaupten, daß es ohne den Begriff Gottes, d.i. einer selbstständigen Wahrheit, keine Vernunft,[90] viel weniger eine Demonstration gebe. Denn ohne noch irgend den Ursprung der Kräfte in Betracht zu ziehen, die denken, handeln, wirken, und die der über sich selbst steigende Philosoph doch nie aus unsrer Welt wegleugnen kann, so ist schon die Verknüpfung dieser Kräfte, wie alle ihrem Wesen nachwirken und sich in meiner Seele verbinden, mir Beweises gnug von einem wesentlichen Grunde innerer Wahrheit, Uebereinstimmung und Vollkommenheit, die ihr Dasein selbst einschließt. Daß es etwas Denkbares giebt, daß diese Denkbare nach innern Regeln verknüpft werden kann und bei unzählbaren Verknüpfungen dieser Art sich Harmonie und Ordnung zeigt, schon das ist mir Demonstration von Gott, und wenn ich ein unglückseliger Egoist wäre, der sich das einzige denkende Wesen in der Welt zu sein einbildet. Zwischen jedem Subject und Prädicat steht ein Ist oder Ist nicht; dies Ist, diese Formel der Gleichung und Uebereinstimmung verschiedener Begriffe, das bloße Zeichen = ist meine Demonstration von Gott. Denn, nochmals gesagt, es giebt eine Vernunft, eine Verknüpfung des Denkbaren in der Welt nach unwandelbaren Regeln; mithin muß es einen wesentlichen Grund dieser Verknüpfung geben. Die Regel dieser Verknüpfung hat Niemand willkürlich ersonnen, so wenig sie irgend ein mit Raum und Zeit befangenes, denkendes Wesen willkürlich übt. Sie ist in der Geisterwelt eben das, was die Regel des Gleichgewichts unter den Körpern ist: sie trägt ihre innere Nothwendigkeit mit sich. Es giebt also eine solche innere Nothwendigkeit, d.i. eine selbstständige Wahrheit.

PHILOLAUS. Und diese selbstständige Wahrheit wohnt –

THEOPHRON. In Allem, was da ist, objectiv oder subjectiv betrachtet. Unsre Kenntnisse sind aus Sinnen und aus der Erfahrung[91] geschöpft wir müssen wahrnehmen, Aehnlichkeiten zusammenhalten, allgemeinere Begriffe aus individuellen Verschiedenheiten absondern und läutern; dies Alles ist ein Weg, der Irrthümer im Wahrnehmen, im Absondern, im Verbinden und Trennen der Begriffe nicht nur möglich, sondern beinah unvermeidlich macht: ein nothwendiges Loos der Menschheit. Die Regel aber in unsrer Seele, nach welcher wir wahrnehmen, absondern, schließen und verbinden, ist eine göttliche Regel; auch im Irrthum haben wir nach ihr gehandelt und mußten nach ihr handeln, selbst wenn alle Gegenstände des Denkens Wahn wären. Nun betrachten Sie reine Wahrheiten, Wahrheiten z.B. der Geometrie. Für unsre Sinne giebt es vieleicht keinen vollkommenen Zirkel in der Natur; wenn es aber auch keinen gäbe, so ist mir der gedachte mathematische Zirkel mit Allem, was in ihm nach innerer Nothwendigkeit gesetzt und bewiesen wird, Demonstration einer selbstständigen göttlichen Wahrheit. Er beweist mir nämlich, daß es eine mathematische Vernunft in der Welt gebe, und da uns unsre Sinne nicht zulassen, sie allenthalben in der Natur zu erkennen und anzuwenden, so sagt doch seiner Structur und Absicht nach jeder Sinn und ihrem Wesen nach die uns einwohnende Vernunft, daß, wenn es denkende Wesen giebt, die auch mit feineren Sinne die Welt anschauen, sie nach eben dieser einzigen nothwendigen Regel denken, daß also auch das Wesen, das die Ursache meiner und jeder Vernunft ist, dieselben innern Gesetze der Gedanken auf die eminenteste Weise kennen müsse, die es seinen Wirkungen zu Grundgesetzen des Daseins nicht anders als machen konnte. Sie schweigen, Philolaus?

PHILOLAUS. Wie? wenn ein kritischer Philosoph Ihren Beweis blos hypothetisch nennte: »wenn es eine Vernunft giebt, wie aber, wenn es keine gäbe«?

THEOPHRON. So gäbe es keine; ein Philosoph, der seine Vernunft aufgiebt oder Vernunft leugnet, kann freilich keine Demonstration,[92] wovon es auch sei, haben. W. z. e. Aber Scherz beiseite! Sobald der Philosoph ein Philosoph wird, d.i. sobald er Vernunft anerkennt und sich deutlich macht, was sie sei, sobald ist ihm eine wesentliche Nothwendigkeit in Verknüpfung der Wahrheiten im Begriff der Vernunft selbst gegeben. Ich getraue mich zu sagen, daß dies die einzige wesentliche Demonstration von Gott sei (mehrere wesentliche kann es auch nicht geben), die bei allen Beweisen wiederkommt, die aber nirgend so scharf und und rein erscheint als bei den Gesetzen unsers Verstandes.

Alle Beweise z.B. aus der Natur, wo wir nothwendige Gesetze der Bewegung und Ruhe, des Bestandes der Dinge nach einem Verhältniß ihrer innern Kräfte u.s.w. wahrnehmen, setzen dieselbe Regel zum Grunde, die wir am Reinsten bei unsrer Vernunft bemerken, nämlich: »daß jedes Ding ist, was es ist, das sein Wesen auf Kräften, sein Bestand auf einem Ebenmaß dieser Kräfte, seine Wirkung auf Verhältnissen derselben zu anderen Dingen beruhe; und zwar dies Alles nicht aus willkürlichen Absichten, die wir ganz beiseit setzen, sondern aus innern Gesetzen der Nothwendigkeit, aus welchen Bestand und Zerstörung, Zusammensetzung und Auflösung, Bewegung, Ruhe und Wirkung folgen«. Jede wahre Physiko-Theologie entwickelt also nichts als ewige Vernunft und Kraft nach nothwendigen Gesetzen, im Bau der Geschöpfe, in ihrer ganzen Verbindung nach Ort und Zeit. Sie enthält überall einen und denselben Schluß, eine und die selbe Anschauung in tausend Beispielen und Gegenständen, vom verschwindenden Kleinsten bis aufs unübersehbare Größte. Die Musik z.B., mit der Sie mich ergetzt haben, ist eine Formel nothwendiger, ewiger Harmonie, auch wenn mein Ohr sie nicht hörte, auch wenn, abstrahirend von aller Wollust derselben, sie blos ein Verstand berechnete und mäße. Daß mein Ohr, daß meine Empfindung für die Musik geschaffen ist, daß sie auf so viele mir gleichgestimmte Wesen einerlei Wirkung thut: das Alles macht zwar den Beweis der in ihr wohnenden Harmonie lebhafter, es setzt aber seinem demonstrativen Werth nichts hinzu. Denn wenn auch kein Ohr in der Welt und das Wesen der Musik blos von einem rechnenden Verstande gedacht wäre, so wäre der Beweis vollendet.

PHILOLAUS. Ich muß meinen Scherz wiederholen. Wie, wenn durchaus kein rechnender Verstand wäre?[93]

THEOPHRON. So muß ich auch meine Antwort wiederholen. Giebt es keinen rechnenden Verstand, so giebt es auch nichts Berechnetes, mithin auch keine Harmonie und Ordnung, die eine Berechnung des Verstandes ist. Räumen wir alles Denkende weg, so ist nichts Denkbares, alles Wirkliche, so ist nichts wirklich. Wo gelangen wir aber mit solchen Sophistereien hin? und sind sie der Philosophie würdig? Zertreten Sie die ewigen Grundsätze der Vernunft und lösen solche in hypothetische Wortgespinnste ohne Existenz und nothwendiges Erkenntniß einer inneren Wahrheit auf: freilich so ist keine Demonstration nicht nur einer, sondern keiner Existentz möglich. Was haben Sie damit aber gethan, als den Grund alles Denkens aufgehoben? und wie ist nun ohne zusammenhangendes Denken Philosophie möglich? Ueberzeugen mich schon meine Sinne vom Dasein nach ihrer Art, d.i. auf eine dunkle verworrene Weise, wie sollte mich meine Vernunft nicht vom Dasein nach ihrer Art, d.i. durch deutlich verknüpfte, vollständige Begriffe überzeugen? Verlange ich aber von ihr, daß sie mir ihre Begriffe als sinnliche Anschauungen ohne sinnliche Anschauung gebe oder mir das Dasein sinnlicher Gegenstände, die in ihr Gebiet nicht gehören, als reine Vernunftwahrheiten demonstrire, und tadle sie, daß sie das nicht wolle oder vermöge: so hat mein Tadel nicht mehr Grund, als wenn ich die Farbe hören, das Licht schmecken und den Schall sehen wollte. Wir wollen uns hüten, Philolaus, daß wir nie in diese Gegend der »Hyperkritik des gesunden Verstandes« gerathen, wo man ohne Materialien baut, ohne Existenz ist, ohne Erfahrungen weiß und ohne Kräfte kann. Die Begriffe dieses Reichs sind wie die Fata Morgana scheinbare Richtigkeiten zurückgeworfener Bilder ohne Haltung, ohne Dauer, die schlechtesten Phantasmen, die es in der Welt giebt, speculative Phantome, ein Wust der Sprache.

PHILOLAUS. Sie bauen also Ihre Demonstration nicht auf den Begriff der Ursache und Wirkung?

THEOPHRON. Ich nehme diese Begriffe aus der Erfahrung; ins Gebiet der Demonstration aber weiß ich sie nicht anders als unter dem Begriff des Daseins zu verpflanzen, weil ich weder was Ursache, noch was Wirkung sei, viel weniger das Band zwischen beiden deutlich erkenne. Demonstriren läßt's sich bei keiner[94] Erfahrung, daß dies die Wirkung jener Ursache sei, ob wir wol sinnlich klar erkennen oder muthmaßen, daß sie es sein müsse, weil wir beide oft und immer zusammen oder nach einander fanden. Ihnen ist bekannt, welche Fehlmuthmaßungen man hierüber selbst im Lauf der täglichen Erfahrung bei den gemeinsten Dingen oft gemacht habe; und der Grund davon ist sichtbar, weil jeder Schluß von Ursache auf Wirkung oder umgekehrt von Wirkung auf Ursache als Erfahrungssatz nie Demonstration, sondern immer nur eine Muthmaßung im Reich der Sinnlichkeiten war. Wir wissen nicht was Kraft ist, noch wie sie wirke; wir sehen ihre Wirkung nur als Zuschauer und bilden uns daher analogische Urtheile. Selbst die allgemeinen Regeln hierüber, die wir auf's Beste bewährt finden, können wir nie demonstriren. Was sollten wir inniger kennen als die Kraft, die in uns denkt und wirkt? Wir kennen sie indeß so wenig als jede andre, die außer uns ist. Selbst die Gedanken meiner Seele, als Wirkung betrachtet, begreife ich nicht; nur dann sind sie mir begreiflich, wenn ich sie immanent als Dasein, d.i. »als ewige Wahrheiten zum Wesen meiner Vernunft gehörig« unter die Regel einer innern Nothwendigkeit zu bringen vermag. Dahin also habe ich auch in Ansehung Gottes meinen Beweis eingeschränkt; wer zu viel beweisen will, läuft Gefahr, daß er nichts beweise.

PHILOLAUS. Also werden Sie Sich auch über die Art der Schöpfung nicht erklären, ob sie Hervorbringung, Emanation u. dergl. sei?

THEOPHRON. Wie könnte ich dieses, da ich nicht weiß, was Schaffen, was Hervorbringen heiße? Die gemeine Vorstellungsart ist, daß Gott die Welt aus sich herausgedacht habe; sie scheint die reinste zu sein, weil wir von keiner reinern Wirkung als vom Gedanken unsrer Seele Begriff haben; auch haben sich Leibniz und alle helldenkende Köpfe an sie gehalten, weil ihnen die Erfahrung kein besseres Bild, die Sprache keinen besseren Ausdruck gab. Die Gedanken unsrer Seele, sagt man, sind an sich unwirksame Bilder; die Gedanken Gottes, mit ihrer Allmacht begleitet, waren höchst wirksam. Er dachte, und es ward; er wollte, und es stand da. Ich glaube, es giebt über eine für uns unerklärliche Sache keine behutsamere Formel.

Indessen schließt sie uns das Wesen der Wirkung nicht auf; vielmehr muß man sich auch bei diesem »heraus« vor bösen[95] Symbolisationen hüten. Die große Vorstellungsart z.B., daß Gott nach Millionen Ewigkeiten die Welt aus sich »herausgedacht« habe, wie eine Spinne das Gewebe aus sich zieht, ist unerträglich.

PHILOLAUS. Die gröbere Emanation wird es Ihnen also noch mehr sein, und doch giebt man selbst dem Spinoza Schuld, daß er sein System aus dem Kabbalismus der Juden entlehnt habe.

THEOPHRON. Wer hat Ihnen das eingebildet, Philolaus?

PHILOLAUS. Es ist eine sehr gemeine Meinung, die Spinoza selbst veranlaßt63 und vor Allen Wachter war ein gelehrter Mann, den ich in jedem andern Betracht, nur nicht als einen Philosophen ehre. Als ein reisender Jüngling von einigen zwanzig Jahren stritt er gegen einen Juden und wollte den Spinozismus im Judenthum finden; einige Jahre darauf ward er selbst ein Freund der Kabbala und wollte seiner ersten Idee zufolge die Lehre des Spinoza mit ihr vereinigen64. Mich dünkt, die Philosophie des Spinoza ist von der Kabbala ebenso verschieden, als es vergebliche Mühe ist, diese durch jene läutern zu wollen. Die Kabbala ist eine Symbolik guter und schlechter, im ganzen aber schwärmerischer, dunkler Vorstellungen in ungeheuern Bilder, mit denen der reine heitre philosophische Sinn Spinoza's sich nicht gnügen konnte; sonst wäre er ein Jude geblieben. In seiner ganzen »Ethik« finden Sie kein Bild, und seine wenigen Gleichnisse sind ihm fast mißrathen.[96] In diesem Betracht ist er ein Antipode der Kabbala, so natürlich es übrigens wäre, daß er als ein im Judenthum Erzogener, ein Schüler des berühmten Morteira, gleichsam eine hebräische Ansicht der Dinge in die Cartesische Philosophie gebracht hätte. Die erste Form des Denkens verläßt uns nie ganz, und da Spinoza zum Cartesischen System in einer fremden Sprache gelangte, so war es natürlich, daß er sich solches nach der seinigen typisirte, daher er auch synthetisch mit dem wesentlichen Begriff Gottes anhob. Mit der eigentlichen Kabbala aber, noch weniger mit ihren Emanationen (die doch von den Juden ebenso wenig erfunden sind, als wenig sie zu ihrer Theologie gehören) hat das System des Spinoza nichts zu schaffen. Wo er die Worte »Hervorbringung, Wirkung« brauchen muß, braucht er sie, ohne die Art der Hervorhebung zu erklären; am liebsten ist ihm aber, das Wort Ausdruck. » Die Welt drückt Eigenschaften der Gottheit aus, unendliche auf unendliche Weisen«; diese Redart ist eher mathematisch als kabbalistisch. Von Ausflüssen aus Gott redet Spinoza nie; einem geometrischen Geist sind dergleichen Bilder auch nicht die liebsten. Leibniz bediente sich einmal, um die Wirkung Gottes zu erklären, des Ausdrucks »Fulgurationen«, wobei er auf das Bild der Sonnenstrahlen anspielte; bei Kästner65 können Sie lesen, wie lächerlich man das Bild in der Folge gedeutet. Also wenn wir von Gott reden, lieber keine Bilder! Auch in der Philosophie ist dies unser erstes Gebot wie im Gesetz Moses'.

PHILOLAUS. Vom Unrath der Kabbala hielt Der sich gewiß frei, der über die Bildausdrücke der alten Schriften seiner Nation[97] selbst so strenge urtheilte. Gnug indessen, seine Philosophie ging nicht vom Cartesischen: Ich denke, darum bin ich, sondern vom heiligen Namen seiner Väter aus: »Ich bin, der ich bin, und werde sein der ich sein werde«. Diesen Begriff, der die höchste, völlig unvergleichbare Existenz in sich sowie alle Emanationen ausschließt, ihn durfte Spinoza nur entwickeln, und der größte Theil seines Systems lag vor ihm. Es giebt keinen absolutern, reineren, fruchtbareren Begriff in der menschlichen Vernunft als ihn; denn über das ewige, durch sich bestehende, vollkommenste Dasein, durch welches Alles gesetzt, in welchem Alles gegeben ist, läßt sich nicht steigen. Wie klein ist dagegen das Bild der Weltseele!

THEOPHRON. Es ist ein menschliches Bild, und wenn es vorsichtig gebraucht wird, kann von der innig – einwohnenden Kraft Gottes Manches dadurch anschaulich gesagt werden; wie denn auch Spinoza diese Analogie gebraucht hat. Indessen bleibt es ein Bild, das ohne die größte Vorsichtigkeit sogleich mißräth. Lesen Sie z.B. die Stelle wie Lessing es sich im Scherz dachte.

PHILOLAUS. »Wenn Lessing sich eine persönliche Gottheit vorstellen wollte; so dachte er sie als die Seele des Alls«.66

THEOPHRON. Merken Sie, wenn er sich eine persönliche Gottheit vorstellen wollte; er hatte aber gegen diese Persönlichkeit vorher selbst protestirt; und wie könnte man auch die Seele im Körper eine Person nennen?

PHILOLAUS. »Und das Ganze dachte er sich nach der Analogie eines organischen Körpers. Diese Seele des Ganzen wäre also, wie es alle andre Seelen nach allen möglichen Systemen sind, als Seele nur Effect

THEOPHRON. Erwägen Sie: »Gott, die Seele des Ganzen, ein Effect! alle andre Seelen, nach allen möglichen Systemen Effecte!« Effecte wovon? Gott ein Effect wessen? Des Ganzen?[98] des organischen Körpers? und das wären nach allen möglichen Systemen alle Seelen? Effecte?67

PHILOLAUS. »Der organische Umfang derselben (Seele) könnte nach der Analogie der organischen Theile dieses Umfanges insofern nicht gedacht werden, als er sich auf nichts, das außer ihm vorhanden wäre, beziehen, von ihm nehmen und ihm wiedergeben könnte«.

THEOPHRON. Hier bekommt Gott als Seele der Welt schon einen organischen Umfang, Theile dieses Umfanges; er muß sich auf etwas beziehen, das außer ihm vorhanden ist, von dem er nehmen, was er wiedergeben könne.

PHILOLAUS. »Also, um sich im leben zu erhalten, muß Gott von Zeit zu Zeit sich in sich gewissermaßen zurückziehen, Tod und Auferstehung mit dem Leben in sich vereinigen. Man könnte sich von der Oekonomie eines solchen Wesens mancherlei Vorstellungen machen« u.s.w. Scherz! nichts als Scherz! wie Lessing's Freund unmittelbar darauf selbst sagt,68 »daß er die Idee der Weltseele bald im Scherz, bald im Ernst gewendet habe«.

THEOPHRON. Sie kennen Lessing's Art, die Sache so zu wenden. »Es regnet. Das thue ich vieleicht,«69 u.s.w. Offenbar wollte er damit das Bild in seiner schlimmsten Uebertreibung darstellen, d.i. persifliren.

PHILOLAUS. Indessen, mein Freund, verlangen wir doch nach einer Vorstellung des Weltganzen. Am Einzelnen mag unsre Seele sich nie begnügen, und wenn das Ganze, wie ich freilich einsehe, kein Riese sein kann, »der sich gegen das Nichts sträubt, sich mit schrecklichen Contorsionen in sich selbst zurückzieht, sich wieder ausdehnt und also Tod und Leben schafft, damit der Ewiglebende sich nur von Zeit zu Zeit sich selbst im Leben erhalte«, wenn dies Alles freilich nichts ist, welche Vorstellung soll ich mir denn vom Ganzen der Welt bilden?

THEOPHRON. Keine sinnliche Vorstellung, Philolaus! Das[99] Endlose giebt kein Bild; das absolut Unendliche, Ewige noch minder. Merken Sie, wie unser Haller alle Kräfte seiner Phantasie aufbietet, das Endlose zu schildern; er kann's nicht.


»Unendlichkeit! wer misset Dich?

Bei Dir sind Welten Tag' und Menschen Augenblicke.

Vielleicht die tausendste der Sonnen wälzt jetzt sich,

Und tausend bleiben noch zurücke.

Wie eine Uhr, beseelt durch ein Gewicht,

Eilt eine Sonn' aus Gottes Kraft bewegt:

Ihr Trieb läuft ab, und eine andre schlägt,

Du aber bleibst und zählst sie nicht


Mit dem letzten Zuge hat der Dichter sein ganzes Gemälde selbst vernichtet. So thut er's mit seinem Bilde der Ewigkeit:


»Die schnellen Schwingen der Gedanken,

Wogegen Zeit und Schall und Wind

Und selbst des Lichtes Flügel langsam sind,

Ermüden über Dir und hoffen keine Schranken.

Ich häufe ungeheure Zahlen,

Gebirge Millionen auf,

Ich wälze Zeit auf Zeit und Welt auf Welt zu Hauf;

Und wann ich von der grausen Höhe

Mit Schwindeln wieder nach Dir sehe,

Ist alle Macht der Zahl, vermehrt mit tausend Malen,

Noch nicht ein Theil von Dir;

Ich zieh' sie ab, und Du liegst ganz vor mir


Lassen Sie uns also selbst von einem Dichter lernen, auf metaphysische Phantasmen und leere Anschauungen eines endlosen Raums, einer endlosen Zeit, geschweige des untheilbar-ewigen Daseins in Bildern Verzicht zu thun. Philosophie ist nicht Phantasterei; nichts als Ungeheuer kann diese erzeugen, von denen es Jeden, nur nicht den Erfinder selbst schaudert.

PHILOLAUS. So möchte ich denn ohn' alle Bilder Naturgesetze der Haushaltung Gottes, ausdrückende Symbole der höchsten Wirklichkeit, einer nothwendigen Güte und[100] Weisheit kennen lernen. Denn, Theophron, der Gordische Knote in Spinoza's System liegt noch vor mir, das Räthsel: »Wie entstand, wenn nur eine Substanz diesen Namen verdient, der Wahn oder die Wahrheit einzelner, vieler zahlloser Substanzen?«

THEOPHRON. Wir wollen die morgende Abendstunde zur Unterredung wählen. – Ist Ihnen dieser Hymnus bekannt? er giebt kein Bild von Gott, aber etwas Besseres als Bilder.


Gott.70

Der Einzige, der Allen Alles ist,

Ist unser Gott! Geschöpfe, betet an!

Den Nichterschaffenen, den Einzigen,

Den Ewigen, Geschöpfe, betet an!


Du seine große, weite, schöne Welt

Mit allen Deinen Feuerkugeln dort!

Du warest nicht, Du wurdest und Du bist

In Deiner Pracht. Geschöpfe, betet an!


Zehntausend seiner Sonne traten hin

Und gehen ewig ihren großen Gang.

Zehntausend seiner Erden traten hin

Und gehen ewig ihren großen Gang.

Zehntausend Myriaden Geister stehn

Um seinen Thron. – Um seinen Thron? – Hinweg

Mit seinem Thron! Er sitzt, er stehet nicht,

Er ist kein König, kein Khalif. Er ist

Das Wesen aller Wesen; er ist Gott,

Ist unser Gott! Geschöpfe, betet an!


Wer ist, den er zu seiner Werkstatt rief,

Dahinzutreten und zu sehn, zu sehn –

Wie er es macht? Wie er den Ocean

In so geschmeidigem Gehorsam hält,[101]

Daß seines Wassers nicht ein Tropfe fort

Aus seiner Tiefe will! wie er den Mond

An einen dünnen Faden bindet und

In blauer Luft ihn schweben läßt; wie er

In Zeit von Rosses oder Reiters Hui

Zehntausend Millionen Sonnenfernen mißt

Und keines Apfels, keines Staubes fehlt!


Wer ist wie er? Auf seiner Erde wohnt

Kein ihm ergebener, erhab'ner Geist,

Und keiner blickt von seinem Wolkenzug

Uns seinem Morgenroth, der mir es sagt,

Wie er es macht! Kein Seher Gottes ist,

Kein Heiliger, kein Frommer, der es weiß.


Von Dir, Du kleiner Ball, auf welchem wir

Zehntausend Millionen Ballen dort

Nur funkeln sehen, hinauf zum Sonnenball,

Vom Sonnenball hinan zum Sirius,

Der, millionenmal so groß wie Du,

Dem armen Erdenwurm ein Punctum ist;

Von Dir, Du kleiner Käfer, bis zu Dir,

Du stolzer Adler, der den Kaukasus

Auf seinem Flug für einen Kiesel sieht;

Von Dir, Du kleine Schnecke, deren Blut

Die Hüllen stolzer Menschen färben muß,

Zu Dir, Du kluger Affe, welcher sich

Die Wangen färbt, um schön zu sein; und dann

So weiter fort zu einem Geist, der Gott,

Das Wesen aller Wesen, denken will –


Ha, welche Stufen! Welche Stufen hier

Und dort, in allen Millionen dort!

In allem Todten, allem Lebenden

Und allem Leichten, allem Schweren! – Gott,

Der einzige, der Allen Alles ist,

Ist unser Gott! Geschöpfe, betet an![102]

40

Ueber die Lehre des Spinoza, S. 12. Die Citationen, nach der ersten Ausgabe bemerkt, sind geblieben, und in der zweiten leicht zu verfolgen.

41

S. 12.

42

S. 14.

43

S. 17.

44

»Wenn ich mich nach Jemand nennen soll, so weiß ich keinen Andern.« S. 12. (Wenn! soll! weiß ich!) »Freilich! Und doch! Wissen Sie etwas Besseres?«

45

S. 17.

46

Person, as I take it, is the make of this Self. Wherever a Man finds what he calls Himself, there I think another may say is the same Person. It is a forensick term, appropriated Actions and their Merit, and so belongs only to intelligent Agents capable of a Law and Happiness and Misery. Locke, Essay on human understanding, Vol. I B. 2. 27.

Le soi fait l'identité réelle et physique; et l'apparence du soi, accompagnée de la vérité, y joint l'identité personnelle. Si Dieu changeait extraordinairement l'identité réelle, la personnelle demeurerait, pourvu que l'homme conservât les apparences d'identité, tant les internes (c'est-à-dire de la conscience) que les externes, comme celles qui consistent dans ce qui parait aux autres. Ainsi la conscience n'est pas le seul moyen de constituer l'identité personnelle; le rapport d'autrui ou même d'autres marques y peuvent suppléer. Leibnitz, Ouvres philosoph., p. 195. 196.

Ueber den Sprachgebrauch der Worte Person, Persönlichkeit u.s.w. schlage man Wörterbücher auf, welche man will, latein, deutsch, französisch, italienisch, spanisch, englisch; alle sagen in ihren gesammelten Stellen, daß diese Worte ein Eigenthümliches oder Besondres unter einer gewissen Apparenz bezeichnen; welcher Nebenbegriff dem Unendlichen im Gegensatz der Welt gar nicht zukommt, vielmehr den Begriff des Einzigen, nicht Figurirenden verdunkelt.

47

Locke, Essay on unterstand., B. 2. Ch. 21. §. 5; Ch. 11. §. 17.

48

Leibniz, Oeuvres philosoph. p. Raspe, p. 132.

49

S. 19.

50

Ethic. L. IV. V.

51

S. 19 f.

52

S. 20.

53

S. 21.

54

»Daß Lessing sich nicht anmaßte, zu behaupten, Leibniz sei in dem Verstande ein Spinozist gewesen, daß er sich selbst dafür erkannt hätte, beweist die Folge des Gesprächs. Innere wesentliche Aehnlichkeit, Identität des Systems; das nur hatte Lessing eigentlich im Auge«. Ueber die Lehre des Spinoza. Zweite Ausg. 1789. S. 414.

55

S. 22.

56

Lessing's sämmtliche Schriften, Th. 7. S. 23. f.

57

S. 34.

58

Noch befriedigender sieht man dies aus ein paar Aufsätzen in Lessing's hinterlassenen Schriften. (Lessing's Leben und Nachlaß, Th. 2. S. 164 f.) Unwidersprechlich zeigen sie den hellen und reinen Begriff, den Lessing von Spinoza's System hatte, und stellen die Scherze seines Gesprächs an den Ort, der ihnen gehört.

59

S. 170. 172.

60

Man sehe hierüber Wolff's Widerlegung des Spinozismus, Th. 2 seiner »Natürlichen Gottesgelahrtheit«, §. 671. u.s.w., die der deutschen Uebersetzung von Spinoza's Sittenlehre (1744) beigedruckt ist.

61

Epist. 23, Opp. posth., 453.

62

Ueber die Lehre des Spinoza. Breslau 1786.

63

»Omnia in Deo esse et in Deo moveri cum Paulo affirmo, auderem etiam dicere cum antiquis omnibus Hebraeis, quantum ex quibusdam traditionibus, tametsi multis modis adulteratis, conjicere licet.« Epist. 21, Opp. posth., p. 499.

64

Die erste Schrift hieß: »Der Spinozismus im Judenthum, oder die von dem heutigen Judenthum und dessen geheimen Kabbala vergötterte Welt. An Mose Germano befunden und widerlegt von J. G. Wachter«. Amsterd. 1699. Die zweite: Elucidarius Cabbalisticus s. reconditae Hebraeorum philosophiae recensio, epitomatore J. G. Wachtero. Rom. 1706. Er findet zwanzig Aenlichkeiten zwischen Spinoza's System und dem Kabbalismus.

65

Kästner's vermischte Schriften, Th. 2. S. 11 ff.

66

Ueber die Lehre des Spinoza, S. 34.

67

Eine Erläuterung dieses Ausdrucks, f. in der zweiten Ausgabe des Buchs über die Lehre des Spinoza, S. 46 f.

68

S. 35.

69

S. 35.

70

S. Gleim's »Halladat«, III.

Quelle:
Herders Werke. Berlin [o.J.], S. 74-103.
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