[Ich weiß, ein Wahn ist's und zum Wahnsinn bringt's]

[232] Ich weiß, ein Wahn ist's und zum Wahnsinn bringt's,

Ihm nachzuhängen. Dennoch, jeden Tag,

Sobald versank der Sonnenball und noch

Der Trost des Sternenschimmers nicht erblüht,

Nur bleiern bleiches Zwielicht auf dem plötzlich

Entseelten Angesicht der Erde ruht,

Tritt vor mich hin dasselbe Graungespenst.

Mir ist, mein Knabe sei in weiter Ferne

Verirrt und finde nicht nach Haus. Ich seh' ihn

Durch graue Gassen einer fremden Stadt

Hineilen, seine kleinen Füße wanken,

Von kühlem Tau und kaltem Schweiße klebt

Sein braunes Haar, die Augen suchen irr

Umher, ob sie das Haus nicht wiederfinden,

Wohin er soll, wo ihm das Bettchen steht,

Die Mutter tödlich sich um ihn zerbangt

Und trostlos sie der Vater trösten will.

Und fremde Leute, hastig teilnahmlos,

Gehn ihm vorbei – er ruft sie an – er fleht:

Bringt mich nach Hause! – Keiner hört auf ihn;

Nicht eine Pforte tut sich ladend auf,

Nicht eine Hand zieht ihn ins Wohnliche.

Und so von Tür zu Türe, hingejagt

Von Hunger, Angst und Sterbensmüdigkeit,

Sucht er und sucht – und keine Zuflucht winkt,

Und dichter, kühler, schauriger umdunkelt

Die Nacht sein banges Leben – schwer und schwerer

Den Atem ringt er aus beklemmter Brust –[232]

Und jetzt – die Kraft versiegt – mit leisem Ach

Hinsinkt er auf den kalten Stein.


Da sendet

Ein güt'ger Dämon, der das Herz mir nicht

Will springen lassen im lebend'gen Leibe,

Ihm Helfer in der höchsten Not. Ich seh'

Zwei andre Kinder um die Ecke biegen,

Stillgleitend wie mit Flügeln. An der Hand

Führt ein halbwüchs'ger Knab' ein zierlich Mägdlein,

Das kaum erst trippeln lernte. Stolz und ernst

Glüht unter blasser Stirn das Knabenauge

Und rastet plötzlich auf dem Hingesunknen.

Das Mägdlein aber stutzt und zeigt auf ihn,

Und jetzt, mit holdem, unhörbarem Lachen

Läuft's auf ihn zu und tupft ihn auf den Kopf,

Und wie er aufsieht, streichelt sie ihm sanft

Das taubetriefte Haar. Doch ihr Gefährte

Faßt brüderlich den Kleinen unterm Arm

Und richtet ihn empor. Da sehn die Drei

Sich an mit Kinderneugier, rasch vertraut,

Und flink das Mägdlein in die Mitte nehmend,

Gehn sie dahin; mir ist, ihr Lachen hört' ich,

Ihr kindisch Plaudern, – und wie Flötenhauch

Dringt's an mein Ohr. So blick' ich ihnen nach,

Bis vor dem übertauenden Aug' ihr Bild

Zerrinnt, und dort am Dachesrande glüht

Der goldne Mond empor und übergießt

Mit Balsam mir die angsterlöste Seele.


Rom


Quelle:
Paul Heyse: Gesammelte Werke, 3 Reihen in 15 Bänden, Reihe 1, Band 5, Stuttgart 1924, S. 232-233.
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