Die Unschuld

[104] Um der Gottheit Glanz

Hatten jauchzende Sonnen

Ihren Lauf begonnen,

Engel ihren Feyertanz;

Aus der Gottheit Glanz,

Engeln gleich, im Jubel gebohren,

Mischte sich, zur Führerinn erkoren,

Unschuld in den Tanz.


Dort, auf leichter Flur,

Im unsterblichen Lenze

Blühn der Unschuld Kränze,

Folgt der Seraph ihrer Spur;

Aber auf der Flur

Unterm Mond, im Schatten der Erde,

Wandelt sie mit kindlicher Geberde

Bey der Einfalt nur;
[105]

Will im Mayenlicht

Hier an irdischen Bächen

Volle Rosen brechen;

Und die Dornen kennt sie nicht.

Hier vom Mayenlicht

Aufgeweckt am täuschenden Morgen,

Lächelt sie herbey die nahen Sorgen –

Ach, und weiß es nicht!


Mit der Engels-Hand

Unsre Lämmer zu weiden,

Geht auf armen Heiden

Sie, von Wenigen gekannt;

Aber, auch verbannt,

Gibt sie noch, in niedriger Hülle,

Wonn' und Trost und Herrlichkeit die Fülle

Seelen, ihr verwandt.


Ach! sie selber flieht

Mit den kindlichen Scherzen;

Doch in keinem Herzen

Stirbt ihr holdes Wiegenlied:[106]

Wer den Säugling sieht

An die Brust der Mutter sich drücken,

O, der fühlt, daß ihn mit Himmelsblicken

Unschuld an sich zieht.


Wenn dein Warnen schon

Oft den Frevler empöret,

Unschuld! dennoch höret

Später er den ernsten Ton.

Jeder Erden-Sohn

Fleht zu dir am letzten der Tage,

Daß ihn nicht dein Auge dort verklage

Vor des Richters Thron.


Aus der Gottheit Glanz

Sind die Seelen gebohren,

Allesammt erkoren,

Dich zu sehn im Sternenkranz;

Um der Gottheit Glanz

Hält mit dir, dem schönsten der Engel,

Jeder Geist in Welten ohne Mängel

Seinen Feyertanz.

Quelle:
Johann Georg Jacobi: Sämmtliche Werke. Band 3, Zürich 1819, S. 104-107.
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