Zweiter Aufzug

[372] Dasselbe Zimmer. Es ist Nacht, durch das verschneite Fenster fällt voll das Mondlicht. Frau Selicke sitzt wieder neben dem Bett und strickt, Toni arbeitet am Sofatisch, auf welchem hinter dem grünen Schirm die Lampe brennt, Albert sitzt neben ihr, liest, blättert und gähnt ab und zu, Walter steht vorm Fenster, die Arme auf das Fensterbrett gestützt.


WALTER vom Fenster weg zu Frau Selicke hin. Mama! Er kömmt immer noch nich![372]

FRAU SELICKE müde, etwas weinerlich. Ach ja! ... Na, heute können wir uns wieder mal auf was gefaßt machen.

WALTER sich an sie drängend, sie umfassend. Mamachen! Biste wieder gut mit mir? ... Ja? ... Mamchen!

FRAU SELICKE. Ja! ... Ja! ... Wenn du nur nich immer so ungezogen wärst!

WALTER. Ach Mamchen!

FRAU SELICKE. Ja! ... Ja! ... 's is schon gut! ... Laß mich nur!

WALTER immer noch schmeichelnd. Sag, Mamchen! Biste nu aber auch wirklich ganz gut mit mir?

FRAU SELICKE lächelnd, abwehrend. Na ja! Ja, du Schlingel!

WALTER. Armes Mamchen! Küßt sie und stellt sich dann wieder vor das Fenster hin. Nach einer kleinen Pause, während welcher Albert sich zurückgelehnt, die Arme gereckt und laut gegähnt hat. Du, Albert! Au, kuck mal! Drüben bei Krügers brennt noch der Weihnachtsbaum!

ALBERT hat sich faul erhoben und ist langsam, die Hände in den Taschen, zum Fenster getreten. Ach wo, du Peter! Is ja man 'n Licht in der Küche! Wo soll denn jetzt noch 'n Weihnachtsbaum brennen?

WALTER ihn unterbrechend. Halt doch mal! Horch mal! Ging – da nich die – Haustür?! ... Nach einer kleinen Pause, weinerlich. Nee! Ach, nu kann man sich wieder nich hinlegen!


Albert gähnt faul.


FRAU SELICKE. Leg dich doch schlafen! Das wehrt dir doch niemand!

WALTER. Ach! ... Wieder nach einer kleinen Pause. Du, kuck mal, Albert! Lauter goldne Flinkerchen hier auf 'm Schnee! Wah? Das sieht hübsch aus!

ALBERT mißgelaunt. Ja, ja!

WALTER. Ob e' was mitbringt, Mamchen? 'n Baum?

FRAU SELICKE ohne von ihrem Strickzeug aufzusehen. Werden ja sehn! ... Gähnt. Hach ja!

WALTER. Ach ja! Ich glaube! ... 'n Baum hab'n wir doch[373] jedes Jahr gehabt? Morgen früh könn'n wir 'n ja immer noch anputzen! Wah, Mamchen? Un wenn wir 'n dann abends anbrennen ... wah?

FRAU SELICKE müde, abgespannt. Ja, ja!

WALTER. Na, un' Linchen bringt er doch auch was mit? Linchen?

FRAU SELICKE. Na! Er wird wohl! Zählt ihre Maschen, seufzt.

ALBERT ist vom Fenster weg wieder auf den Tisch zugetreten. Nee, so 'ne Unvernunft von dem! Mit einem Blick nach der Uhr. 's is nu halb zwei!

TONI sieht in die Höhe. Sprich mal nich so vom Vater!

ALBERT sich zu ihr aufs Sofa setzend und sie schmeichelnd um die Taille fassend. Ach was, Tönchen! Sei man still! ... 's is doch wahr! Näh mir lieber nächstens mal 'n paar Stege an die Hosen! He? ...

TONI ihn sanft von sich abwehrend. Ach, nich doch. Albert! Red Walter zu und geht beide zu Bett!

FRAU SELICKE unwillig vom Bett herüber. Ja doch! Stör uns nich immer, und leg dich lieber hin für dein unnützes Schmökern da!

ALBERT. Na, was soll man denn machen!

FRAU SELICKE. Statt den ganzen Tag, wenn du frei hast, hier umherzuliegen, könntest du noch 'n bißchen Sprachen lernen! Das braucht 'n Kaufmann heutzutage! Aber du hast nich 'n bißchen Lerntrieb!

ALBERT. Ach was, Mamchen!

FRAU SELICKE. Na, mach doch, was du willst! Mir kann's egal sein! ... Mir wird sowieso bald alles egal sein! ... Überhaupt! Nenn mich nich immer Mamchen! Was denkste dir denn eigentlich. Du Gelbschnabel?!

ALBERT. Na, liebe Zeit! Was wollt ihr denn nur! Ich tu doch meine Schuldigkeit im Geschäft! Da solltest du erst mai andre junge Kaufleute sehn!

FRAU SELICKE. Na ja, ja! Is schon gut! Wissen ja! Laß uns nur zufrieden!

WALTER. Ach, nu kömmt er immer noch nich![374]

FRAU SELICKE. Leg dich zu Bett, Walter! Leg dich zu Bett!

WALTER. Ach nee! Ich kann ja doch nich schlafen, Mutterchen, wenn Vater nich da is!

FRAU SELICKE. Oh, und nun auch noch die Schmerzen in meinem Fuße! ... Ich könnte laut auf schrein! ... Weiter nichts wie Elend und Sorge und Aufregung hat man! Das ist das ganze bißchen Leben! Wenn einen der liebe Gott doch endlich mal erlösen wollte!

ALBERT geht mit gesenktem Kopfe verdrießlich auf und ab. Die Hände in den Taschen seines Jacketts. Nein, das is auch eine Wirtschaft hier! Wenn man doch erst mal ... he! ... Sitzt man bis spät in die Nacht 'nein und wagt kein Auge zuzutun, und am andern Tag is man dann janz kaputt!

FRAU SELICKE. Ach, geh schlafen, und predige uns nich auch noch was vor! ... Walter, leg dich nun hin!

WALTER. Ach nein, Mamachen! Ich warte noch! Sieht immer noch aufmerksam zum Fenster hinaus.

FRAU SELICKE. Na, warte man ...

ALBERT. Ä was! Ich leg mich hin!

FRAU SELICKE. Das machste gescheit!

ALBERT mürrisch. Jute Nacht!

TONI. Gute Nacht!


Albert nimmt, während er am Sofatisch vorbeigeht, von diesem eine Streichholzschachtel, klappert damit und verschwindet in der Kammer, nachdem er bereits auf der Schwelle ein Zündhölzchen angestrichen und in das Dunkel hineingeleuchtet hat.


FRAU SELICKE. Walter!

WALTER. Ach, Mamachen!

FRAU SELICKE. Ach was! Dummer Junge! ... Dir tut er ja nichts!

WALTER. O ja!

FRAU SELICKE. Ach, Dummheit! ... Leg dich hin! Geh! ...

WALTER. Au, unten kommt einer![375]

FRAU SELICKE zusammenfahrend. Kommt e'?!

WALTER weinerlich. Is 'n andrer!

FRAU SELICKE. Nein, so ein Mann! So ein Mann! ... Das kann er doch wirklich nich verantworten! ... Walter! Geh nun!

TONI hat ihr Nähzeug auf den Tisch gepackt, ist aufgestanden, ans Fenster getreten und nimmt nun Walter an die Hand. Komm, Walterchen!

WALTER hat sie von unten auf umfaßt und sieht zu ihr empor. Ach, laß mich doch! Ich hab ja solche Angst! ... Ich wart hier lieber am Fenster!

TONI. Dann geh ich auch nicht schlafen! Na?

WALTER weinerlich. Ach! – Macht sich von ihr nach dem Fenster zu los.

TONI. Komm!

WALTER. Gleich! Sieht durch das Fenster. Jetzt!


Läßt sich von ihr nach der Kammer führen. Schluchzt.

Während die Tür aufgeht, sieht man noch das Licht brennen, das Albert sich angesteckt hat. Toni bückt sich, küßt Walter und drückt dann die Tür wieder zu. »Gute Nacht.«


WALTER. Ach, laß doch die Tür 'n bißchen auf!

TONI. Na ja! ... So! ... Eine Weile noch sieht man durch den Spalt das Licht, dann verlischt es. Toni macht sich still wieder an ihre Arbeit.

FRAU SELICKE. Nein! So ein komischer Junge! Sich so abzuängstigen! ... Über was man sich nich alles ärgern muß? ... Nein! ... Ach! Na – ich sage auch schon! ...


Kleine Pause. Im Bett Husten und Stöhnen.


LINCHEN. Ma-ma-chen! ...

FRAU SELICKE beugt sich über die Kissen. Ach, da biste ja wieder, meine Kleine?

LINCHEN. Warum – kommt 'n Papa noch nicht?

FRAU SELICKE. Sei nur ruhig! ... Weine nicht! ... Rege dich nicht auf, mein Herzchen! Er kommt nun bald! ... Ach Gott, ja![376]

LINCHEN. Er ist wieder – betrunken! Nich wahr?


Toni läßt ihr Nähzeug sinken und sieht vor sich hin.


FRAU SELICKE. Ach nein! ... Nein doch, mein Herzchen! ... Er ist nur einen Weg gegangen! ... Er bringt dir was mit!

LINCHEN. Ach nein! ... Er will dich nachher wieder schlagen!

FRAU SELICKE. Ach, aber meine Kleine! ... Weine doch nur nicht, mein Linchen! ... Gott, nein! ... Siehste, du darfst dich ja nich aufregen?! Du wirst ja sonst nich gesund? ... Nein, mein Mäuschen! Er hat nur ein'n Weg gehabt!

LINCHEN. Bringt er mir wieder Törtchen mit?

FRAU SELICKE. Ja.

LINCHEN. Ach Mamachen! Und 'ne neue Puppe möcht ich auch so gerne haben!

FRAU SELICKE. Ja, die kriegst du! Und auch wieder Wein!

LINCHEN. Solchen süßen?

FRAU SELICKE. Ja.

LINCHEN. Aber weißt du. Ma-machen ... es muß eine Puppe sein, die ... richtig sprechen kann ...

FRAU SELICKE. Ja! So eine!


Toni hört die ganze Zeit über in Gedanken versunken zu.


LINCHEN. Auch ein'n ... Wagen ...?

FRAU SELICKE. Ja?

LINCHEN. Au! Denn ... fahrn wir die Puppe immer spaziern ...! Nich wahr, Tönchen?

TONI. Ja, liebes Kind!

FRAU SELICKE. Ja, meine Kleine! Dann gehst du wieder mit Tönchen spaziern!

LINCHEN. Au ja! ... Bald – Ma-machen?

FRAU SELICKE. Ja! Bald! Ganz bald!

LINCHEN. Morgen!

FRAU SELICKE. Morgen? Aber, liebes Kind! Du mußt dich doch erst noch 'n bißchen erholen?.. Nich wahr?.. Aber diese Woche vielleicht!

LINCHEN. Bestimmt?[377]

FRAU SELICKE. Ja! ... Bestimmt!

LINCHEN. Ma-machen ... Ja? Ich – werde doch ... wieder gesund?

FRAU SELICKE. Ja, gewiß mein Mäuschen! ... Freilich!


Kleine Pause.


LINCHEN. Ma-machen? ...

FRAU SELICKE. Hm?

LINCHEN lächelnd. Kranksein is hübsch!

FRAU SELICKE. Ach Gott! ... Meine arme, dumme Kleine! ... Warum denn? Beugt sich zärtlich zu Linchen hin.

LINCHEN. Weil ... weil du dann ... immer ... so ... gut bist ...

FRAU SELICKE. Oh, aber mein Linchen! ... Bin ich denn sonst nicht gut?

LINCHEN. Liebes Mamachen?

FRAU SELICKE. Was denn, meine Kleine?

LINCHEN. Mamachen?

FRAU SELICKE rückt ihr etwas näher. Na?

LINCHEN. Nich wahr ... Ma-machen? ... Du – zankst nich mehr ... mit mir.. wenn ich ... erst wieder ... gesund ... bin ...

FRAU SELICKE. Ach meine ... Küßt sie.

LINCHEN. Hast du ... mich ... lieb, Ma-machen?

FRAU SELICKE. Ach, meine Kleine!

LINCHEN. Bringt Papa ... ein' Baum mit ... und Lichter?

FRAU SELICKE. Ja, Liebchen! Und morgen kommt der Weihnachtsmann!

LINCHEN. Ei! ... Rück mich doch 'n bißchen in die Höh, Ma-machen ...

FRAU SELICKE. Willst du denn nicht wieder einschlafen, meine Kleine?

LINCHEN aufgeregt, hastig. Ach, ich ... bin ... gar nich ... müde ... Hustet. Ich.. bin.. ganz ... wohl ... Ma-machen!

FRAU SELICKE. Ach, der alte, böse Husten! ... Na so? Hat sie ein wenig hochgerückt.[378]

LINCHEN. Erzähl mir ... doch ... 'n bißchen was!

FRAU SELICKE. Ach, liebes Kind! ... Ich weiß nichts! Seufzt.

LINCHEN. Ma-machen! ... Krieg ich auch 'n neues Kleid ... wenn ich ... wieder ... gesund bin?

FRAU SELICKE. Ja! – Aber sprich doch nich soviel, mein Liebchen! Es strengt dich so an? ... Komm! Legt den Kopf neben sie auf das Kissen. Komm! Schlafe! Schlafe, mein liebes Täubchen!

LINCHEN. Lieschen Ehlers sagt immer in der Schule zu mir: Ach pfui ... du – hast so 'n ... schlechtes ... Kleid!

FRAU SELICKE. Ja! Tönchen soll dir ein ganz neues machen! – Komm! – Schlafe, meine Kleine!

LINCHEN. Au! Wart doch – mal, Ma-machen! Meine – Hand ...

FRAU SELICKE. Oh, hab ich dir weh getan, mein Püppchen?

LINCHEN. Lieschen Ehlers is dumm! Nich wahr ... Ma-mach'n?

FRAU SELICKE. Ja! Richtig dumm! ...


Kleine Pause. Frau Selicke hat fortwährend noch ihren Kopf auf dem Kissen.


LINCHEN schnell, aufgeregt. Und darf ich – auch wieder – mit Tönchen zur – Tante, aufs Land? ... wenn ich ... wieder gesund ... bin? ... Ja? ... Weißte, dann ... suchen wir immer.. die Eier.. in der Scheune.. Tante und ich.. Ma-mach'n! ... Ma- mach'n! Onkel sagt immer ... zu mir: »Giv mi – mol 'n – Kuß, min lütt Deern!« ... Lächelnd. Mama! 'n Kuß! ... Aber – er hat – so 'n Stachelbart!.. Das kratzt immer.. Weißte, ich hab 'n immer – seine – lange Pfeife gestopft ... und dann – mußt ich – immer essen, aber auch – immer essen! ... Sie – nudeln ein' ordentlich! ... Au! Ich – konnte manchmal – gar nich – mehr! ... Die alte – Großmutter – sagt immer ... »Fat tau. Kind! – Fat – drist – tau!« – Na, die – haben's ja! – Nich wahr – Ma-mach'n? – Sie schlachten – jedes Jahr – vier Schweine! ... Vier Schweine! ... Mamach'n?[379] Horch mal! Lächelnd. Einmal – hat mir – Cousin Otto ... den Schweinsschwanz – hinten an 'n ... Zopf gebunden ... un – ich hab's erst – gar nich gemerkt! ... Cousin Otto – macht immer – solche Dummheiten! – Nich? – Aber – er is – gut! – Er hat mir immer – Weintrauben – aus dem Garten – gebracht ... Ja! ...

FRAU SELICKE. Kucke, meine Kleine! Du wirst ja ganz munter? Aber sprich lieber nich soviel, mein Häschen!

TONI hat während der Erzählung Linchens freudig überrascht aufgehorcht und ist nun auch an das Bett herangetreten. Wie unser Linchen erzählt! Siehst du, Mama? Nun wird sie bald, bald gesund sein!

LINCHEN etwas ungeduldig. Na ja! ... Das – werd ich auch!

TONI. Schön! Schön, mein gutes Herzchen! Steht am Bett mit übereinander gelegten Armen und sieht zärtlich auf Linchen herab.

FRAU SELICKE die Toni zugenickt hat. Aber, hörst du? Erzähl lieber nicht soviel, mein Linchen!

LINCHEN schnell, aufgeregt. Nein ... wart doch mal ... Mamachen! ... Hör doch mal! ... Un Cousine Anna ... Die hat Kleider! ... Kleider hat die! ... Na, aber auch ... so viele! ... Sonntags ... weißt du ... wenn wir in die Kirche ... Hustet.

FRAU SELICKE angstvoll. Kind! Kind!

LINCHEN. Ach ... das ... schadet nichts ... Ma- mach'n! ... So 'n – bißchen – Husten noch! ... Das – hört morgen wieder auf – Nich? ... Sonntags in der Kirche.. ein blaues, ein – ganz – himmelblaues.. mit.. weißen Spitzen! ... Fein! Mamachen! ... Na ... aber auch alle, alle – haben – auf uns – gekuckt! ... Etwas ruhiger; nachdenklich. Ach, wie hübsch – is es da – Mamachen! ... Immer – so still! ... Aber – viel Fliegen! ... Nich wahr, Mamachen? ... Wenn es – recht heiß is ... Onkel zankt nich 'n – einziges Mal – mit Tante! ... Kein Schimpfwort! ... Und Anna und Otto – sind auch immer – so artig![380]

FRAU SELICKE. Liebes Herzchen! Du wirst ja ganz heiser!

LINCHEN. Weißte ... sie wollten – mich dabehalten! ... Sie wollten mich – gar nich – wieder fortlassen! ... Tante sagte: Ich sollte nu – ihre Tochter werden! ... Papa – soll sich's.. überlegen!.. Nachdenklich. Gut hätt ich's da! ... Nich, Mamachen? ... Sehr lebhaft, sich steigernd. Aber du – und Papa – sollen mich – dann immer – besuchen! ... Aber – ich ziehe nich hin, Mamachen! ... Nich? ... Ich ziehe nich hin! ... Ich bleibe – hier!

FRAU SELICKE. Uh! Dein Händchen brennt ja wie Feuer, mein liebes Puttchen! ... So! ... So! ... Nich wahr, mein Herzchen?

LINCHEN nach einer kleinen Pause. Ach, Mamachen! Der schöne, schöne Mondschein!

FRAU SELICKE. Ja?

LINCHEN versucht zu singen.

Wer hat die schönsten Schäfchen,

Die hat der goldne Mond ...


Sie bekommt einen Hustenanfall. Toni läßt ängstlich ihr Nähzeug sinken.


LINCHEN. Ach! ... aah! ... aah! ...

FRAU SELICKE. Mein armes Herzchen! Mein armes Herzchen!


Linchen liegt einen Augenblick still, von dem Anfall erschöpft.


LINCHEN. Ma-mach'n!

FRAU SELICKE. Hm?

LINCHEN. Ach! – Ich ... möchte.. aufstehn!

FRAU SELICKE. Aber Kind!

LINCHEN. Es – is – so – langweilig im Bette! Wirft sich unruhig herum.

FRAU SELICKE. Habe nur Geduld, meine Kleine! Morgen oder übermorgen wollen wir mal sehn! Dann kannst du wohl raus!

LINCHEN. Aber auch ganz gewiß![381]

FRAU SELICKE. Ja!

LINCHEN seufzt. Ich will auch – nie wieder unartig sein – Mamachen ... wenn ich wieder – gesund bin! ... Ich gehe dann – alle Wege! ...

FRAU SELICKE. Ja, ja, mein Liebchen! Aber nich wahr? Nun schläfst du auch wieder.

LINCHEN schläfrig, immer leiser. Ach ja.. ja..

FRAU SELICKE nach einer Pause. Sie schläft wieder! ... Ach, mein Fuß! Mein Fuß! ... Stöhnt auf.

ALBERT aus der Kammer. Mama! Das geht einem ja durch Mark und Bein!

FRAU SELICKE. Na wart nur! ... Du solltst mal erst die Schmerzen haben! ... O Gott! Was hat man nur vom Leben! ...

ALBERT aus der Kammer. Ach, nu faßt du das wieder so auf! ... So meint' ich's ja gar nich!


Toni ist zum Fenster getreten.


FRAU SELICKE. Hörst du denn immer noch nichts, Toni?

TONI. Nein!

FRAU SELICKE. Ach Gott, nein! So ein Mann! Nicht ein bißchen Rücksicht! ... Das ist ihm hier alles egal, alles egal! ... So ein alter Mann! ... Er sollte sich doch nu schämen! ... Nein, wahrhaftig! Ich hab auch nich 'n bißchen Liebe mehr zu ihm! Aber auch nich 'n bißchen! ... Für mich is er so gut wie tot! ... Ach ja! Ich kann wohl sagen: mir ist alles so gleichgültig! Wenn das arme Würmchen nich noch wär! ... Jahraus, jahrein dasselbe Elend! ... Ach, ich kann wohl sagen: ich habe mein Leben recht satt! ... Is gar kein Wunder, wenn man gegen alles abstumpft! ... Wie gut hätten wir's haben können! ... Wie leben andre Leute in unsrem Stande! Wenn man so nimmt! Mohrs! ... Der Mann is 'n einfacher Handwerker gewesen und hat jetzt sein schönes Haus! Und die Wirtschaft! Was haben die Leute für 'ne Wirtschaft! ... Na, un bei uns? ... Und der will[382] nun 'n gebildeter Mann sein! ... Nein, wie das bei uns noch werden soll? ... Und an allem bin ich schuld! ... Ich verzieh' die Kinder! Ich vernachlässige die Wirtschaft! Alles geht auf mich! ... Und da sollen die Kinder noch Respekt vor einem haben! ... Ach Gott, nu sitzt man wieder hier und zittert und bebt! ... Und wenn man nur nicht dabei so hinfällig wär! ...

WALTER steckt den Kopf durch die Kammertür. Mutterchen!

FRAU SELICKE fährt herum. Was! ...

WALTER. Mutterchen! Kommt er denn immer noch nich?!

FRAU SELICKE. Ach, du?! – Ich denke, du bist schon lange eingeschlafen? ... Biste denn nur nich gescheit, Junge?! ... Mach mal gleich, daß du wieder ins Bett kommst! Du willst dich wohl erkälten?! Was?!

WALTER. Ach, ich habe ja solche große Angst!

FRAU SELICKE. Nein, so was! ... Leg dich mal gleich hin!

WALTER schleicht sich wieder zurück.

FRAU SELICKE. Ei, du lieber Gott! Nein! ... In Schulden sitzt man bis über beide Ohren! ... Nichts kann man anschaffen! ... Kaum, daß man das liebe bißchen Brot hat! ... Nein, das kann euer Vater wirklich vor Gott nich verantworten! ... Un dabei macht er sich selber ganz kaputt! ... Seine Hände fangen schon ordentlich an zu zittern! Haste noch nich gemerkt?

TONI die währenddem wieder eifrig genäht hat, antwortet nicht.

FRAU SELICKE. Du armes Tier! Du wirst gewiß auch schön müde sein! ... Ach nein, so ein Leben! So ein Leben! ... Hm! Womöglich is 'm was passiert?! ... Er hat vielleicht Streit gehabt! Er is ja so unvernünftig, wie 'n kleines Kind! ... Äh! Ich sage auch! Das ganze Leben is ... Gähnt nervös, streichelt über Linchens Händchen. Mein armes Würmchen! Das arme, magre Händchen! ... Ach Gott, ja! Du sollst sehn, wir behalten sie nicht![383]

TONI. Ach, Mutterchen!


Toni tritt wieder ans Fenster.


FRAU SELICKE. Horch mal! ... Poltert's nich auf der Treppe?!

TONI. Ach, wohl nur die Katze!

FRAU SELICKE. Ach Gott, nein! Erhebt sich und geht schwerfällig auf das Fenster zu. Wunderhübsch draußen! ... Aber der Himmel bezieht sich wieder, wir bekommen andres Wetter! ... Ich spür's an meinem Fuß! ... Nein, noch nichts zu sehn! Ach ja! Geht wieder zurück und setzt sich. Ich bin todmüde! Wie zerschlagen!

TONI. Da kommt wer!

FRAU SELICKE. Ach Gott! Fährt in die Höhe.

TONI. Er ist es! ... Endlich!

FRAU SELICKE. Ach! – Ach! – Mein Herz! – Mein Herz! Die Angst drückt's mir ab!

WALTER aus der Kammer. Mutterchen! Kommt er?!

FRAU SELICKE. Still! Schlaf!

TONI. Er ist auf der Treppe! – Hinten! Sie ist auf Frau Selicke zugetreten.

FRAU SELICKE. Ich renne fort! ... Ach! Wohin?

TONI. Sei ruhig, Mutterchen!

FRAU SELICKE. Ach, meine Angst! Meine Angst! ... Paß auf! ... Es gibt 'n Unglück! Das arme Kind! ...

TONI stützt sie. Beruhige dich doch, Mutterchen! Er ist ja gar nicht so schlimm, wie er immer tut.

FRAU SELICKE. Ach, trotzdem! ... Meine Nerven sind ja so schwach! Alles nimmt mich so mit!

TONI. Der Vater ... Nein! 's is wahr.. hach!

FRAU SELICKE. Mich schwindelt! ... Mir.. is ... zum Umkomm'n! Stützt sich gegen Toni. Horch! ... Er kommt heut wieder hintenrum! Ach, mein Herz!.. Mein Herz!.. Fühl mal!

WALTER aus der Kammer. Mutterchen! Mutterchen! Es pumpert gegen die Küchentür!

FRAU SELICKE. Ach Gott, ach Gott! Is der schwer! ... Ruhig,[384] Walter! Sei still, mein Junge! ... Tu, als ob du schläfst!.. Toni, mach auf!

TONI. Ja! Geh so lang vorn raus, Mutterchen! Auf alle Fälle!


Toni ab in die Küche mit der Lampe. Frau Selicke steht einen Augenblick nach der Küche hin lauschend. Zittert. Preßt beide Hände aufs Herz. Geht dann auf die Flurtür zu. – Es poltert in der Küche. Schwere Schritte. Eine tiefe Baßstimme. Lustiges Lachen. – Frau Selicke verschwindet schnell im Flur. Die Küchentür wird aufgestoßen. Noch hinter der Szene die Stimme Selickes: »Na?.. Tönchen.. Tööönchen..«


SELICKE tritt in die Stube, welche in diesem Augenblicke nur vom Mondlicht und von dem Licht der Lampe, das aus der Küche in die Stube fällt, hell ist. Selicke: ein großer, breitschultriger Mann mit schwarzgrauem Vollbart. Schwarzer Sonntagsanzug unter dem offenstehenden Überrock. Er schleift einen kleinen Christbaum hinter sich her; aus den Taschen sieht Papier von Paketen und Tüten vor. Unter den Arm hat er eine große, weiße Tüte gequetscht. Er ist angetrunken. Taumelt aber nur sehr wenig und spricht alles deutlich, nur etwas langsam und schwerfällig. Sagt in sehr guter Laune. Na?! ... Habt ihr wieder kein Licht. Ihr Tausendsakramenter, ihr? ... He? ... Lacht fortwährend leise vor sich hin, nickt mit dem Kopf und macht ein pfiffiges Gesicht, als wenn er eine Überraschung vor hätte. Toni kommt ihm mit der Lampe nach. Setzt sie auf den Sofatisch. Huaach! ... Ne! Wird man – müde.. wenn man so auf dem Weihnachtsmarkt rumläuft? ... Lacht und blinzelt Toni zu, die am Sofatisch in seiner Nähe steht. ... 'n hübscher Baum – hbf! – hä? ... Holt man morgen früh gleich die – hb! – Hütsche vom Boden! – Da! Nimm ihn hin! – Gibt Toni den Baum; tut scherzhaft, als wenn er sie erschrecken wollte. Sie lächelt gezwungen und stellt den Baum beiseite. Er lacht,[385] wendet sich dann zum Tische und fängt an, seine Taschen auszupacken; singt dabei. »Nicht Roß, nicht Reisige ...« Sich unterbrechend. Wo sind denn ... die Jungens?

TONI. Sie schlafen schon!

SELICKE. Wie – hb! – Wie spät is denn – eigentlich?

TONI. Zwei.

SELICKE tut sehr erstaunt. Was – Kuckuck! Zwei?! – Hebt, indem er weiter auspackt, abermals an. »Nicht Roß, nicht Reisige.« Er nimmt aus einer Tüte zwei Pfannkuchen, geht damit auf die Kammer zu und ruft mit gedämpfter Stimme. He! Walter! – Walter! – Willste noch 'n Pfannkuchen? Bekommt zuerst keine Antwort. Na?!

WALTER in der Kammer, halb ängstlich. Ja!

SELICKE. Da! Fang! Wirft den Pfannkuchen nach Walters Bett hin und lacht. Na, Großer! Du auch? Albert antwortet nicht. Eh! Frißt 'n je doch! Da! Wirft auch ihm einen Pfannkuchen zu und geht dann vergnügt, leise vor sich bin pfeifend, zum Tisch zurück. Ja, ja! Die Jungens! Toni, die solange am Tisch gestanden, hat abwechselnd ihn beobachtet und zur Flurtür hingesehn. Er kramt wieder mit den Sachen. Holt das Portemonnaie vor, klappert mit dem Gelde. Legt ein Goldstück auf den Tisch. Hier! ... Da können wir beide ... morgen früh noch ... einiges einkaufen ... gehn! Die Jungens könn'n dann 'n ... Baum putzen ... und am Abend ... beschern wir! ... Na. Was machst denn für 'n Gesicht?!

TONI. Ich? ... Oh, gar nicht, Vaterchen!

SELICKE mißtrauisch. Äh! Red nich! ... Das heißt: Kommste wieder ... so spät, he? ... Ja, – ja! Mein Töchterchen!.. Dein Vater darf sich wohl nich mal 'n Töppchen gönn'n! ... Was?! ... Äh, geh weg! Du altes, dummes Fraunzimmer! ... Ja! Ich möcht mal sehn ... wenn euer Vater ... nicht wär! ... Weißte, mein Tochter? ... Mir geht viel im Kopfe rum! ... Ich sorge mich! – Euretwegen! ...[386] Ja, ja! Wenn ich dich so sehe! ... Wie sind andre Mädchen in deinem Alter! –


Die Flurtür öffnet sich ein wenig. Frau Selicke lauscht durch den Türspalt.


SELICKE. Du liegst dein'm Vater immer noch – auf 'm Halse! ... Ja, ja! ... Äh! Du! ... Geh weg! ... Ich mag dich nich mehr – sehn! ... Für sich, indem er seitwärts tritt und an seinem Rocke herumzerrt, um ihn auszuziehen. Äh! Is das – 'ne Hitze? ...

TONI versucht ihm beim Ausziehen des Rockes behilflich zu sein.

SELICKE brummt mißgelaunt vor sich hin. Mach, daß du wegkömmst! ... Ich – brauch dich nicht! Toni hilft ihm dennoch. Er streift etwas die Wand. Endlich hat sie mit zitternden Händen ihm den Überrock und dann auch den Rock abgestreift und beides an die Knagge neben der Korridortür gehängt. Selicke steht nun in Hemdärmeln da. Streicht sich über die Arme und schlägt sich dann, vor sich hin kichernd, mit der Faust auf seine breite, gewölbte Brust. Äh! ... Ja? Siehste? ... Dein Vater is noch 'n Kerl! ... Lacht. Was meinste, mein Tochter! ... Z-zerdrück'n könnt ich dich mit meinen Händen!.. Z-zerdrücken!.. Das wär am Ende auch – das beste! ... Mit dumpfer Stimme, sieht vor sich hin. Ich häng euch – alle auf! Alle!.. Und dann – schieß ich mich – tot! ... Toni wankt ein wenig zurück nach der Flurtür zu. – Selicke geht auf die Kammertür zu. Man hört Walter in der Kammer weinen. Na, was – haste denn, dummer Junge!


Mit schwerfälligen Schritten, ein wenig wankend, in die Kammer.

Toni öffnet die Flurtür halb. Frau Selicke steckt den Kopf ins Zimmer.


FRAU SELICKE. So 'n Kerl! So 'n Kerl!

TONI. Stille, Mutterchen! Stille!.. Um Gottes willen![387]

FRAU SELICKE. Das Kind, das arme Kind!

SELICKE in der Kammer. Komm, mein Sohn!.. Dein Vater hat dich lieb!.. Sehr, sehr lieb! ... Ja, ja, mein Junge! ... Er hat auch gesorgt, daß du was zu Weihnachten kriegst! ... Ja, wer sollte für dich sorgen, wenn dein Vater – nich wär! ... Na, weine doch nicht! ... Was – weinste denn? ... Was?! Äh! Sei nich so dumm! ... Dummer Junge!

FRAU SELICKE in derselben Stellung, etwas mehr im Zimmer, mit Toni nach der Kammer hinhorchend. Ach Gott, nun weckt er wieder die armen Kinder, der Kerl!

TONI ängstlich. Geh wieder zurück, Mutterchen! Um Gottes willen!

SELICKE in der Kammer. Ja, ich habe euch – hbf! – doch – lieb! ... Alle!.. Ja, ja? ... Na? Wo ist denn deine Mutter? – Hä?

FRAU SELICKE tritt etwas zurück. Ach Gott, ach Gott!

TONI. Geh wieder zurück, Mutterchen!

SELICKE in der Kammer, lustig. He! Alte! ... Wieder – fortgehumpelt! ... Na, humple, humple nur hin! ... Sucht ihre Stimme nachzumachen. ... »Ach, die – arme Frau!« ... »Was die – für 'n Mann hat!« ... »Äh! Die hat's mal schlecht!«

TONI drängt Frau Selicke zurück. Geh zur Türe, Mutterchen! Daß du solange raus kannst, bis er schläft!

FRAU SELICKE. Aber, das Kind! Das Kind! ... Ich kann doch nich ...

TONI. Laß nur! Ich will schon sehn! ... Drängt Frau Selicke sanft noch mehr zurück. Armes Mutterchen!

SELICKE in der Kammer. Die Alte ist schuld, daß dein Vater so spät nach Hause kommt, mein Sohn! ... Oh, das ist ein Unglück! Ein rechtes Unglück! ... Und der alte, große Schlingel da?.. Hui! hbf! ... Das – schnarche nur! Aus dir wird nichts, mein Sohn! Gar nichts! ... Huste nich! ... Dummer Junge!! ... Was?!! ... Du willst ... Frau Selicke schreit unterdrückt auf.[388]

SELICKE kommt aus der Kammer. Frau Selicke zurück, schließt die Tür. Äh! Da biste ja, mein süßes Weibchen! Geht auf die Flurtür zu. Unterwegs macht er aber halt. Hm? Mein P-Putt ... hbf! ... P – Puttchen? ... Das arme Kind! ... Das arme Kind! Er holt sich die Tüte vom Tisch und geht mit ihr auf das Bett zu. Walter lugt verstohlen um den Türpfosten. Man hört, daß jetzt auch Albert wach geworden ist. – Selicke bückt sich ein wenig über das Bett. – Leise. M-Mäuschen! ... Sch-läfste, mein armes Herzchen? ... Sst! ... Sie schläft, die – kleine Tochter!

TONI kommt ängstlich auf das Bett zu. Vater!

SELICKE. Ich habe dir – was mitgebracht? ... K-Kuchen, Kind? – K-Kuchen?

TONI. Vater! Sie wird ja wach!

SELICKE richtet sich auf. W.. Was willst du? Hä?

TONI. Sie ist ja so krank!

SELICKE ihr nachäffend. »Sie ist so krank!« ... Äh! Hab dich doch, alte Suse! – »Sie ist so krank!« ... »Piep, piep, piep!« ... »Ach, herrjemine!« ... Das arme Mädchen! Wie die sich vor ihrem Vater ängstigen muß! – Mach, daß du wegkommst! ... Mag dich nich sehn! Die letzten Worte zornig, bedrohend. Die Flurtür ist ein wenig aufgegangen. Frau Selicke schreit auf. Aah! ... Sieh mal!.. Da steckste, mein süßes Lamm? Lacht, taumelt an Toni vorbei auf die Flurtür zu. Draußen wird hastig die äußere Flurtür aufgerissen. Es poltert die Treppe hinunter. – Selicke öffnet die Tür. Na, so 'ne Komödie! ... Kuckt, wie die Alte rennen kann – Zeigt in das Entree. – ... mit ihrem schlimmen Fuße! ... Ne! ... Hähähä! ... Wie se humpeln kann!.. Hopp, hopp, hopp! ... Wie der Wind! ... Haste nich gesehn! ... Wie 'n Schnellöfer! ... Lacht, schüttelt dann aber plötzlich die Faust nach dem Flur, ruft unterdrückt. Du, altes T ... Du willst 'ne Mutter sein?! ... Ach, du! – Du! – Du! – Unglücklich hast du mich gemacht! Unglücklich! ... Kommt zurück; während[389] er an Toni vorbeikommt. Na, du? ... »Sie ist so krank!« Äh! Weg! ... Laß mich vorbei! Tappt wieder zum Bett und will sich drüber bücken.

TONI ihm nach. Vater! Laß jetzt das Kind! – Sie stößt ihn mit der Hand gegen die Schulter.

SELICKE richtet sich in die Höhe. Waaas?!! ... Waaas?!! Du – willst – dich – an deinem Vater – vergreifen?! Waaas?!! ... I, nu seht doch mal!


Kommt auf sie zu.

Toni ist zurückgetreten und lehnt an der Wand. Regungslos. Hände zusammengekrampft. Sie sieht ihm starr ins Gesicht. Ihre Lippen zucken. Die Tränen laufen ihr über die Backen.


TONI. Pfui! Schäm dich! ... Du bist betrunken!

SELICKE. I! Seht doch!.. Das liebe Töchterchen! ... Oh, du bist ja ein – reizendes Wesen! Kommt noch näher auf sie zu.

WALTER in der Kammer, ängstlich. Vaterchen! Liebes Vaterchen!

SELICKE sieht sich um. Bleibt wie verwirrt stehen. Na! Da – heult einer und da ... B-bin ich denn – der reine – Tyrann?! Geht von Toni weg. Hm! ... Brr! ... So 'n Sausoff! ... Geht zum Sofatisch, setzt sich davor nieder und legt den Kopf auf die Arme. Eine Weile ist es still. Toni beobachtet ihn und will Frau Selicke holen. Selicke scheint einzuschlafen ... Nach einer Weile richtet er aber den Kopf in die Höhe. So 'n Weib! ... So 'n Weib! Toni bleibt stehen. So geht man nun unter! ... Sie legt die Hände vors Gesicht. Bebt vor Schluchzen. »Ach, mein Fuß!« – »Ach, mein Fuß!« – Weiter weißte nichts! ... Immer ich – ich – ich! – Ich brauchte dich nicht zu heiraten! – 's war mein guter Wille! – Zu dumm war ich! Zu dumm! – Du alte ... Äh! Du! – »Wir sind so arm!« – »Wir haben kaum 's liebe Brot!« – »Nichts in die Wirtschaft!« – Wer ist denn schuld?! – Wie kannst du mir das sagen! – Verdien dir was, dann haste was! ... Ja! Fortrennen! Das kannste! – Den Leuten was vormachen![390] Ja! Du armseliges Weib! ... Äh! – Du bist ja – zu dumm! – Zu dumm! So ein – Unglück! – Oh! ... Ist eine Weile still. Toni will schon zur Flurtür. Fängt wieder an. »Wir müssen uns vor jedem schäm'n!« – Hä! Du! – Ich hatte mir das anders vorgestellt! – Ja, ja! – Eine Ehe ist mehr! – Äh, du! – Was weißt du, was eine Ehe ist! – Du! – Wie sind – andre Frauen! – Sieh sie dir mal an! – Aus – nichts muß 'ne Hausfrau was machen können! Aber alles: ich! – Alles der Mann! – Äh! Sieh zu, wie du uns durchschleppst! – Und die – Kinder! – Die armen, armen Kinder! – O Gott, was soll aus den'n werden! – Verzogen sind sie, die lieben Söhnchen! – Und du, Toni! – Du! – Du wirst akkurat wie deine Mutter! Ja, ja? ... Ich habe dich liebgehabt, aber du hast mich nicht liebgehabt! – Du bist niedrig! Niedrig! – Wir paßten nicht zusammen! – Was will man nun machen?! – Äh! – Schleppt man das so mit sich! – Äh! Immer hin! – Immer hin! – Hui! – Die armen Kinder! – Die armen Kinder! – Und du, mein liebes Mäuschen! – Seine Worte gehen in Weinen über. Mein armes, liebes Mäuschen!

TONI in höchstem Schmerz. O Gott, o Gott! Preßt die Hände vors Gesicht.

SELICKE zur Kammer hin. Ja, ja? – Du! Großer! – Nimm dir 'n Beispiel an deinem Vater! – So was ist ein Unglück! – Ein großes, großes Unglück! – Dein Vater war dumm, gut und dumm, mein Sohn! Aber nicht schlecht! – Er hat euch – alle lieb! – Alle! – Auch eure Mutter! – Sie kann's nur nicht verstehn! – Und das – ist unser Unglück! ...


Seine Worte gehen in ein dumpfes, undeutliches Murmeln über. Er schläft ein.

Vom Bett her das Rauschen von Kissen. Toni, die eben zur Flurtür wollte, schrickt zusammen.


LINCHEN ängstlich. Ma-mach'n.. Ma-mach'n! ... Aah! ... Aaaah! ...[391]

TONI schnell zum Bett. Mein liebes Herzchen! – Mama kommt gleich wieder!

LINCHEN. War – Papa – hier?

TONI. Ja! Er schläft schon!

LINCHEN. Hat er mir – was mitgebracht?

TONI. Ja, Liebchen. Beugt sich zärtlich zu ihr. Huh! Du fieberst ja, mein Herzchen! Das ganze Kissen ist heiß!

LINCHEN unruhig. Ach – nein! – Ich bin – wieder – ganz munter, Tönchen! – Ich kann – morgen – aufstehn! – 's is immer – so schönes Wetter! – Und ich – muß immer – im Bett liegen ...

TONI kann nicht antworten. Sie horcht. Selicke schnarcht.

LINCHEN. Ach, 's is man gut – daß – Papa da is! – Ich hatte schon – solche Angst! – Lächelnd. Horch mal – wie er schnarcht! – Wie ne Säge, was? Du – weinst ja, Tönchen?? ...

TONI. Ich?! Ach nein?

LINCHEN. Du! – Du! – Er is wohl wieder – betrunken??

TONI. O nein! Ich dachte gar, mein Liebchen!

LINCHEN. Will er auch – Mama – nicht schlagen?

TONI. Nein! I bewahre, mein Herzchen!

LINCHEN. Ach nein! – Das – tut er auch nicht! – Er macht immer – bloß so! – Nicht wahr?

TONI. Freilich! Aber, schlafe wieder ein, mein Linchen!

LINCHEN unruhig. Ach nein! – Ich kann gar nicht schlafen! – Ich bin ganz – munter, du! – Du! – Ist bald Morgen? – Kann ich bald – aufstehn, Tönchen?

TONI. Nein, Herzchen! Noch nicht!

LINCHEN. Ach! – Du! – Du!

TONI besorgt. Was – was ist dir denn, mein Herzchen?! Bückt sich zu ihr und fährt dann unwillkürlich wieder in die Höhe.

LINCHEN. Ach! – Nichts! ... Du! ...

TONI sie gespannt, ängstlich beobachtend. Ja?[392]

LINCHEN. Wo – is denn – Mamachen?

TONI mit bebender Stimme. Warte! Ich rufe sie!

LINCHEN hastig. Ja! – Ja! ... Toni will gehen. Du! – Tönchen! – Die L-Lampe – brennt ja – so trübe ...

TONI wendet sich erschrocken um. Aber – n ... nein – liebes Mäuschen?! ... Sie – ist ja – ganz hell ...? ... Steht da, wie erstarrt.

LINCHEN wie vorhin. Schraub – doch – hoch! ... Es wird ja – ganz – dunkel ...

TONI mit unterdrücktem Entsetzen. Kind! ...


Wird leichenblaß. Schraubt mit zitternden Fingern an der Lampe. Wendet sich dann mit wankenden Knien zur Flurtür und öffnet sie.

Vorsichtige Schritte.


FRAU SELICKE zur Tür herein. Ist er denn ...

LINCHEN ängstlich, bang, angestrengt. Ma-ma- chen ...

FRAU SELICKE aufhorchend. Ja? – Mein – Kind?!

TONI bebend. Mutter! – Komm! – Schnell! – Er schläft! – Komm! – Linchen ... ich weiß nicht ...

FRAU SELICKE unterdrückt. Wa ... Was?! ... Schnell zum Bette hin.

LINCHEN. Ma-ma-chen ... Ma-ma-chen ...

FRAU SELICKE. Kind??? Beugt sich forschend über das Bett. Starrt Linchen an.

LINCHEN. Das – Licht – geht – aus ... Das – Licht – geht – ja ... Ma-ma-chen ... Ach! liebes – Ma-ma- chen ...

FRAU SELICKE hastig, erregt vor sich hin flüsternd, während ihre Blicke wie gebannt auf Linchen haften. Toni! Toni! ...

TONI neben ihr. Unterdrückt. O Gott ...

FRAU SELICKE. Mein Liebchen! Mein süßes, süßes Liebchen!


Pause. Totenstille. Nur das leise Schnauben Selickes.


LINCHEN. Ach – liebes – Ma ... ...[393]

FRAU SELICKE. Sie ... Sie ... stirbt! Ach Gott ... Mein Herzchen! – Mein Herzchen! Schreit auf. Stürzt sich über das Bett.

TONI schnell zum Tisch. Mit jagender Stimme. Vater! – Vater!

ALBERT aus der Kammer. Was ist denn??!

WALTER weinend aus der Kammer. Vaterchen! ... Vaterchen! ...

FRAU SELICKE leise wimmernd. Sie ist tot! ... Sie ist tot! ...


Albert mit Walter schnell zum Bett.


WALTER UND ALBERT gleichzeitig. Mutterchen! – Mutterchen! ... Um Gottes willen!

TONI weinend. Vater!! – Vater!! Rüttelt Selicke.

SELICKE aufwachend. Äh! – Na! – Laß ... Na ... Hebt verdrießlich den Kopf. Will wieder zurücksinken.

TONI. Vater!! Ihn, außer sich, an den Schultern packend.

SELICKE. Na – ja doch! –. Was – gibt's denn ... Starrt um sich und reibt sich die Stirn.

TONI weint heraus. Linchen – ist tot ...

SELICKE starrt sie an. Erhebt sich. Was – Was ist mit – Linchen?!

TONI. Ach, sie ist – tot ... Schluchzt. Selicke wischt sich über die Stirn.

SELICKE. L-Linchen?!!


Zuckt zusammen und geht auf das Bett zu.

Toni wankt ihm schluchzend nach. – Selicke steht eine Weile stumm vor dem Bett, dann bricht er schwer, mit einem dumpfen Stöhnen, auf dem Stuhl zusammen. Die andern beobachten ihn stumm.


TONI sich auf ihn zustürzend und ihm die Arme um den Hals schlingend. Lieber Vater! – Mein lieber Vater ...[394]

Quelle:
Naturalismus_– Dramen. Lyrik. Prosa. Band 1: 1885–1891, Berlin und Weimar 1970, S. 372-395.
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