[In dem weißen Seidenhut]

[178] In dem weißen Seidenhut

Könnt' ich heut noch dich betrachten,

Wie wir damals frischverlobt

Unsre Brautvisiten machten!


Reizend war der Hut und fest

Unterm Kinne zugebunden,

Nicht dem grauen Hütchen gleich,

Jenem übermüt'gen runden.


Und so ehrbar winkten mir

Deine sechzehnjähr'gen Augen,

Ganz wie fragend: Sollten wir

Nicht zur Hausfraunwürde taugen?


Und wie dann dein Kindermund

Ernsthaft mich zur Rede setzte,

Weil ich bei den Tanten oft

Gar zu tolle Sachen schwätzte!


Doch ich überführte dich,

Als nach Hause fuhr der Wagen,

Daß wir beide musterhaft

Angemessen uns betragen.


Während deine Reden, Kind,

Höchst gesetzt und weise waren,

Schien ich selbst ein Sausewind,

Kaum von hochzeitlichen Jahren.


Muß nicht unsern Herzensbund

Auch der ärgste Zweifler segnen,

Wenn wir so der Jahre Kluft

Überbrückend uns begegnen?
[178]

Gar zu gerne wollt ich wissen,

Was aus diesen Zügen spricht,

Wie so schnell mich hingerissen

Dieses reizende Gesicht.


Manche sah ich, Blond' und Braune,

Mir in Jugendblüte nahn;

Warum wandelte die Laune,

Sie zu lieben, nie mich an?


Konnt' ich nicht in Fülle schauen

lles, was das Herz begehrt:

Sanfte Lippen, stolze Brauen,

Weißen Hals, umhalsenswert?


Dennoch wie am Zauberfädchen

Lockte mich in raschem Gang

Stets sich nach dies schlanke Mädchen,

Eh' noch ihre Stimme klang;


Eh' ein Hauch aus ihrer Seele

Schüchtern sich zu meiner stahl,

Und ich wußte: Die erwähle!

Ach, dir bleibt ja keine Wahl.


Jetzt, da ich bei Nacht und Tage

Ihr Gesicht studieren mag,

Bleibt die große Rätselfrage

Dunkel wie am ersten Tag.


Doch entsag' ich gern dem Wissen;

Schauen ist die höh're Pflicht.

Fort das Grübeln! Laß dich küssen,

Unerforschlich süß Gesicht!

Quelle:
Paul Heyse: Gesammelte Werke, 3 Reihen in 15 Bänden, Reihe 1, Band 5, Stuttgart 1924, S. 178-179.
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