Nr. 61. Labrador-Blende von der Insel St. Paul

[1031] Vults antikritische Bosheit – die Neujahrs-Nacht


Auf die süßen Früchte und Rosen, die sie an der Wetterseite ihres Lebens zogen, blies wieder ein rauhes Lüftchen, nämlich Hr. Merkel, der ihren Roman mit wahrer Verachtung zurückschickte, den Waltischen Anteil noch erträglich, den Vultischen aber nicht nur abgeschmackt fand, sondern gar dem Kuckuck[1031] Jean Paul nachgesungen, welcher selber schon ohne die Kuckucks-Uhr der Nachahmung langweilig genug klinge. Dieses brachte den Flötenmeister dermaßen auf, daß er alle kritischen Blätter dieses Selbst-Redakteurs durchlief und darin bloß nach Ungerechtigkeiten, Bosheiten, Fehlschlüssen, Fehlgriffen und Fehltritten so lange nachjagte, bis er ihm gerade so viele, als man Delille in seinem homme aux champs Wiederholungen53 vorwarf, zum zweiten Einrücken zufertigen konnte in einem Briefe, nämlich sechshundertunddreiundvierzig.

Der ganze Brief war voll Ironie, nämlich voll Lob – Anfangs erwähnte Vult achtend der Kritik im allgemeinen, welche er eine nötige Zuchthäusler-Arbeit nennt, da sie im Polieren des Marmors, Schleifen der Brillen, Raspeln der Färbehölzer und Hanfklopfen für Stricke bestehe – machte glaublich, daß, insofern Genies nur durch Genies, Elefanten nur durch Elefanten zu bändigen und zu zähmen wären, ein kritischer Floh sich ganz tauglich dazu anstelle, da er sich von anderen Elefanten weder in der Gestalt, noch, unter einem Vergrößerungsglase, in der Größe unterscheide und noch den Vorzug habe, sich leichter ins Ohr zu setzen und überall zu stechen und zu hüpfen – erklärte jedoch die gewöhnliche Regelgeberei bei Männern wie z.B. Goethe für ebenso unnütz als eine zurechtweisende Sonnenuhr auf der Sonne rückte nun Herrn Merkel nicht ohne Bosheit näher, indem er es erhob, daß er gerade an großen Autoren, die es am ersten und stillsten vertrügen, sich am meisten zeige durch kleine Ergießungen von Galle und Hirnwasser, so wie man nirgends (selten an kleine Privathäuser) so oft als an erhabene und öffentliche Gebäude wie Rats-, Opernhäuser und Kirchen pisset. – Er wunderte sich, daß das Publikum sich noch nicht die Qual und Arbeit stark genug vorgestellt, womit er ganz allein in den »Frauenzimmer-Briefen« das tote Musenpferd aus der Straße wegzuschleppen strebte, eine Marter, wovon ein Wasenknecht zu sprechen wisse, der mehrere Tage ganz allein, weil jeder Vorbeigehende sich zur Handreichung aus Vorurteil für zu ehrlich halte, an einem gefallenen[1032] Gaule abtrage – nahm davon Gelegenheit, dessen Stolz im vorteilhaften Lichte zu er blicken, da M. allerdings über die ungeheuren Riesenschenkel und den Riesenthorax seines Schattens vergnügt erstaunen müsse, den er auf die Märker-Fläche projektiere bei dem tiefen Stand der Morgensonne der neuen Zeit.

Da aber Vult im Verfolge anfängt, anzüglich zu werden, ja verachtend: so hält sich der Verfasser durch kein Kabelsches Testament und durch keine Labrador-Blende von der Insel St. Paul für das Kapitel verbunden, den Rest hier zu exzerpieren; um so mehr, da nicht einmal Merkel selber das ganze Schreiben eingerückt oder beantwortet hat, den ich hier öffentlich zu bezeugen auffordere, ob nicht der unterdrückte Rest noch unschicklichere Angriffe enthalten habe und aus gleichen Gründen von ihm wie von mir unterschlagen worden ist.

Darauf wurde der Roman an Hrn. von Trattner in Wien geschickt, weil man dahin, sagte Vult, nur halb frankieren dürfe. »Ich danke Gott, sobald ich nur hoffen kann«, sagte Walt. Die neue Arbeit wurde der alten mit beigelegt. Der Buchhändler blieb dabei, daß er jede Woche nicht mehr als einen Korrektur- Bogen zuschickte und folglich dieses Erbamt des Korrektorats ungewöhnlich ausdehnte. Der Notarius beging jede Woche zwar nicht neue Korrektorats-Fehler, aber unzählige; nur über den Buchstaben W keine, weil sein Wohl und Weh, Wina, damit anfing.

Tot-öde wäre das Doppel-Leben der Brüder ausgefallen ohne die Liebe, welche den Baugefangenen der Not die höchsten Luftschlösser erbauen läßt, welches so viel ist, als sie bewohnen! Nichts erträgt die Jugend leichter als Armut (so wie das Alter nichts leichter als Reichtum); denn irgendeine Liebe – sie meine ein Herz oder eine Wissenschaft – erhellet ihre dunkle Gegenwart künstlich und lässet sie im künstlichen Tage so freudig sein, als sei es ein wahrer, wie Vögel vor dem Nachtlicht fortschlagen, weil sie es für einen Tag ansehen.

Vult war nun entschlossen, in der Neujahrs-Nacht auf Winas Herz seine feindliche Landung – mit der Flöte in der Hand – zu machen. Hoffnungen hatt' er – da aus Gemeinschaft der Arbeit[1033] leicht die des Herzens wird und aus dem Faktor der Handelswitwe leicht ihr Mann – genug: »Wenn ein Paar durch das Ausführen eines zweistimmigen Satzes nicht einstimmig werden: so irr' ich mich sehr«, sagt' er. Walt hingegen entwarf keinen andern Eroberungsplan als den, Wina verstohlen anzuschauen – vor Freude zu weinen – ja heranzurücken mit sich – und, wenn Gott ihm Finsternis oder sonst Gelegenheit bescherte, im Saus und Braus der Wonne ihre Hand zu küssen und gewiß irgend etwas zu sagen. Bis dahin sagte er ihr noch mehr, aber gedruckt auf Taffent und feinstem Papier.

Da er nämlich durch seinen poetischen Anteil an der Haßlauer Zeitung das Vertrauen des Herausgebers so sehr gewonnen hatte, daß dieser von ihm die ganze Lieferung gedichteter Neujahrswünsche, eines beträchtlichen Handels-Artikels des Mannes, sich verschrieben, so legte er in die Blätter, die für Mädchen verkauft wurden, unzählige Phönix-, Paradiesvögel- und Nachtigallen- Eier zum Wünschen nieder, welche das Schicksal später ausbrüten sollte; nämlich es gab mit anderen Worten wenig Freudenkränze, Freudenmonde, Freudensonnen, Freudenhimmel, Freudenewigkeiten, welche er auf dem Taffent nicht den verschiedenen Mädchen wünschte, bloß in der Hoffnung, daß unter so vielen Wünschen wenigstens einer von so vielen Freundinnen Winas werde gekauft werden, für diese. »O wohl zehn!« sagt' er. So kam Weihnachten heran und ging vorüber, ohne daß aus der Asche der Kindheit die gewöhnlichen schillernden Phönixe aufstiegen – da die Neujahrs-Nacht ihnen zu nahe vorglänzte –, und diese brach endlich mit ihrer Abend-Aurora an, die noch dem alten Jahre gehörte.

Noch abends beim Schimmer des Hesperus oder sonst eines Sterns verflucht' es Vult von neuem, daß er nichts weiter hatte als die schönste Gelegenheit, aber kein Geld, nachts den galantesten Mann von Welt bei den Jungfrauen zu spielen: »Ich wollte, ich wäre wie schlechtere Musici mit dem Bettelorden der Neujahrsfahrer umhergeschifft und hätte wenigstens mir soviel erbettelt, um den Reichen zu machen«, sagt' er. Sobald Engelberta ihn auf 4 Uhr morgens in die große gelbe Stube mit dem Bewußten[1034] bestellte: so ging er nachts mit Walt freudeglühend in das Weinhaus, wo er als ein alter Hausfreund den Tag vorher (es kostete ihm bloß seine feinen Beinkleider-Schnallen) Champagner-Wein ohne Kork aufs Eis setzen lassen, um, wie er sagte, die Ruinen ihres Hunds-Lebens ein wenig auszutapezieren.

Walt nahm sich eine halbe Stunde Zeit, um zu begreifen, daß dem offenen Weine kein Weingeist verrauchet sei. Dann trank – allen Nachrichten zufolge, die man hat – jeder; doch so, daß beide einander als positive und negative Wolken entladend entgegenblitzten, Walt mehr mit scherzhaften Einfällen, Vult mit ernsten. In einer Blumenlese aus ihrem Gespräche würden die Farben so bunt nebeneinander kommen, als hier zur Probe folgt:

»Der Mensch hat zum Guten im Leben so wenig Zeit als ein Perlenfischer zum Perlen-Aufgreifen, etwa zwei Minuten. – Manche Staatseinrichtungen zünden ein Schadenfeuer an, um die eingefrornen Wasserspritzen aufzutauen, damit sie es löschen. – Man steigt den grünen Berg des Lebens hinauf, um oben auf dem Eisberge zu sterben. – Jeder bleibt wenigstens in einer Sache wider Willen Original, in der Weise zu niesen. – Winckelmann verdient Suworows Ehrennamen Italiskoi. – Heimlich glauben die meisten, Gott existiere bloß, damit sie erschaffen wurden; und die durch den Äther ausgestreckte Welten-Partie sei die Erdzunge ihres Dunst-Meers, oder ihre Erde sei die Himmelszunge. – Jeder ist dem andern zugleich Sonne und Sonnenblume, er wird gewendet und wendet. –

Viele Witzköpfe an einer Tafel, heißt das nicht mehrere herrliche Weine in ein Glas zusammengießen?

– Kann eine Sonne mit andern Kugeln als Welt-Kugeln beschossen werden? – Sterben heißt sich selber durch Schnarchen wecken.«

Und so weiter; denn im Verfolge war viel weniger Zusammenhang und mehr Feuer. So schlug endlich die Totenglocke des Jahrs; und der unsichtbare Neumond des neuen schrieb sich bald mit einer Silber-Linie in den Himmel ein. Als die Gläser endlich geleert waren wie das Jahr: so lustwandelten beide auf der Gasse, wo es so hell war wie am Tage. Überall riefen sich Freunde, die[1035] von Freuden-Gelagen herkamen, den Neujahrs-Gruß zu, in welchem alle Morgen- und Abendgrüße eingewickelt liegen. Auf dem Turm-Geländer sah man die Anbläser des Jahrs mit ihren Trommeten recht deutlich; Walt dachte sich in ihre Höhe hinauf, und in dieser kam es ihm vor, als sehe er das Jahr wie eine ungeheure Wolke voll wirbelnder Gestalten am Horizont heraufziehen; und die Töne nannten die Gestalten künftiger Stunden beim Namen. Die Sterne standen als Morgensterne des ewigen Morgens am Himmel, der keinen Abend und Morgen kennt; aber die Menschen schaueten hinauf, als gäb' es droben ihren eiligen Wechsel und ihre Stunden- und ihre Totenglocken und den deutschen Januar.

Unter diesen Gefühlen Gottwalts stand die Geliebte als ein Heiligenbild, von Sternen gekrönt, und der Himmels-Schein zeigte ihre großen Augen heller und ihre sanften Rosenlippen näher. Nicht wie sonst stellte ihm das alte Jahr, das an der Geburt des neuen starb, das Vergehen des Lebens dar; die Liebe verwandelt alles in Glanz, Tränen und Gräber; und vor ihr berührt das Leben, wie die niedergehende Sonne auf den nordischen Meeren am langen Tage, nur mit dem Rande die Untergangs- Erde und steigt dann wieder morgendlich den Himmelsbogen hinauf.

Beide Freunde gingen Arm in Arm, endlich Hand in Hand in den Straßen umher. Walts kurze Lustigkeit war dem tiefern Fühlen gewichen. Er sah sich oft um und in Vults Gesicht hinein: »So müssen wir bleiben in einem fort, wie jetzt«, sagt' er. Geschwind drückte ihm Vult die Hand auf den Mund und sagte: »Der Teufel hörts!« – »Und Gott auch«, versetzte Walt; und fügte dann leise, rosenrot und abgewandt hinzu: »In solchen Nächten solltest du auch einmal das Wort ›Geliebte!‹ sprechen.« – »Wie?« sagte Vult rot, »dies wäre ja toll.«

Nach langem Genuß des hellen Vorfestes sahen sie endlich Wina mit Engelberta wie eine weiße Blumen-Knospe in das Feuerhaus einschlüpfen. Hoffend auf die ausgearbeiteten Pläne seiner Liebeserklärung und so glücklich wie ein Astronom, dem sich der Himmel aufklärt, ehe sich der Mond total verfinstert,[1036] suchte Vult jetzt die Ohren des Bruders in etwas vom Liebhaber- Theater wegzustellen, indem er ihm vorhielt, wenn er in einiger Ferne z.B. unten im Park zuhorchte, würden ihn die Töne viel feiner ergreifen. »Guckst du mir über die Achsel: so ists soviel, als schnaubest du selber mit ins Flötenloch hinein, wobei wenig zu holen ist; und was überhaupt die Heldin des ganzen Musikfestes zu einem Lager, das zwei junge Männer vor ihrem eignen im Bette aufschlagen, sagt, braucht doch auch Bedacht, mein Walt!« – »Da es dir so lieb ist, so wend' ich nichts ein«, sagte dieser und ging in den kalten Garten, wo der blendende Schnee so gut gestirnt war als der tiefe Äther.

Aber oben ging es wider Vults Vermuten, doch nicht wider dessen Wunsch. Engelberta versicherte, ihre Schwester würde, da sie Flöte und Stimme so kenne, vom ersten Anklang erwachen und alles verderben. »So muß die Musik in größter Ferne anfangen und wachsend sich nähern.« – »Gut, das geschieht im Park«, sagte Wina und eilte hinab. Auf der Treppe, hinter nahen Ohren, nahm Vult eiligst alle musikalische Abreden mit ihr, damit er auf dem einsamern Park-Wege nichts zu machen brauchte als seine Eroberung. Zu seinem Schrecken stand jetzt wie eine stille Pulverschlange, die bloß auf das Loszünden wartete, der Notar auf der Hauptstraße, der mit seiner heitern Miene sich und andern versprach, mitzugehen und alles zu begleiten. Wina gab ihm einen freudigen Morgen-, dann noch einen Neujahrs-Gruß und die Frage: »Geht nicht alles vortrefflich?« – »Sta, Sta, Viator!« sagte Vult und winkte ihm heftig rückwärts, stillzuliegen – was jener nachdenkend vollzog, »weil ich ja«, dacht' er, »nicht weiß, was er für Ursachen dazu hat«.

»Ein wahrer, inniger Mensch und Dichter«, begann Vult. »Seine Gedichte sind himmlisch«, versetzte sie. »Dennoch haben Sie uns beide als Verfasser verwechselt?« fragt' er rasch, weil ihm wie einem Ewigen und Seligen jetzt nichts fehlte als Zeit. »Ein solcher Irrtum verdient nicht die geringste Verzeihung, sondern Dank. Eine andere, aber richtigere Verwechslung denk' ich mir eher – (Wina sah ihn scharf an). Denn ich und er haben ein paar gegenseitige Zwillings-Geheimnisse des Lebens, die ich niemand[1037] in der Welt entdecke – außer Ihnen, denn ich vertraue Ihnen.« – »Ich wünsche nichts zu wissen, was ihr Freund nicht gern erlaubt«, versetzte sie.

Jetzt sprang er, weil das Entdeckungs-Gespräch viel zu lange Wendungen nahm und er vergeblich auf langsamere Schritte sann, um ihr näher zu kommen, plötzlich vor eine Linde und las davon folgende Tafelschrift von Raphaelen ab: »Noch im Mondenschimmer tönen Bienen in den Blüten hier und saugen Honig auf; du schlummerst schon, Freundin, und ich ruh' hier und denk' an dich, aber träumst du, wer dich liebt?«

»Eilen wir nur«, sagte sie. »Wie köstlich ist ihr Auge wiederhergestellt!« – »Ich nehme auch alles lieber von Amor an, besonders die Giftpfeile, als die Binde; ich sah Sie stets, verehrte Wina, wer dabei von uns beiden am meisten gewinnt, das weiß nicht ich, sondern Sie«, sagte er mit feiner Miene.

»Schön«, fuhr er fort, »hat der Dichter in Ihren Gesang die Zeile eingewebt: ›träumst du, wer dich liebt?‹« – Darauf drehte er sich halb gegen sie, sang ihr leise diese Zeile, die er absichtlich zu diesem Gebrauche komponiert, ins treuherzige Angesicht, und sein schwarzes Auge stand im langen Blitze der Liebe. Da sie schwieg und stärker eilte: so nahm er ihre Hand, die sie ihm ließ, und sagte: »Wina, Ihr schönes Herz errät mich, Ihnen will ich anders, ja, wenns nicht zu stolz ist, ähnlicher erscheinen als der Menge. Ich habe nichts als mein Herz und mein Leben; aber beides sei der Besten geweiht.« – »Dort, Guter!« sagte sie leise, zog ihn eiliger an die Stelle, wo sie spielen wollten; dann stand sie still, nahm auch seine andre Hand, hob die Augen voll unendlicher Liebe zu ihm empor, und auf ihrem reinen Angesicht standen alle Gedanken klar, wie helle Tautropfen auf einer Blume. »Guter Jüngling, ich bin so aufrichtig als Sie, bei diesem heiligen Himmel über uns versichere ich Sie, ich würd' es Ihnen offen und froh gestehen, wenn ich Sie liebte, in dem Sinne, worin Sie es wahrscheinlich meinen. Wahrlich, ich tät' es kühn aus Liebe gegen Sie. Schon jetzt schmerzen Sie mich. Sie haben meinen Morgen gestört, und meine Raphaela wird mich nicht froh genug finden.«

Vult zog, schon ehe sie die letzten Worte sagte, die Flötenstücke[1038] heraus, setzte sie zusammen und gab, nur einen Blick hinwerfend, ein stummes Zeichen anzufangen. Sie begann mit erstickter Stimme, eine kurze Zeit darauf mehr forte, aber bald ordentlich.

Walt durchschnitt den Hauptgang unten hin und her, um beiden nachzublicken, bis sie ihm ferne in den Mondschimmer wie zergingen. Endlich hörte er den wunderbaren Gruß-Gesang an die Schlafende, seine eigenen Worte, aus der Dämmer-Ferne und sein Herz in eine fremde Brust versetzt, wie es der armen Schläferin droben, an die selber er bisher gerade am wenigsten gedacht, die Worte sagt: »Erwache froh, geliebtes Herz!« – Er sah deshalb aufrichtig mit Glückwünschen an ihr Fenster hinauf, um sich zu entschuldigen, und wünscht' ihr alles, was Leben und Liebe Schönes zu reichen haben, unter dem größten Bedauern, daß ihr Flitte gerade verreiset sein mußte. »Möchtest du dich doch, gutes Mädchen«, dacht' er, »täglich für immer schöner halten, wär' es auch nicht ganz wahr! Und deine Mutter, deine Wina müsse auch so denken, um sich sehr an dir zu freuen!«

Auf einmal hört' er Engelberta, die ihm riet, er möge, wenn er sich warm laufen wolle, lieber ins Haus hinauf. Da ihn nun diese Aufmerksamkeit eines Zeugen störte: so ging er ins nahe Rindenhaus, wo er nichts sah als über sich das nächtliche Himmelsblau mit dem hereinstrahlenden Monde und nichts hörte und in sich hatte als die süßen Worte der fernen zarten Lippen. Er sah hinter der Rinde die schimmernde Wildnis des Himmels aufgetan und er jauchzete, daß das neue Jahr in seiner mit Sternen besetzten Morgenkleidung so groß und voll Gaben vor ihn trat.

Nun kam Wina, die melodische Weckerin zum Wiegenfesttage, immer näher mit stärkeren Tönen, Vult hinter ihr, um die heißen Tränen des Unmuts, die er neben der Flöte nicht trocknen konnte, niemand zu zeigen als der Nacht. In der Nähe gab ihr Engelberta auf das Schlafzimmer der Schwester und Walts Rinden-Rotunda winkende Zeichen, welchen sie zu folgen glaubte, wenn sie sich in die Rotunda singend verbarg, um da sich und ihr Frühlings-Lied von der erwachenden Freundin finden zu lassen.

Sie fand den Notar mit dem Auge auf dem Monde, mit dem[1039] Geiste in dem blauen Äther – ihre näheren Töne und Vults fernere hatten ihn berauscht und außer sich und außer die Welt gesetzt. Eigentlich versteht niemand als nur Gott unsere Musik; wir machen sie, wie taubstumme Schüler von Heinicke Worte, und vernehmen selber die Sprache nicht, die wir reden. Wina mußte fortsingen und die Anrede durch ein englisches Anlächeln ersetzen.

Da er gleichfalls nichts sagen durfte, so lächelte er auch an, und sehr, und schwamm vor ihr in Liebe und Wonne. Als sie nun die schöne melodische Zeile sang: »Träumst du, wer dich liebt?« und sie so nahe an seiner Brust die heimlichen Laute derselben nachsprach: so sank er auf die Knie, unwissend, ob zum Beten oder zum Lieben, und sah auf zu ihr, welche vom Mond wie eine obenherabgekommene Madonna umkleidet wurde mit dem Nachglanze des Himmels. Sie legte sanft die rechte Hand auf sein weichlockiges Haupt; – er hob seine beiden auf und drückte sie an seine Stirn; – die Berührung lösete den sanften Geist in Freudenfeuer auf, wie eine weiche Blume in üppiger Sommernacht Blitze wirft – Freudentränen, Freudenseufzer, Sterne und Klänge, Himmel und Erde zerrannen ineinander zu einem Äthermeere, er hielt, ohne zu wissen wie, ihre Linke an sein pochendes Herz gedrückt, und der nahe Gesang schien ihm wie einem Ohnmächtigen aus weiten Fernen herzuwehen.

Die Flöte stand ganz nahe, das letzte Wort wurde gesungen. Wina zog ihn sanft von der Erde auf; er glaubte noch immer, es töne um ihn. Da kam mit freudigem Ungestüm Raphaela hineingestürzt, an die Brust der Geberin des schönsten Morgens. Wina erschrak nicht, aber Gottwalt – sie gab der Freundin eine ganze Freundin. Sie sagte zu Gottwalt, der nicht sprechen konnte: »Wir sehen uns abends wieder, am Montage?« – »Bei Gott«, antwortete er, ohne das Mittel zu kennen. Jetzt trat Vult hinzu und empfing von Raphaela lauten Dank, und er verließ schweigend mit Walt den seltsamen Garten.

Oben hing sich dieser warm an seinen Hals. Vult nahm es für Freuden-Lohn seiner Bemühung um Raphaelens Morgenfest und drückt' ihn einmal an die Brust. »Laß mich reden, Bruder«,[1040] begann Walt. »O laß mich schlafen, Walt«, versetzte er – »nur Schlaf her, aber rechten tiefen, dunkeln; wo man von Finsternis in Finsternis fällt. O Bruder, was ist recht derber Schlaf nicht für ein köstlicher weiter Landsee für beidlebige Tiere, z.B. einen Aal, der matt vom schwülen Lande kommt, und der nun im Kühlen, Dunkeln, Weiten schwanken und schweben kann! – Oder leugnest du so etwas, und mehr?« – »Nun, so gebe dir Gott doch Träume, und die seligsten, die ein Schlaf nur haben kann«, sagte Walt.

53

Im Appel aux principes, wozu noch 558 – Antithesen vorgeworfen werden.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 2, München 1959–1963, S. 1031-1041.
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