Nr. 9. Schwefelblumen

[623] Streckverse


»Ich weiß nicht, ich finde jetzt kein rechtes Gedicht, ich muß auf Geratewohl ausheben:


Der Widerschein des Vesuvs im Meer


›Seht, wie fliegen drunten die Flammen unter die Sterne, rote Ströme wälzen sich schwer um den Berg der Tiefe und fressen die schönen Gärten. Aber unversehrt gleiten wir über die kühlen Flammen, und unsere Bilder lächeln aus brennender Woge.‹ Das sagte der Schiffer erfreut und blickte besorgt nach dem donnernden Berg auf. Aber ich sagte: ›Siehe, so trägt die Muse leicht im ewigen Spiegel den schweren Jammer der Welt, und die Unglücklichen blicken hinein, aber auch sie erfreuet der Schmerz.‹«


*


»Was weint denn der wunderliche Mensch, da er ja alles sich selber ausgesonnen?« rief Lukas. »Weil er selig ist«, sagte Goldine, ohne es zu treffen; es war bloß das Weinen der Bewegung, die weder eine entzückte noch betrübte, sondern nur eine Bewegung zu sein braucht. Er las jetzt:


»Der Kindersarg in den Armen


Wie schön, nicht nur das Kind wird leicht in den Armen gewiegt, auch die Wiege.


Die Kinder


Ihr Kleinen steht nahe bei Gott, die kleinste Erde ist ja der Sonne am nächsten.


Der Tod unter dem Erdbeben5


Der Jüngling stand neben der schlummernden Geliebten im Myrtenhaine, um sie schlief der Himmel und die Erde war leise –[623] die Vögel schwiegen – der Zephyr schlummerte in den Rosen ihres Haars und rückte kein Löckchen. Aber das Meer stieg lebendig auf, und die Wellen zogen in Herden heran. ›Aphrodite‹, betete der Jüngling, ›du bist nahe, dein Meer bewegt sich gewaltig, und die Erde ist furchtsam, erhöre mich, herrliche Göttin, verbinde den Liebenden ewig mit seiner Geliebten.‹ Da umflocht ihm mit unsichtbarem Netze den Fuß der heilige Boden, die Myrten bogen sich zu ihm, und die Erde donnerte, und ihre Tore sprangen ihm auf. – Und drunten im Elysium erwachte die Geliebte, und der selige Jüngling stand bei ihr, denn die Göttin hatte sein Gebet gehört.«


*


Vult fluchte gewaltig im Laube vor lauter Jubel, seine sonst leicht zufallende Seele stand weit den Musen offen: »Liebes Gottwältlein! du allein sollst mich kennenlernen; ja bei Gott, das geht an, das muß er mit ausführen – Himmel! wie wird der blöde göttliche Narr erstaunen, wenn ichs ihm vorlege«, sagte er und hatte einen neugebornen Plan im Sinne.


»Ich sollte meynen (sagte Schomaker), daß er die Auktoren der Anthologie nicht ohne Nutz unter mir studieret.«


Da Knoll nicht antwortete, sagte der Vater: »Lies weiter!« Mit schwächerer Stimme las Walt:


»Bei einem brennenden Theatervorhang


Neue erfreuliche Spiele zeigtest du sonst, stiegst du langsam hinauf. Jetzt verschlingt dich schnell die hungrige Flamme, und verworren, unselig und dampfend erscheint die Bühne der Freude. Leise steige und falle der Vorhang der Liebe, aber nie sink' er als feurige Asche auf immer darnieder.


Die nächste Sonne


Hinter den Sonnen ruhen Sonnen im letzten Blau, ihr fremder Strahl fliegt seit Jahrtausenden auf dem Wege zur kleinen Erde, aber er kommt nicht an. O du sanfter, naher Gott, kaum tut ja der[624] Menschengeist sein kleines, junges Aug auf, so strahlst du schon hinein, o Sonne der Sonnen und Geister!


Der Tod eines Bettlers


Einst schlief ein alter Bettler neben einem armen Mann und stöhnte sehr im Schlaf. Da rief der Arme laut, um den Greis aus einem bösen Traum aufzuwecken, damit den matten Busen nicht die Nacht noch drücke. Der Bettler wurde nicht wach, aber ein Schimmer flog über das Stroh; da sah der Arme ihn an, und er war jetzt gestorben; denn Gott hatt' ihn aus einem längern Traum aufgeweckt.


Die alten Menschen


Wohl sind sie lange Schatten, und ihre Abendsonne liegt kalt auf der Erde; aber sie zeigen alle nach Morgen.


Der Schlüssel zum Sarge


›O schönstes, liebstes Kind, fest hinuntergesperrt ins tiefe dunkle Haus, ewig halt' ich den Schlüssel deiner Hütte, und niemals, niemals tut er sie auf!‹ – Da zog vor der jammernden Mutter die Tochter blühend und glänzend die Sterne hinan und rief herunter: ›Mutter, wirf den Schlüssel weg, ich bin droben und nicht drunten!‹«

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Bekanntlich ist vor dem Erdbeben meist die Luft still, nur das Meer woget.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 2, München 1959–1963, S. 623-625.
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