Zehntes Kapitel

[317] Der einsame Neujahrtag – der gelehrte Schalaster – hölzernes Bein der Appellation – Briefpost in der Stube – der elfte Februar und Geburttag 1786


Ich kann wahrhaftig meinem Helden zu keinem Neuen Jahres-Morgen Glück wünschen, worin er die verquollenen Augen in den heißen Augenhöhlen schwer nach der Morgenröte dreht und sich mit dem ausgepreßten, betäubten Gehirne wieder an das Kissen schmiegt. Einen Menschen, der selten weinet, fallen neben den moralischen Schmerzen allezeit solche körperliche an. Er blieb über die alte Stunde im Bette, um nachzudenken, was er getan habe, und was er tun müsse. Er erwachte viel kälter gegen Lenetten, als er eingeschlafen war. Wenn die gegenseitige Rührung[317] zwei Menschen nicht verknüpft, wenn die Glut des Enthusiasmus kein Bindmittel zwischen zwei Herzen wird: so mischen sie sich erkaltet und spröder noch minder zusammen. Es gibt einen mißlichen Zustand der unvollendeten, halben Versöhnung, worin die steilrechte Zunge der Juwelierwaage im Glaskästchen vor dem leichtesten Lüftchen einer andern Zunge überschlägt: ach heute senkte sich schon bei Firmian die Waage ein wenig, und bei Lenetten ganz. Er bereitete sich aber doch und fürchtete sich zugleich, einen Neujahrwunsch zu geben und zu beantworten. Er ermannte sich und trat mit dem alten herzhaften Schritt, als wäre gar nichts geschehen, ins Zimmer. Sie hatte, um ihn nicht zu rufen, lieber die Kaffeekanne zu einem Kühlfaß werden lassen und stand, mit dem Rücken gegen ihn, an der herausgezognen Kommodeschublade und zerrete – Herzen auseinander, um zu sehen, was hinter ihnen sei. Es waren nämlich gedruckte, in Verse gebrachte Neujahrwünsche, die sie aus der schönern Zeit in Augsburg von Freunden und Freundinnen herübergebracht hatte; der freundliche Wunsch wurde von einer Gruppe ausgeschnittener, in einer Spirallinie ineinander zurücklaufender Herzen bedeckt. Wie die Hl. Jungfrau mit wächsernen, so werden die andern Jungfrauen mit papiernen Assignatenherzen umhangen; denn bei diesen holden führt alle Glut und Freundschaft den Namen Herz, wie die Landkartenmacher den Umriß des heißen Afrika auch einem Herzen ähnlich finden. –

Firmian erriet leicht alle sehnsüchtige Seufzer, die in der Verarmten über so viele zertrümmerte Wünsche aufstiegen, und alle trübe Vergleichungen der jetzigen Zeit mit der lachenden, und was der Schmerz und die Vergangenheit einem weichen Herzen miteinander sagen: ach, wenn am Neujahrtag schon der Glückliche seufzet, so muß ja wohl der Unglückliche weinen dürfen? Er sagte seinen guten Morgen sanft und wollte nach einer sanften Antwort seine Wünsche an die gedruckten schließen. Aber Lenette, viel tiefer und öfter gestern verwundet als er, murrete ihm eine kalte, schnelle zurück. – – Nun konnt' er nichts wünschen; sie tat es auch nicht; und so unglücklich und so[318] hart drängten sie sich miteinander durch die Pforte eines neuen Jahrs.

Ich muß sagen, er hatte sich schon vor acht Wochen auf diesen Morgen gefreuet, auf die süße Zerfließung ihrer zwei Herzen, auf tausend heiße Wünsche, die er ihr vorstammeln wollte, auf ihr Aneinanderschließen und auf das trunkne Verstummen der Lippen an Lippen..... O wie war alles so anders, so kalt, so tödlich kalt! – Ich muß es irgendwo anders – wo ich mehr Papier dazu vor mir habe – ausführen, warum und wienach – denn dem Anschein nach ist gerade das Widerspiel zu vermuten – seine satirische Ader ein Gärmittel oder eine Wässerung für sein empfindsames Herz abgab, dessen er sich zugleich freuete und schämte. Am meisten half dazu der – Reichsflecken Kuhschnappel, auf den, wie auf noch einige deutsche Ortschaften, der empfindsame Tau, wie auf Metalle, nicht gefallen war, und worin die Leute sich mit verknöcherten Herzen versehen hatten, denen, wie erfrornen Gliedmaßen, oder wie Hexen voll Stigmen des Teufels, keine Wunde von Belang zu machen war. Unter solchen Kalten nun vergibt und sucht man übertriebene Wärme am ersten. Einer hingegen, der 1785 in Leipzig etc. wohnhaft war, wo die meisten Herzen und Schlagadern mit dem Tränen-Spiritus ausgesprützet waren, trieb leichter den witzigen Unwillen darüber zu weit; so wie die Köche in den nassen Jahrgängen mehr scharfe Gewürze an die wässerigen Gemüse reiben als in trocknen. – –

Lenette ging heute dreimal in die Kirche; es war aber ganz natürlich.... Beim Worte »dreimal« erschreck' ich nicht über die Kirchengänger, die dabei selig werden können, sondern über die armen Geistlichen, die an einem Tage so oft predigen müssen, daß es noch ein Glück ist, wenn sie dabei nichts werden als, statt heiser, verdammt. Ein Mensch, der das erstemal predigt, rührt gewiß niemand so sehr als sich selber und wird sein eigner Proselyt; aber wenn er die Moral zum millionenstenmal vorpredigt, so muß es ihm ergehen wie den egerischen Bauern, die den egerischen Brunnen alle Tage trinken, und die er daher nicht mehr purgiert, so viele sedes er auch Kurgästen macht.

Über dem Essen schwieg das traurige Ehepaar. Der Mann tat,[319] da er ihre Vorkehrungen zu einem Besuche in der Nachmittagkirche gesehen, in welcher sie seit einiger Zeit nicht gewesen, bloß die Frage, wer predige. »Wohl der Hr. Schulrat Stiefel«, sagte sie, »ob er gleich sonst nur vormittags die Kanzel besteigt, aber der Vesperprediger Schalaster kann nicht, Gott hat ihn gestraft, er hat sich das Schlüsselbein ausgerenkt.« Zu einer andern Zeit hätte Siebenkäs manches über das letzte gesprochen; aber hier schlug er bloß mit dem einen Zacken der Gabel an den Teller und fuhr mit dieser Spielwelle schnell an das eine Ohr, indes er das andere verschloß: der Trommelbaß des summenden Euphons zog seine gequälte Seele in die Wogen des Tons, und dieses brausende Schallbrett, dieser zitternde Klöppel tönte ihm am neuen Jahre gleichsam zu: »Vernimmst du nicht von weitem das Ausläuten der Messe deines kalten Lebens? Es ist die Frage, ob du am zweiten Neujahr noch hörest, ob du nicht schon liegest und auseinandergehst.« –

Er sah nach dem Essen zum Fenster hinaus, weniger nach der Gasse als nach dem Himmel. Da fand er eben zwei Nebensonnen und fast im Zenith einen halben Regenbogen, den wieder ein entfärbter durchschnitt98. Wunderlich fingen die Farbengestirne über sein Herz zu regieren an und machten es so wehmütig, als säh' er droben sein halbfarbiges, bleiches, zerstücktes Leben nachgespielt oder nachgespiegelt. Denn dem bewegten Menschen ist die Natur stets ein großer Spiegel voll Bewegungen; nur dem satten und ausruhenden ist sie bloß ein kaltes totes Fenster für das Äußere.

Als er nachmittags einsam in der Stube war, als der frohe Kirchengesang und der benachbarte frohe Kanarienvogelschlag gleichsam wie das Getöse und Poltern lebendig begrabener Jahre der Freude seine matte Seele überfiel – und als ein heller magischer Sonnenschein seine Stube durchschnitt, und als dünne Wolkenschatten über den lichten Ausschnitt der Diele wegglitten und das kranke, stöhnende Herz mit tausend traurigen Ähnlichkeiten fragten: ist nicht alles so? entfliehen nicht deine Tage, wie Dünste[320] durch einen kalten Himmel, über eine tote Erde und schwimmen hin in die Nacht: – – so mußt' er sein schwellendes Herz mit der sanften Schneide der Tonkunst öffnen, damit die nächsten und größten Tropfen des Schmerzens daraus flössen – er griff einen einzigen Dreiklang auf dem Klavier und griff ihn wieder und ließ ihn verwogen – wie die Wölkchen flogen, starben die Töne aus, der Wohllaut schwang sich träger, zitterte nach und wurde starr, und die Stille stand da wie ein Grab – Im Horchen stockte sein Atmen und sein Herz, eine Ohnmacht griff nach seiner Seele – und nun, und nun warf in dieser schwärmerischen kranken Stunde der Strom des Herzens – so wie Überschwemmungen Begrabne aus Kirchen und Gräbern spülen – einen jungen Toten aus der Zukunft, aus der irdenen Decke unverschleiert heraus: sein Leib war es; er war gestorben. Er schauete zum Fenster hinaus ins tröstende Licht und Getümmel des Lebens; aber es rief doch in ihm fort: »Täusche dich nicht, ehe die Neujahrwünsche wiederkommen, bist du schon von dannen gezogen.«

Wenn das schauernde Herz so entblättert ist und nackt da steht: so ist jedes Lüftchen ein kaltes. Wie warm und milde hätte Lenette seines berühren müssen, um es nicht zu erschrecken, wie Hellseherinnen Todesfrost in jeder Hand empfinden, die sie außerhalb des magnetischen Kreises anrührt! –

Er setzte sich heute vor, in der sogenannten Leichenlotterie einzutreten, damit er bei seinem Zug in die andere Welt doch das Abzuggeld entrichten könnte. Er sagte es ihr; aber sie nahm den Vorsatz für eine Anspielung auf das Trauerkleid. So neblig ging der erste Tag vorüber, und noch regnerischer die erste Woche. Es war das Einfaßgewächs und der Zaun um Lenettens Liebe gegen Stiefel ausgerissen, und diese Liebe stand frei da. An jedem Abend, wo sonst der Rat gekommen war, grub sich der Ärger und Kummer tiefer in ihr junges Angesicht, das allmählich zur durchbrochnen Arbeit des Schmerzens einfiel. Sie fragte nach den Tagen, wo er zu predigen hatte, um ihn zu hören, und trat bei jedem Leichenzuge ans Fenster, um ihn zu sehen. Die Buchbinderin war ihr korrespondierendes Mitglied, und aus ihr holte sie neue Entdeckungen über den Schulrat heraus[321] und repetierte mit ihr die ältesten. Wieviel Wärme mußte nicht der Rat durch seinen Fokalabstand gewinnen, und der Mann durch seine Erdnähe verlieren. So wie die Erde gerade die kleinste Wärme von der Sonne bekömmt, wenn sie ihr am nächsten ist, im Winter! – – Zu diesem allen kam noch ein ganz neuer Grund zu Lenettens Abneigung. Es hatte nämlich der Heimlicher v. Blaise unter der Hand von ihrem Manne bekannt gemacht, er sei ein Atheist, und kein Christ. Redliche alte Jungfern und Geistliche sind auf eine schöne Weise von rachsüchtigen Römern unter den Kaisern verschieden, die oft den unschuldigsten Menschen für einen Christen ausgaben, um ihm eine Märtererkrone zu flechten; besagte Jungfern und Geistliche nehmen vielmehr die Partei eines Menschen, der in solchem Verdachte ist, und leugnen es, daß er ein Christ ist. So unterscheiden sie sich sogar von den neuen Römern und Italienern, welche stets sagen: es sind vier Christen da, statt vier Menschen. Das tugendhafteste Mädchen bekam in St. Ferieux bei Besançon zum Preis einen Schleier zu 5 Livr.; und diesen schönen Preis der Tugend, nämlich einen moralischen Schleier von 6 Livr., werfen Menschen wie Blaise gern über gute Leute. Sie nennen daher gern Denker Ungläubige, und Heterodoxe Wölfe, deren Zähne glätten und zahnen helfen; so wird auch auf die besten Klingen ein Wolf eingezeichnet.

Als Siebenkäs seiner Frau zuerst die Blaisische Nachricht hinterbrachte, daß er kein Christ, wo nicht gar ein Unchrist sei: machte sie noch nichts Besonderes daraus, da sie sich dergleichen von einem Manne, mit welchem sie ehelich kopuliert worden, gar nicht denken konnte. Nur später fiel ihr wieder ein, daß er in dem Monate, als das Wetter zu lange trocken war, nicht bloß die katholischen Umgänge, auf welche sie selber nichts hielt, sondern auch die protestantischen Wettergebete dagegen ohne Hehl verworfen habe, indem er gefragt: ob die meilenlangen Prozessionen, sogenannte Karawanen, in der arabischen Wüste mit allen ihren Wettergebeten je eine einzige Wolke zustande gebracht; oder warum die Geistlichen nur gegen Nässe und Trockenheit und nicht auch gegen einen grimmigen Winter Umgänge,[322] die wenigstens für die Umgänger ihn mildern würden, veranstalteten, oder in Holland gegen Nebel, in Grönland gegen Nordscheine; auch wundere er sich am meisten, warum die Heidenbekehrer, die sich so oft mit solchem Erfolg die Sonne erbitten, wenn bloß die Wolken sie verdecken, nicht auch um den Sonnenkörper (was viel wichtiger wäre) anhalten, wenn er in Polarländern gar ganze Monate nicht einmal zum Vorschein komme bei hellem Himmel; oder warum wir, fragt' er endlich, gegen große für uns selten erfreuliche Sonnenfinsternisse nicht vorkehren, sondern hierin uns eigentlich von den Wilden übertreffen lassen, welche sie am Ende wegheulen und wegflehen. – Wie nehmen manche Worte, an sich anfangs unschuldig, ja süß, erst auf dem Lager der Zeit giftige Kräfte an, wie Zucker, der 30 Jahre in Magazinen gelegen99! Jene freien Worte griffen jetzo stark in Lenetten ein, wenn sie unter der aus lauter Aposteln gezimmerten Kanzel Stiefels saß und ihn ein Gebet nach dem andern verrichten hörte, bald für, bald wider Krankheit, Obrigkeit, Niederkunft, Saat u.s.w. Wie süß wurd' ihr nun auf der andern Seite der Pelzstiefel, und wie schön wurden dessen Predigten wahre Liebebriefe für ihr Herz! Und ohnehin steht ja Geistlichkeit in einem nahen Verhältnis mit dem weiblichen Herzen; daher bedeutet ursprünglich auf der deutschen Spielkarte das Herz die Geistlichkeit. –

Was tat und dachte nun Stanislaus Siebenkäs bei allem? Zweierlei, was sich widersprach. Hatt' er gerade ein hartes Wort gesagt: so bejammerte er die verlassene, ohnmächtige Seele, deren ganzes Rosenparterre der Freuden ausgehauen war, deren erste Liebe gegen den Schulrat im Jammer und Darben verschmachtete, und die tausend schöne Reize ihres verschlossenen Innern würde vor einem geliebten Herzen – denn seines war es nicht – entfaltet haben; »und seh' ich denn nicht«, sagte er sich weiter, »wie ihr die Nadel oder der Nadelkopf auf keine Weise ein solcher spitzer Wetterableiter ihrer schwülen Blitzwolken sein kann als mir die spitze Feder? Wegschreiben kann man sich viel, aber nicht wegnähen. Und wenn ich vollends bedenke, was[323] ich – die Sternkunde und die Seelenkunde nicht einmal zu rechnen – noch besonders an Kaiser Antoninus' ›Selbbetrachtungen‹ und an Arrianus' Epiktet, die beide sie nicht einmal dem Namen und Einbande nach kennt, für Schwimmkleider und Korkwesten in den höchsten Fluten habe, und was für Spritzenleute an ihnen, wenn ich in Zornfeuer gerate, wie vorhin, sie aber ihren Zorn allein abbrennt: wahrlich ich sollte noch zehnmal milder als wilder sein.« – Traf es sich freilich aber zweitens, daß er gerade harte Worte nicht ausgestoßen hatte, sondern erduldet: so malte er sich auf der einen Seite das starke Sehnen nach dem Schulrat vor, das sie leicht unter der kopflosen Näharbeit heimlich so sehr vergrößern konnte als sie nur wollte, und auf der andern die unablässige Nachgiebigkeit seines zu weichen Herzens, für welche sein Kraftfreund Leibgeber ohne weiteres ihn schelten würde, aber noch mehr die Frau wegen des Gegenteils; und welche sie schwerlich bei ihrem starren Stiefel anträfe, wenn aus dessen neulicher greller Aufkündigung des Kapitals der Liebe etwas zu schließen sei.

In dieser Laune tat er an einem Sonntage, wo sie wieder in die Vesperpredigt des Schulrats ging, mit zornschwerem Gemüt die leichte Frage, warum sie sonst so selten in die Abendpredigt gegangen, und nun so häufig. Sie versetzte: sie hab' es getan, weil der Vesperprediger Schalaster sonst gepredigt, für welchen seit der Ausrenkung des Schlüsselbeins der Schulrat die Kanzel besteige; werde aber das Bein wiederhergestellt, so solle sie Gott bewahren, in seine Andacht zu gehen. Nach und nach bracht' er heraus, daß sie den jungen Schalaster für einen falschen gefährlichen Irrlehrer halte, der von der heiligen Schrift Lutheri abweiche, weil er an Mascheh, an Jäsos Christos, Petros, Paulos glaube und alle Apostel bei ihm sich »ossen«, so daß sich alle christlichen Seelen ärgern, und das himmlische Jerusalem hab' er gar auf eine Art genannt, die sie nicht einmal nachsprechen könne; er habe nun seitdem sich am Schlüsselbeine einen Schaden getan, aber sie wolle nicht richten. – »Dies tu auch nicht, liebe Lenette«, sagte Siebenkäs; »der junge Mann hat eben entweder ein schwaches Gesicht, oder ist im griechischen Testament[324] schlecht bewandert, denn da sieht das u wie ein o aus. O, wie manche Schalaster sagen nicht in so verschiedenen Wissenschaften und Glaubenlehren Petros statt Petrus und bringen ohne Not und ohne Eckstein durch blutverwandte Selblauter die Menschen auseinander.«

Nur aber diesesmal brachte Schalaster sie ein wenig zusammen. Dem Armenadvokaten tat es wohl, daß er sich bisher geirrt, und daß Lenetten nicht bloß Liebe zu Stiefel, sondern auch Liebe für reine Religion in die Abendkirche hinein gesetzt. Schwach war freilich der Unterschied; aber in der Not nimmt man jeden Trost mit; Siebenkäs freute sich demnach heimlich, daß seine Frau den Schulrat nicht in dem hohen Grade liebe, als er gemeint. Sprecht hier nichts gegen das dünne Spinnengewebe, das uns und unser Glück trägt; haben wir es aus unserem Innern gesponnen und herausgezogen wie die Spinne ihres, so hält es uns auch ziemlich, und gleich dieser hangen wir sicher mitten darin, und der Sturmwind weht uns und das Gewebe unbeschädigt hin und her.

Von diesem Tage an ging Siebenkäs geradezu wieder zum einzigen Freund im Orte, zum Schulrat, dem er den kleinen Fehltritt schon längst – ich glaube eine halbe Stunde darnach von Herzen vergeben hatte. Er wußte, seine Erscheinung war ein Trost für den verwiesenen Evangelisten im Stuben-Patmos; und für die Frau war es auch einer. Ja er trug Grüße, die nie anbefohlen waren, zwischen beiden hin und her.

Abends waren bei Lenetten kleine hingeworfne Berichte vom Rat die grüne Saat, die das scharrende Rebhuhn unter dem tiefen Schnee aufkratzt. Ich versteck' es inzwischen nicht, mich dauert er und sie; und ich kann kein elender Parteigänger sein, der nicht zwei Personen, die einander mißverstehen und befehden, zugleich Anteil und Liebe geben kann. – –

Aus diesem grauen schwülen Himmel, dessen Elektrisiermaschinen alle Stunden luden und häuften, fiel endlich der erste grelle Donnerschlag herab: Firmian verlor seinen Prozeß. Der Heimlicher war das reibende Katzenfell und der stäupende Fuchsschwanz gewesen, der die Erbschaftkammer oder den[325] Pechkuchen der Justiz mit kleinen Taschenblitzen gefüllet hatte. Es wurde dem Advokaten aber von Rechts wegen der Verlust des Prozesses zuerkannt, weil der junge Notarius Giegold, mit dessen Notariatinstrumenten er sich bewaffnen wollen, noch nicht immatrikulieret war. Es kann wenig Menschen geben, die nicht wissen, daß in Sachsen nur ein Instrument gilt, das ein immatrikulierter Notar gemacht, und daß mithin die Beweiskraft eines Dokumentes in einem fremden Lande nicht stärker sein kann, als sie in dem war, worin man es fertigte. Firmian verlor zwar den Prozeß und für jetzt die Erbschaft; aber sie blieb ihm doch unter jedem Rechtstreite unversehrt dastehen. Nichts sichert wohl ein Vermögen besser vor Dieben und Klienten und Advokaten, als wenn es ein Depositum oder ein Streitgegenstand (objectum litis) geworden; niemand darf es mehr angreifen, weil die Summe in den Akten deutlich spezifizieret ist (es müßten denn die Akten selber noch eher als ihr Gegenstand abhanden kommen); so freuet sich der Hausvater, wenn der Kornwurm den Kornschober gänzlich übersponnen und weiß papillotieret hat, weil dann die übrigen Körner, die der Spinner nicht ausgekernet hat, vor allen andern Kornwürmern ganz gedecket sind. –

Niemals ist ein Prozeß leichter zu gewinnen, als wenn man ihn verloren hat; denn man appellieret. – Nach der Abtragung der in- und außergerichtlichen Kosten und nach der Ablösung der Akten bieten die Gesetze das beneficium appellationis (Wohltat der Berufung an einen höhern Richter) jedem an, wie wohl bei dieser Benefizkomödie und Rechtswohltat noch andere, außergerichtliche Wohltaten nötig sind, um von der gerichtlichen Gebrauch zu machen.

Siebenkäs durfte berufen – er konnte den Beweis seines Namens und seiner Mündelschaft recht gut mit einem andern, aber immatrikulierten Leipziger Notarius führen – es fehlte ihm nichts als das Werkzeug oder die Waffe des Streites, die zugleich der Gegenstand desselben war, kurz das Geld. – In den zehn Tagen, innerhalb welcher die Appellation wie ein Fötus reifen muß, ging er kränklich und sinnend umher: jeder dieser Dezimaltage[326] übte an ihm eine von den zehn Verfolgungen der ersten Christen aus und dezimierte seine frohen Stunden. Von seinem Leibgeber in Baireuth Geld zu begehren, war die Zeit zu kurz, und der Weg zu lang, da Leibgeber, nach seinem Schweigen zu schließen, vielleicht mit dem Springstab und Stegeisen seiner Silhouettenschere über mehrere Berge weggesprungen war. – Firmian tat auf alles Verzicht und ging zum alten Freund Stiefel, um sich zu trösten und alles zu erzählen: dieser ergrimmte über den sumpfigen, bodenlosen Weg Rechtens und drang dem Advokaten eine Stelze darin auf, nämlich die Gelder zum Appellieren. Ach, es war dem unbefriedigten, schmachtenden Rate so viel, als fassete er Lenettens geliebte, ziehende Hand, und sein redliches, an lauter eiskalten Tagen angerinnendes Blut fing wieder aufgetauet zu laufen an. Es war keine Täuschung des Ehrgefühls, daß Firmian, der lieber hungerte als borgte, gleichwohl von ihm jeden Taler als ein Steinchen annahm, um es in den morastigen Weg Rechtens zu pflastern und so unbesudelt darüber zu kommen. Aber die Hauptsache war sein Gedanke, er sterbe bald, und dann bleibe doch seiner hülflosen Witwe der Genuß der kleinen Erbschaft nach.

Er appellierte an die erste Appellationkammer und bestellte sich in Leipzig bei einer andern Notariats-Schmiedeesse ein neues Instrument, beim Zeugen-Beichtiger Lobstein.

Diese neuen, vom Glück erhaltenen Realterritionen und Nägelmale auf der einen, und diese Güte und diese Renten des Rates auf der andern Seite häuften neuen Sauerstoff in Lenetten an; aber der Essig ihres Unwillens wurde, wie anderer, durch ein Frostwetter verdichtet, davon ich sogleich die Wetterbeobachtungen mitteilen kann.

Lenette war nämlich seit dem Zanke mit Stiefeln den ganzen Tag stumm; bloß bei Fremden genas sie von ihrer Zungenlähmung. Es muß geschickt physisch erkläret werden, warum eine Frau oft nicht sprechen kann, außer mit Fremden; und man muß die entgegengesetzte Ursache von der entgegengesetzten Erscheinung aufspüren, daß eine Somnambüle nur mit dem Magnetiseur und seinen Bundgenossen redet. Auf St. Hilda husten alle[327] Menschen, wenn ein fremder aussteigt; Husten ist aber, wenn nicht Sprechen selber, doch das vorhergehende Schnarren des Räderwerks in der Sprachmaschine. Diese periodische Stummheit, die vielleicht, wie oft die immerwährende, von der Zurücktreibung der Hautausschläge herkommt, ist den Ärzten etwas Altes: Wepfer100 erzählt von einer schlagflüssigen Frau, daß sie nichts mehr sagen konnte als das Vaterunser und den Glauben; und in den Ehen sind Stummheiten häufig, worin die Frau nichts zum Manne sagen kann als das Allernötigste. Ein Wittenberger Fieberkranker101 konnte den ganzen Tag nicht sprechen, außer von 12 bis 1 Uhr, und so findet man genug arme weibliche Stumme, die des Tags nur eine Viertelstunde oder nur abends ein Wort hervorzubringen imstande sind und sich übrigens mit dem Stummenglöckchen behelfen, wozu sie Schlüssel, Teller und Türen nehmen. –

Diese Stummheit verhärtete endlich den armen Advokaten so sehr, daß er sie auch bekam. Er ahmte die Frau, wie ein Vater die Kinder, nach, um sie zu bessern. Sein satirischer Humor sah oft der satirischen Bosheit ähnlich; aber er hatte ihn nur, um sich gelassen und kalt zu erhalten. Wenn Kammerzofen ihn unter seiner schriftstellerischen Siederei und Brauerei gänzlich dadurch störten, daß sie mit Beihülfe Lenettens seine Stube zu einer Heroldkanzlei und Rednerbühne erhoben: so zog er wenigstens seine Frau vom Rednerstuhl herab, indem er – das hatt' er vorher mit ihr ausgemacht- dreimal mit dem vergoldeten Vogelzepter auf sein Schreibpult schlug – so nimmt ein Zepter leicht der Schwester Rednerin die Preßfreiheit. – Ja er war imstande, wenn er oft vor diesen aufgezognen redenden Cicerosköpfen saß, ohne einen Gedanken oder eine Zeile herauszubringen, und wenn er weniger seinen eignen Schaden als den andern so unzählig vieler Menschen vom höchsten Verstand und Stand beherzigte, die durch diese Sprechkundigen um tausend Ideen kamen, er war dann imstande, sag' ich, einen entsetzlichen Schlag mit dem Zepter, mit dem Lineal auf den Tisch zu tun, wie man auf einen Teich appliziert[328] um das Quaken der Frösche zu stillen. Besonders kränkte ihn der Raub am meisten, der an der Nachwelt begangen wurde, wenn durch solches verfliegendes Geschwätz sein Buch geringhaltiger auf sie gelangte. Es ist schön, daß alle Schriftsteller, sogar die, welche die Unsterblichkeit ihrer Seele leugnen, doch die ihres Namens selten anzufechten wagen; und wie Cicero versicherte, er würde ein zweites Leben glauben, sogar wenn es keines gäbe: so wollen sie im Glauben an das zweite ewige Leben ihres Namens bleiben, täten auch die Rezensenten das Gegenteil entschieden dar.

Siebenkäs macht' es jetzo seiner Frau bekannt, daß er nichts mehr sprechen werde, nicht einmal vom Notwendigsten: und das bloß deshalb, um nicht durch lange zornige Reden über Reden, Waschen etc. sich im Schreiben zu stören und zu erkalten oder gegen sie sich zu erhitzen. Dieselbe gleichgültige Sache kann in zehn verschiedenen Tönen und Mißtönen gesagt werden; um also der Frau die Unwissenheit und Neugierde des Tons, womit etwas gesagt werden konnte, zu lassen, sagt' er ihr, er werde nun nicht anders mit ihr sprechen als schriftlich.

Ich bin schon hier mit der besten Erörterung bei der Hand.

Der ernstschwere, bedachtsame Buchbinder ärgerte sich nämlich das ganze Kirchenjahr über niemand so sehr als über seinen Schliffel, wie er sich ausdrückte, über seinen luftigen Sohn, der die besten Bücher besser las als band, der sie schief und schmal beschnitt, und der dadurch, daß er die Buchbinderpresse zu einer Buchdruckerpresse einschraubte, das nasse Werk zugleich verdoppelte und verdünnte. Dies konnte nun der Vater nicht ansehen: er erboste sich so, daß er zu dem Teufels-Reichs-Kinde kein Wort mehr sagen wollte. Seine Prachtgesetze und güldnen Regeln, die er dem Sohne über Einbände zuzufertigen hatte, diese gab er seiner Frau als Reichspostreiterin mit, die (mit der Nadel als Botenspieß) aus der fernsten Ecke aufstand und die Befehle dem Sohne, der nicht weit vom Vater planierte, überbrachte. Dem Sohn, der seine Antworten und Fragen wieder der Eilbotenfrau miteinhändigte, war ganz wohl bei der Sache zu Mute: der Vater konnte weniger keifen. Dieser bekam es weg[329] und wollte nichts mehr mündlich verhandeln. Er suchte zwar seine Empfindung gegen den Sohn durch Mienenspiele auszudrücken und beschoß, wie ein Verliebter, diesen, der ihm gegenüber saß, mit warmen Blicken; aber ein Auge voll Blicke ist, ob wir gleich nicht bloß Gaumen-, Zahn- und Zungen-, sondern auch Augenbuchstaben haben, immer ein verwirrter Schriftkasten voll Perlschrift. Allein da zum Glücke die Schrift- und Posterfindung einem Menschen, der auf einer nördlichen Eisscholle den Nordpol umfährt, Mittel an die Hand gibt, mit einem, der auf einem Palmbaum unter Papageien in der heißen Zone sitzt, zu kommunizieren: so fanden hier Vater und Sohn, wenn sie, voneinander getrennt, sich am Arbeittisch gegenüber saßen, in der Erfindung des Schreib- und Postwesens Mittel, sich ihre Entfernung durch einen Briefwechsel, worein sie sich miteinander über den Tisch weg einließen, zu versüßen und zu erleichtern; die wichtigsten Geschäftbriefe wurden unversiegelt, aber sicher – da zwei Finger bei dieser Pennypost das Felleisen und Postschiff waren – hin- und hergeschoben: der Brief- und Kurierwechsel ging auf so glatten Wegen und bei so guter poste aux ânes zwischen beiden stummen Mächten häufig und ungehindert, und der Vater konnte bei so freier Mitteilung leicht in einer Minute auf die wichtigsten Berichte schon Antwort haben von seinem Korrespondenten; ja sie waren so wenig getrennt, als wohnten sie Haus bei Haus aneinander. Sollte ein Reisender etwan noch vor mir nach Kuhschnappel kommen: so bitt' ich ihn, die zwei Tisch-Ecken, wovon das eine das Intelligenzkontor des andern war, sich abzusägen und die beiden Büros einzustecken und in irgendeiner großen Stadt und Gesellschaft den Neugierigen vorzuzeigen, oder mir in Hof. – –

Siebenkäs tats halb nach. Er schnitt kleine Dekretalbriefe zurecht und voraus für die nötigsten Fälle. Tat Lenette eine unvorhergesehene Frage an ihn, worauf seine Brieftasche noch keine Antwort enthielt, so schrieb er drei Zeilen und langte das Reskript über den Tisch hin. Allerhöchste Handbillets oder Ratsverordnungen, die täglich wiederholt werden mußten, ließ er sich abends durch ein stehendes Requisitorialschreiben zur Ersparung[330] des Briefpapiers wiedergeben, um den andern Tag den schriftlichen Bescheid nicht von neuem zu schreiben: er langte das Abschnitzel bloß hin. Was sagte aber Lenette dazu? –

Ich werde besser antworten, wenn ich vorher nachfolgendes erzähle: ein einzigesmal sprach er in dieser Stummenanstalt, als er aus einer irdenen Schüssel, in der außer eingebranntem Blumenwerk auch poetisches war, Krautsalat speisete. Er hob mit der Gabel den Salat weg, der das kleine Rand-Karmen überdeckte, das hieß: Fried' ernährt, Unfried' verzehrt. Sooft er eine Gabel voll weghob, so konnt' er einen oder etliche Füße dieses didaktischen Gedichtes weiter lesen, und er tats laut. – »Was sagte nun Lenette dazu?« – fragten wir oben; kein Wort, sag' ich, sie ließ durch sein Schweigen und Zürnen sich ihres nicht nehmen, denn er schien ihr zuletzt zur Bosheit sich zu verstocken und da wollte sie auch nicht weit zurückbleiben. – In der Tat ging er täglich weiter und schob ganz neue zerbrochne Gesetztäfelchen über seinen Tisch bis zur Ecke oder trug sie auf ihren. Ich nenne nicht alle, sondern nur einige, z.B. das Kartaunenpapierchen des Inhalts (denn er erfand sich zu Liebe immer neue Überschriften): »Stopfe der langen Näh- Bestie den überlaufenden Mund, die da sieht, daß ich schreibe, oder ich fasse sie bei der Kehle, womit sie mir so zusetzt« – das Amtblättchen: »Wasche mir ein wenig unreines Wasser ab, ich will meine Waschbärpfoten von Dinte rein machen«. – Das Hirtenbriefchen: »Ich wünsche jetzo wohl in einer oder der andern Ruhe den Epiktet über das Ertragen aller Menschen flüchtig durchzugehen; stör mich folglich nicht« – Der Nadelbrief: »Ich sitze eben über einer der schwersten und bittersten Satiren gegen die Weiber102; führe die schreiende Buchbinderin hinunter zur Friseurin und sprecht da zusammen aufgeweckt« – Marter-Bank-Zettel, auch Marter-Bank-Folium: »Ich habe heute vormittags vieles mögliche ausgehalten und habe mich durchgerungen durch Besen und Flederwische und durch Haubenköpfe[331] und durch Zungenköpfe: könnt' ich nicht so etwa gegen Abend die hier vorliegenden peinlichen Akten ein Stündchen lang ungepeinigt und friedlich zur Einsicht durchlaufen?« – – Es wird mich niemand bereden, daß er diesen Besuchkarten, die er bei ihr abgab, ihr Stechendes und Nadelbriefliches sehr dadurch benahm, daß er zuweilen Schrift in Sprache umsetzte, und wenn andere da waren, mit diesen über Ähnliches mündlich scherzte. So sagte er einmal zum Haarkräusler Merbitzer in Lenettens Gegenwart: »Monsieur Merbitzer, es ist unglaublich, was mein Haushalten jährlich frißt; meine Frau, wie sie da steht allein verzehrt jedes Jahr zehn Zentner Nahrung und – (als sie und der Friseur die Hände über dem Kopfe zusammenschlugen) ich desfalls.« Freilich wies er Merbitzern in Schlözern gedruckt auf, daß jeder Mensch jährlich so viel Nahrung verbrauche; aber wer hielt es in der Stube für möglich?

Grollen oder Schmollen ist eine geistige Starrsucht, worin, wie in der körperlichen, jedes Glied in der steifen Haltung verharrt, wo es der Anfall ergriff, und die geistige hat auch dies mit der leiblichen gemein, daß sie öfter Weiber als Männer befällt103. Nach allem diesem konnte Siebenkäs gerade durch den scheinbar-boshaften Scherz, womit er sich selber bloß gelaßner erhalten wollte, nur das Erstarren der Gattin verdoppeln; und doch wäre manches hingegangen, hätte sie nur in jeder Woche einmal den Pelzstiefel gesehen, und hätten nicht die Nahrungsorgen, die alles Zinngeschirr der Vogelstange aufzehrten und einschmelzten, in ihrem unglücklichen Herzen gleichsam den letzten frohen warmen Bluttropfen zersetzt und aufgetrocknet! – Die Leidtragende! Aber so gabs keine Hülfe für sie – und für den, den sie verkannte! –


Armut ist die einzige Last, die schwerer wird, je mehre Geliebte daran tragen. Firmian, wenn er allein gewesen wäre, hätte auf diese Lücken und Löcher unserer Lebenstraße kaum hingesehen, da das Schicksal schon alle 30 Schritte ein Häufchen Steine zum Ausfüllen der Löcher hingestellt. Und in dem größten[332] Sturm stand ihm immer außer der herrlichsten Philosophie noch ein Seehafen oder eine Täucherglocke offen, seine – Dutzenduhr, nämlich deren Kaufschilling. Aber die Frau – und ihre Trauermusiken und Kyrie Eleison – und 1000 andere Dinge und Leibgebers unbegreifliches Verstummen – und sein wachsendes Erkranken, alles das machte aus seiner Lebenluft durch so viele Verunreinigungen einen schwülen entnervenden Schirokkowind, der im Menschen einen trocknen, heißen, kranken Durst entzündet, gegen den er oft das, was der Soldat gegen den physischen zum Löschen und Kühlen in den Mund legt, in die Brust nimmt, kaltes Blei und Schießpulver. – –

Am 11ten Februar suchte sich Firmian zu helfen.

Am 11ten Februar, am Euphrosynenstag, 1767 war Lenette geboren.

Sie hatt' es ihm oft, und ihren Nähkunden noch öfter gesagt; aber es wär' ihm doch entfallen ohne den Generalsuperintendenten Ziehen, der ein Buch drucken ließ und ihn darin an den eilften erinnerte. Der Superintendent hatte nämlich vorausgesagt, daß an diesem 11ten Hornung 1786 ein Stück vom südlichen Deutschland sich durch das Erdbeben wie Lagerkorn in die Unterwelt senken werde. Mithin würden am herabgelassenen Sargseil oder an der herabgelassenen Fallbrücke des sinkenden Bodens die Kuhschnappler in ganzen Körperschaften in die Hölle gefahren sein, in der sie vorher als einzelne Abgesandte ankamen; es wurde aber aus allem nichts.

Am Tage vor dem Erdbeben und vor Lenettens Geburt ging Firmian nachmittags auf die Hebemaschine und das Schwungbrett seiner Seele, auf die alte Anhöhe, wo sein Heinrich ihn verlassen hatte. Sein Freund und seine Frau standen in bewölkten Bildern um seine Seele, er dachte daran, daß von Heinrichs Abschied bis jetzt ebenso viele Hauptspaltungen in seiner Ehe vorgefallen waren, als deren Moreri in der Kirche von den Aposteln bis zu Luthern aufzählt, nämlich 124. Harmlose, stille, frohe Arbeiter bahnten dem Frühling den Weg. Er war vor Gärten vorbeigegangen, deren Bäume man vom Moos und Herbstlaube entledigte, vor Bienen- und Weinstöcken, die man versetzte und[333] ausreinigte, und vor den Abschnitzeln der Weiden. Die Sonne glänzte warm über die knospenvolle Gegend. Plötzlich war ihm und Menschen von Phantasie begegnet es oft, und sie werden daher leichter schwärmerisch – als wohne sein Leben, statt in einem festen Herzen, in einer warmen, weichen Zähre, und sein beschwerter Geist dränge sich schwellend durch eine Kerker-Fuge hinaus und zerlaufe zu einem Tone, zu einer blauen Ätherwelle: »Ich will ihr an ihrem Geburttage vergeben (rief sein ganzes zergangenes Ich) – ich habe ihr wohl bisher zuviel getan.« Er beschloß, den Schulrat wieder ins Haus zu führen und den grillierten Kattun vorher und ihr mit beiden und mit einem neuen Nähkissen ein Geburttagangebinde zu machen. Er fassete seine Uhrkette an, und an ihr zog er das Mittel, den Elias- und Fausts-Mantel heraus, der ihn über alle Übel tragen konnte, nämlich wenn er den Mantel verkaufte. Er ging voll lauter Sonnenlicht in allen Ecken des Herzens nach Hause und gab der Uhr einen künstlichen Stillestand und sagte zu Lenetten, sie müsse zum Uhrmacher zur Reparatur. Sie war in der Tat bisher wie die obern Planeten am Anfange ihres Uhr-Tages rechtläufig, dann stehend, dann rückläufig gewesen. Er verdeckte ihr damit seine Projekte. Er trug sie selber auf einen Handelplatz, schlug sie los – so gewiß er wußte, er könne ohne ihr Pickern auf seinem Schreibtische nicht recht schreiben; wie nach Locke ein Edelmann nur in einem Zimmer tanzen konnte, worin ein alter Kasten stand –; und abends wurde das ausgelösete grillierte Bluthemd und Säetuch des Unkrauts ungesehen ins Haus geschafft. Firmian ging noch abends zum Schulrat und verkündigte ihm mit der neuen Wärme seines beredten Herzens alles, seinen Entschluß – den Geburttag – die Wiederkehr des Kattuns – die Bitte um einen Besuch – ein nahes Sterben und seine Ergebung in alles. Dem kranken Rat, den Abwesenheit oder Liebe, wie der Kalk die Schattenpartien der Freskobilder, bleicher genaget hatte, diesem wurde warmer Lebens-Odem eingehaucht, daß morgen wieder die lang entbehrte Stimme (Lenette hörte doch seine in der Kirche) den ganzen Saitenbezug seines Ich bewegen sollte.

Ich muß hier eine Verteidigung und eine Anklage einschichten.[334] Jene geht meinen Helden an, der seinen Adelbrief der Ehre fast durch die Bitte an Stiefeln zu zerknüllen scheint; aber er will damit seiner gekränkten Gattin einen großen Gefallen tun, und sich einen kleinen. Es hälts nämlich der stärkste, wildeste Mann gegen das ewige weibliche Zürnen und Untergraben in die Länge nicht aus; um nur Ruhe und Frieden zu haben, lässet ein solcher, der vor der Ehe tausend Schwüre tat, er wollte darin seinen Willen durchsetzen, am Ende gern der Herrin ihren. Das übrige in Firmians Betragen brauch' ich nicht zu verteidigen, weils nicht möglich ist, sondern nur nötig. – Die Anklage, die ich verhieß, betrifft meine Mitarbeiter: darum nämlich, daß sie in ihren Romanen so weit von dieser Lebensbeschreibung oder von der Natur abweichen und die Trennungen und Vereinigungen der Menschen in so kurzen Zeiten möglich und wirklich machen, daß man mit einer Tertienuhr dabeistehen und es nachzählen kann. Aber ein Mensch reißet nicht auf einmal von einem teuern Menschen ab, sondern die Risse wechseln mit kleinen Bast- und Blumenankettungen, bis sich der lange Tausch zwischen Suchen und Fliehen mit gänzlicher Entfernung schließet, und erst so werden wir arme Menschen – am ärmsten. Mit dem Vereinen der Seelen ists im ganzen ebenso. Wo auch zuweilen gleichsam ein unsichtbarer, unendlicher Arm uns plötzlich einem neuen Herzen entgegendrückt: da hatten wir doch dieses Herz schon lange unter den Heiligenbildern unserer Sehnsucht vertraulich gekannt und das Bild oft verhangen, und oft aufgedeckt und angebetet. Unserem Firmian wurd' es später abends wieder im einsamen Sorgestuhl unmöglich, mit aller seiner Liebe bis auf morgen zu warten: die Einsperrung selber machte sie immer wärmer, und als ihn seine alte Besorgnis, er sterbe noch vor der Tag- und Nachtgleiche am Schlage, befiel, erschrak er ungewöhnlich – nicht über den Tod, sondern über Lenettens Verlegenheit, wie sie für diese letzte Probe des Menschen, für die Ankerprobe104, die Stolgebühren erschwinge. Er hatte gerade Geld im Überfluß unter den Fingern; er sprang auf und lief noch nachts zum Vorstehen[335] der Leichenlotterie, damit doch seine Frau bei seinem Tod 50 fl. erbte als Eingebrachtes, um damit seinen körperlichen Senkreiser hübsch mit Erde zu überlegen. Es ist mir nicht bewußt, wieviel er zahlte; ich bin aber dieser Verlegenheit schon gewohnt, die ein Romanschreiber, der jede beliebige Summe erdichten kann, gar nicht kennt, die aber einen wahrhaften Lebenbeschreiber ungemein belastet und aufhält, weil ein solcher Mann nichts hinschreiben darf, als was er mit Instrumenten und Briefgewölben befestigen kann.

Morgens am 11. Febr. oder am Sonnabend trat Firmian weich in die Stube, weil uns jede Erkrankung und Entkräftung, z.B. durch Blutverlust und Schmerzen, erweicht, und noch weicher, weil er einem sanften Tag' entgegenging. Man liebt viel stärker, wenn man eine Freude zu machen vorhat, als eine Stunde darauf, wenn man sie gemacht hat. Es war an diesem Morgen so windig, als hielten die Stürme ein Ringrennen und Ritterturnier, oder als verschickte der Äolus seine Winde aus Windbüchsen: viele dachten daher, entweder das Erdbeben hebe schon an, oder einer und der andere habe sich aus Furcht davor erhenkt. – Firmian traf in Lenettens Angesicht zwei Augen an, aus denen schon in dieser Frühe der warme Blutregen der Tränen auf den ersten Tag gefallen war. Sie hatte seine Liebe und seine Entschlüsse nicht im geringsten erraten, sie hatte gar nicht daran gedacht, sondern nur an folgendes: »Ach! seit meine Eltern verwesen, fraget niemand mehr nach dem Tage meiner Geburt.« Ihm schien es, als habe sie etwas im Sinne. Sie blickte ihm einigemal ausforschend ins Auge und schien etwas vorzuhaben; er verschob also die Ergießung seiner vollen Brust und die Entschleierung der kleinen Doppelgabe. Endlich trat sie langsam und errötend zu ihm und suchte verwirrt seine Hand in ihre zu bringen und sagte mit niedergeschlagnen Augen, in denen noch keine ganze Träne war: »Wir wollen uns heute versöhnen. Wenn du mir etwas zu Leide getan hast, so will ich dir von Herzen vergeben, und tu mir auch dergleichen.« Diese Anrede zerriß sein warmes Herz, und er konnte anfangs nur stocken und sie an den beklommenen Busen reißen und spät endlich sagen: »Vergib du nur – ach ich liebe dich doch[336] mehr als du mich!« Und hier quollen, von tausend Erinnerungen der vorigen Tage gepresset, schwere heiße Tropfen aus dem vollen tiefen Herzen, wie tiefe Ströme träger ziehen. Verwundert blickte sie ihn an und sagte: »Wir söhnen uns also heute aus und mein Geburttag ist heute auch, aber ich habe einen sehr betrübten Geburttag.« Jetzo erst hörte seine Vergessenheit des Angebindes auf, das er bringen wollte – er lief weg und brachte es, nämlich das Nähkissen, den Kattun und die Nachricht, daß Stiefel abends komme. Nun erst fing sie an zu weinen und fragte: »Ach, das hast du schon gestern getan? und meinen Geburttag gewußt? – Recht von ganzem Herzen dank' ich dir, besonders für das schöne – Nähkissen. Ich dachte nicht, daß du an meinen schlechten Geburttag denken würdest.« – Seine männlich-schöne Seele, die nicht, wie eine weibliche, ihren Enthusiasmus bewacht, sagt' ihr alles heraus und seinen Eintritt in die Leichenlotterie, den er gestern getan, damit sie ihn wohlfeiler unter die Erde brächte. Ihre Rührung wurde so groß und sichtbar wie seine. »Nein, nein«, sagte sie endlich, »Gott wird dich behüten – aber den heutigen Tag, wenn wir den nur überleben. Was sagt denn der Hr. Rat zum Erdbeben?« – »Das lasse gut sein – daß keines kommt, sagt' er«, sagte Firmian.

Er ließ sie ungern los vom erwärmten Herzen. Solang er nicht im Freien ging – denn Schreiben war ihm unmöglich –, schauete er ihr unaufhörlich ins helle Angesicht, aus dem sich alle Wolken verzogen. Er brauchte einen alten Kunstgriff gegen sich – den ich ihm abgelernt –, daß er, um einem guten Menschen recht sehr gut zu sein und alles zu vergeben, ihm lange ins Angesicht schauete. Denn auf einem Menschenangesicht finden wir, ich und er, wenn es alt ist, das Griffund Zählbrett harter Schmerzen, die so rauh darüber gingen; und wenn es jung ist, so kommt es uns als ein blühendes Beet am Abhange eines Vulkanes vor, dessen nächste Erschütterungen das Beet zerreißen. – Ach, entweder die Zukunft oder die Vergangenheit stehen in jedem Gesicht und machen uns, wenn nicht wehmütig, doch sanftmütig.

Firmian hätte gern den ganzen Tag – zumal eh' der Abend kam – seine wiedergefundne Lenette am Herzen, und seine frohen[337] Tränen im Auge behalten; aber bei ihr waren Geschäfte Pausen, und die Tränendrüsen samt dem Herzen Hungerquellen. Übrigens hatte sie nicht einmal den Mut, ihn über die metallische Quelle dieses goldführenden Baches zu fragen, auf dessen sanfter Wiege sie heute schwankte. Aber der Mann entdeckte ihr gern das Geheimnis der verkauften Uhr. – – Heute war die Ehe, was die Vor-Ehe ist, ein Cembal d'Amour, das zwei Sangböden umgeben, die statt der Saiten deren Wohllaut verdoppeln. Der ganze Tag war als ein Ausschnitt aus dem klaren Mond gehoben, den kein Dunstkreis überschleiert; oder aus der zweiten Welt, worein sogar aus jenem die Mondeinwohner ziehen. Lenette wurde durch ihre Morgenwärme einem sogenannten bemoosten Veilchensteinchen gleich, das die Düfte eines verkleinerten Blumenbeets austeilt, wenn man es nur wärmer reibt.

Abends erschien endlich der Rat, verlegen-zitternd, ein wenig stolz-aussehend, aber unvermögend, als er Lenetten gratulieren wollte, es zu tun vor Tränen, die ebensosehr in seiner Kehle als in seinen Augen standen. Seine Verwirrung verbarg die fremde. Endlich verging der undurchsichtige Nebel zwischen ihnen, und sie konnten sich sehen. Dann wurde man recht froh: Firmian nötigte sich die Zufriedenheit ab, und den beiden andern flog sie frei in die Brust.

Über drei besänftigte, getröstete Herzen zogen die gefüllten Gewitterwolken nicht mehr so tief wie sonst – der weichende drohende Komet der Zukunft hatte sein Schwert verloren und floh schon heller und weißer ins Blaue hinaus, vor lichtern Sternbildern vorbei. – Abends schickte noch Leibgeber einen kurzen Brief, dessen beglückende Zeilen den Abend unsers Lieblings und das nächste Kapitel schmücken. –

Und so wurden an den Gehirnkammern des dreifachen Bundes – wie noch eben jetzt an des Lesern seinen – die eiligen, laufenden, zitternden Blumenstücke der Phantasie zu wachsenden, regen Freudenblumen, wie der Fieberkranke die wankenden Bett-Blumen seines Vorhangs für beseelte Gestalten nimmt. Wahrlich, die Winternacht wollte, gleich einer Sommernacht, kaum erlöschen und erkalten an ihrem Horizont, und als sie um 12 Uhr[338] voneinander schieden, sagten sie: »Wir waren doch alle recht herzlich vergnügt.«

98

Ganz dieselbe Erscheinung bemerkte wieder der Verfasser dieses in Baireuth den 19ten Jänner 1817.

99

Sander über das Große und Schöne der Natur. Tl. 1.

100

Wepf. hist. apoplect. p. 468.

101

Repub. des lettres, Octobr. 1685. V. 1091.

102

Teufels-Papiere S. 427. Unter der Einkleidung: »Gutgemeinte Biographie einer neuen, angenehmen Frau von bloßem Holz, die ich erfunden und geheiratet.« Auf die starke Säuere dieser Satire mag wohl Lenette mit ihren Sonnenstichen zeitigend eingewirkt haben.

103

Tissot von den Nervenkrankheiten.

104

Diese besteht darin, daß man den Anker auf ein tiefes, hartes Lager niederwirft.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 2, München 1959–1963, S. 317-339.
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