43. Hundposttag

[1193] Matthieus vier Pfingsttage und Jubiläum


Es ist ein Kunstgriff, daß ich wahre Spitzbuben-Szenen in den höhern Ständen vorher französisch niederschreibe und dann verdolmetsche, wie Boileau seine welken Verse vorher in Prose aufsetzte. – Da mir am 43sten Hundtage gelegen ist – weil der edle Matz darin seinen Flamin sogar mit Aufopferung seiner Tugend und des Lords zu retten sucht –: so gedenk' ich ihn aus dem Französischen, worin ich ihn geschrieben, so getreu ins Deutsche zu übersetzen, daß mein französischer Autor selber mir seinen Beifall schenken soll.

Kaum hörte Matthieu, daß Klotildens und Flamins Mutter aus London gekommen: so marschierte dieser Reineke aus seinem Fuchshau nach Flachsenfingen, weil er sich die Ehre, Flamin zu erlösen, von niemand nehmen lassen wollte. Er griff, seines Feuers ungeachtet, dem Zufall selten vor, sondern er paßte und schob nur da oder dort nach; – wie in einem Roman, so häkeln sich im Leben tausend leise zusammengerückte Geringfügigkeiten endlich fest ineinander, und ein guter Matz zwirnet aus zertragenen Spinngeweben des Zufalls zuletzt einen ordentlichen – Seidenstrick für seinen Nebenmenschen. – Er ließ sich kühn beim Fürsten eine geheime Audienz auswirken, »weil er lieber der Strafe (wegen der Foderung zum Duell) entgegenkommen, als über einige wichtige Dinge länger schweigen wolle«. Wichtige und gefährliche waren längst bei Jenner verwandt, jetzt aber gar identisch, weil ihn die Fürstin an jedem Morgen mit einigen Strophen aus dem Buß – und Eulenliede über Aufruhr, Ankerströme und Propagandisten ansang. Sie und Schleunes bliesen in ein Horn, wenigstens aus ihm eine Melodie.

Matthieu trat ein und langte das große Wichtige hervor – die kahle Bitte um Flamins Leben. Jenner sagte ein ebenso kahles Nein; denn der Mensch ist ebenso unwillig auf den, der ihn in eine ungegründete Furcht, als auf den, der ihn in eine gegründete jagt. Matthieu wiederholte kalt sein Gesuch: »Ich bitte Ew. Durchlaucht[1193] bloß, nicht zu glauben, daß ich jemals die bloße Freundschaft für eine hinlängliche Entschuldigung einer solchen kühnen Bitte halten würde – die Pflicht eines Untertanen ist meine Entschuldigung.« – Jenner, den das unhöfliche Zurückziehen verdroß, brach es ab: »Der Schuldige kann nicht für den Schuldigen bitten.« »Gnädigster Herr,« sagte der Evangelist, der ihn in Furcht und Harnisch zugleich zu jagen suchte – »zu jeder andern Zeit als in der unsrigen würd' es ebenso sträflich sein, gewisse Dinge zu erraten oder zu weissagen, als sie zu beschließen – aber in unserer sind diese drei Dinge leichter. Auf den Tag, wo der Regierrat sein Leben verlieren sollte, ist ein Plan berechnet, den einige zur Erhaltung des seinigen auf Kosten des ihrigen gemacht haben.« Der Fürst – entrüstet über die Kühnheit, die sonst nicht in der Schneelinie123 der Höfe, sondern nur in der demokratischen Gleicherlinie wohnt – sagte mit dem Todesurtel, das Matz längst in sein Gesicht hineinhaben wollte: »Ich werde Ihnen morgen die Namen der Elenden abfodern lassen, die ihr Leben preisgeben wollen, um die Gerechtigkeit zu stören« Hier fiel dieser vor ihm nieder und sagte schnell: »Mein Name ist der erste – jetzt ists meine Pflicht, unglücklich zu werden – mein Freund hat niemanden getötet, sondern ich – er ist nicht der Sohn eines Priesters, sondern der erstgeborne Sohn des getöteten Herrn Le Baut«...

Solang' es noch Pfeilerspiegel gab, so sah nie ein so bestürztes auseinandergefahrnes Gesicht aus ihnen als heute. Jenner ließ ihn abtreten, um sich wieder zusammenzulesen.

Wir wollen jetzo in dem Vorzimmer drei Worte über den Abwesenden reden. Mir sagte einmal ein feiner Mann, er habe einmal zu einem großen Weltkenner gesagt: »der Fehler der Großen wäre, sich selber nichts zuzutrauen, und daher würden sie von jedem gelenkt«; und der Weltkenner habe geantwortet: er treff' es. – Jenner war Matzen gram, und das bloß seines satirischen und wollüstigen Gesichts wegen – aber nicht etwan seiner Laster wegen. Ich setze voraus, der Leser wird doch Höfe genug gesehen haben – auf dem Theater, wo die höheren Stände ihre Begriffe[1194] von Landleuten und wir unsere von ihnen abholen –, um zu wissen, was man da hasset – – keine Lasterhaften, nicht einmal Tugendhafte, sondern beide liebt man wirklich (gerade wie dasige Bratschisten, Handwerker, Wetzlarer Prokuratoren, Intendanten), sobald man sie nötig hat. – –

Der Junker kam wieder vor. Jenner hatte das süße väterliche Wallen über die Neuigkeit, da er bisher alle seine Kinder verloren gegeben, gestillt, aber er begehrte jetzt den Beweis, daß Flamin der (angebliche) Sohn des Kammerherrn sei. Ums Duell kümmerte er sich gar nicht. Der Beweis war der aufrichtigen Seele leicht zu führen: die Seele berief sich geradezu auf die Mutter, die eben gerade aus London eingetroffen, um den Sohn zu retten, und auf die Schwester selber. – Die Seele hatte wieder den Vordersatz, daß beide Kenntnis davon hätten, zu erweisen; – Matthieu berief sich auf den Brief der Mutter, den er vor einigen Jahren dem blinden Lord mit der angenommenen Stimme Klotildens vorgelesen, und auf der Schwester Ausruf unter dem Duell im Maienthaler Park: »Es ist mein Bruder« – und zuletzt führt' er noch einen Hauszeugen in der Sache auf, den Nachsommer, der jetzt bald erscheinen und das Äpfel-Muttermal, das Le Bauts Sohn auf der Schulter trage, neu aufmalen werde.

Matthieu hatte zu viel Hochachtung gegen seinen Fürsten und Herrn, um den Herrn des Sohns den Vater des Sohns zu nennen. Jetzt hörte er damit auf: »er wisse nicht, aus welchen Gründen der Lord Horion bisher Flamins Abkunft verborgen habe – welche es aber auch seien, alle Entschuldigungen desselben wären auch seine, warum er selber bisher geschwiegen – um so mehr, da ihm der Beweis dieser Abstammung schwerer fallen müssen als dem Lord. – Nur jetzt durch die Ankunft der Mutter sei die Leichtigkeit des Beweises so groß wie die Notwendigkeit desselben. – Alles, was er tun können als ein Hausfreund des Kammerherrn, sei gewesen, Flamins Vertrauter zu werden, um sein Wächter zu werden.«

Dadurch wurde notwendig der Fürst auf die Materie des Duells zurückgeführt, die jener anfangs nach wenigen Winken fallen lassen. Es war sein Geschäftgang, von einer ihm wichtigen Angelegenheit[1195] bald abzubrechen, über andere Dinge ebenso lange zu sprechen, dann jene wieder vorzuholen und so das Wichtige unter ebenso große Lagen von Unwichtigem zu verpacken, wie die Buchhändler konfiszierte Bücher bogenweise unter weißes oder anderes Papier verschlichten. Auch war jetzt Flamins Unschuld am Mord für Jenner wichtiger; dieser fragte also natürlicherweise, warum er seinen Freund dem Scheine des Zweikampfes preisgegeben habe.

Matthieu sagte, es werde lange, und es sei kühn, Se. Durchlaucht um so viel Aufmerksamkeit zu flehen. Er hob an zu berichten, was – die Hundposttage bisher berichtet haben. Er log wenig. Er hinterbrachte, er habe, um Flamins Liebe für seine unbekannte Schwester Klotilde zu brechen – wenigsten mehren wollt' er sie –, ihn eifersüchtig machen wollen, aber er habe ihn mit niemand entzweien können als mit dem Liebhaber; ja, es habe nicht einmal etwas gefruchtet, daß er ihn selber den Ohrenzeugen der sehr verzeihlichen Untreue Klotildens werden lassen, sondern jener habe noch zuletzt über die Verlobung der Schwester eine Wut geäußert, die er durch nichts als durch die Vorspiegelung eines verkappten Duells mit dem Vater befriedigen können – denn um einen zweiten Kampf zwischen Vater und Sohn, den das Schweigen des Lords angezettelt, abzuwenden, hab' er ihn selber unternommen, aber leider zu unglücklich.

So weit der Edle. Die uns bekannten wahren Einschiebsel unterschlag' ich. Jenner, der nun dem Evangelisten für die Wegnahme einer Furcht gewogen wurde, in die er ihn selber gesetzt hatte, tat die natürliche Frage: »warum Flamin den Mord auf sich nehme?« – Matthieu: »Ich flüchtete sogleich, und es stand nicht bei mir, seine Unwahrheit, deren ich mich nicht versehen konnte, zu verhüten; aber es stand bei mir, sie zu widerlegen.« – Jenner: »Fahren Sie in Ihrer Freimütigkeit fort, sie ist Ihre Schutzschrift, weichen Sie nicht aus!« – Matthieu mit einer freiern Miene: »Was ich zu sagen wußte, hab' ich schon gesagt im Anfange, um ihn zu retten; und jetzt ist er gerettet.« – Jenner sann zurück, begriff nichts und bat: »Noch deutlicher!« Matthieu mit der absichtlichen Miene eines Menschen, der Versilberungen seines Vortrags[1196] zurechtmacht: »aus Großmut würd' er für den gestorben sein (für Matzen), der für ihn gesündigt hatte, wenn ihn nicht seine Freunde retteten.« Jenner schüttelte ungläubig den Kopf. »Denn«, fuhr jener fort, »da er seinen höhern Stand nicht kennt, so nahm er einige französische Grundsätze leichter an, die ihm seinen Tod ebensosehr erleichtert hätten, als einige Engländer sie würden beim Volke genutzt haben, um ihn zu verhüten.« Zum Beweis führt' er den angezündeten Pulverturm nebenher an.

Jenner sah staunend ein Licht in eine dunkle Höhle gleiten und sah weit in die Höhle hinein.

Man tut dem vortrefflichen Evangelisten unrecht, wenn man denkt, es tu' ihm genug, bloß seinen Freund gerettet zu haben; sein gutes Herz war auch noch darauf aus, dem Lord eine Ehrensäule zu setzen und ihn unter die Säule als Grundstein zu legen. Er quartierte gern (wie in Hamlet) in dem Schauspiel wieder eines ein und zog zwei Theatervorhänge auf. Wir wollen uns in die erste Loge setzen. Sein bisheriges Betragen gegen den Regierrat zeigt genug, wie weit er wahre Freundschaft zu treiben fähig war, ohne andere Freunde, z.B. die Fürstin, vor den Kopf zu stoßen; denn für die letzte war der Wiederfund des verlornen Sohns des Fürsten ohne sonderlichen Nachteil, da der Sohn als jakobinischer Logenmeister und als Rebell gegen den Stief- und den Vater zugleich präsentiert wurde, und da noch dazu der Lord so entsetzlich dabei verlor. Aber weil Matthieu sich nichts dabei vorzuwerfen hatte als sein Übermaß an Menschenliebe: so suchte er diesem Übermaß durch ein entgegengesetztes in der Bosheit zu begegnen, weil Bako schreibt: Übertreibungen werden am besten durch entgegengesetzte kuriert. Nach seinen zu feurigen Begriffen von der Freundschaft konnt' er auch kein echter Freund des Lords sein, da man nach Montaigne nur einen echten, wie einen Liebhaber, haben kann, und der Lord schon einen dergleichen an Jennern aufzeigte.

Man vergönne mir, mit drei Worten kurz zu sein und angenehm: wenn die Araber 200 Namen für die Schlange haben, so sollten sie gar den 201sten dazulegen, den eines Höflings – ferner erlaube man mir zu sagen, daß ein Mann von Einfluß und Ton[1197] durch so genannte Blutschuld ebensogut blühe als ein ganzer Staat durch elendere metallische. –

Jenner war jetzo vorbereitet, alles zu glauben, was die vorigen sonderbaren Dinge erklärte. Eine Lüge, die einen Knoten löset, ist uns glaublicher als eine, die einen knüpft. Matthieu fuhr fort: »er habe allen republikanischen concerts spirituels beigewohnt, um Maßregeln gegen Flamins Ansteckung zu nehmen; und er übertreibe die Freundschaft gegen die drei Engländer und den Lords-Sohn (Viktor) nicht, wenn er jene und diesen mehr für Arbeitzeug irgendeiner andern verborgnen Hand ansehe als für Arbeiter an einem Plane selber. – Das bestätige der bisher vom unschuldigen Flamin gemachte Mißbrauch.« – Um Viktor zu entschuldigen, sagt' er – wobei er ihn immer den Hofmedikus benamsete, so daß Jenner in dieser Verfassung an einen Hofvergifter eher dachte als an etwas anderes – um also ein vorteilhaftes Licht auf diesen zu werfen, sagt' er, selbiger liebe bloß das Vergnügen und führe nur gehorsam das aus, was sein Vater entworfen – Viktor habe sich in einen Italiener verkleidet, um die Prinzessin zu beobachten, und um es nachher dem Lord, auf dessen Befehl ers vermutlich getan, in einer geheimen Zusammenkunft auf einer Insel zu berichten. – Als Italiener hab' er der Fürstin eine Uhr überreicht, in die er ein Blättchen versteckt, worin er den höhern Rang vergessen, um dem seinigen zu schmeicheln.

Der Fürst, der seine Gemahlin mit größerer Eifersucht liebte als seine Braut, fegte mit dem schlagenden Puterhahns-Flügel den Boden und machte den Nasen-Zapfen lang und fragte stolz: wie er das wisse? – Matthieu versetzte ruhig: »von Viktor selber denn die Fürstin wiss' es selber nicht«....

Mir verdankt es der Leser, daß er tausend Dinge besser weiß – Agnola wußte den Inhalt der Uhr gewiß recht gut; ja ich stelle mir sogar vor, sie habe, da ihr die erzürnte Joachime Viktors gerades Geständnis seines concepit hinterbrachte, Matzen oder Joachimen erlaubt, den gegenwärtigen Gebrauchzettul zu entwerfen, nach welchem hier der Eheherr das Sebastiansche billetdoux einzunehmen bekömmt. –

– »sie habe vielmehr« (fuhr er fort) »seiner Schwester lange dar[1198] auf die Uhr mit dem Blättchen geschenkt – Joachime hab' es in Viktors Gegenwart herausgezogen, und der hab' es für schicklich gehalten, ihr eben dieses frei zu bekennen, was sie und er selber aus Ehrfurcht noch nicht der Fürstin entdeckt hätten. – Inzwischen sei ihm seine Schwester darauf ausgewichen – worauf er sich Klotilden genähert, vielleicht nach einer väterlichen Instruktion, um den Bruder in nähern Verhältnissen zu haben. – Aber allemal misch' er in väterliche Plane des Ehrgeizes eigne des Vergnügens und sei gutgesinnt, so wie die Engländer, die er für verkappte Franzosen halte.«

Der Fürst versteckte unter dem ganzen Vorhalten dieser artigen Schlangenpräparate seine Furcht unter Zorn; Matthieu, der die Maske und das Gesicht sah, schnitt bisher alles nach jener zu und machte den scheinbaren Mangel an Furcht zum Deckmantel seiner Kühnheit, sie zu erregen. – Und so ging er vom Fürsten weg in einen unbestimmten spaßhaften Arrest für den Mord; Jenner fing aber an, die Sachen und Zeugen zu untersuchen.

Vor dem Berichte des Erfolges lasset mich es gern gestehen, daß Matz, der Edle, schon lügen kann, um so mehr, da er die Wahrheit als Sparrwerk seines Lügen-Mörtels hinsetzt. Wie im polnischen Steinsalzbergwerk lässet der gute Lügner beim Untergraben immer so viele Wahrheiten zu Säulen stehen, als gegen das Einbrechen des Gewölbes nötig sind. Überhaupt ist jede Lüge ein glückliches Zeichen, daß es noch Wahrheit in der Welt gibt; denn ohne diese würde keine geglaubt und also keine versucht. Bankerutte machen dem Rechtschaffenen Freude als neue Belege des unerschöpften Religionfonds von fremder Ehrlichkeit, die vorhanden sein mußte, wenn sie sollte betrogen werden. Solange noch Krieg- und Friedentraktate schändlich gebrochen werden, so lange ist noch Hoffnung genug da, und so lange fehlt es Höfen an echter Redlichkeit nicht; denn jeder Bruch eines Vertrags setzet voraus, daß man einen gemacht hat – und gemacht könnte keiner mehr werden, wenn kein einziger mehr gehalten würde. Es ist mit den Lügen, wie mit den falschen Zähnen, die der Goldfaden nur an ein paar echte hinterbliebene schließen kann. –[1199]

Jenner fing die Münzprobationtage des Matthäischen Evangeliums an.

1) Der Pfarrer wurde vorgeladen, um in Gegenwart der landesherrlichen Hoheit zu bekennen, was er für Zusammenrottungen im Priesterhause geduldet. Der schlug in Oemlers Pastoraltheologie nach, um zu ersehen, wie sich ein Pfarrer zu benehmen habe, der gehenkt werden soll. Ohne Murren legte er jetzo den Hals vor kleinern mäßigen Unglückfällen auf den Block und unter das Beil, vor dem Rattenkönig, der durch seine Behausung sausete, vor dem Strumpfband, das unter dem Gehen langsam über die Kniescheibe abglitt, und vertauschte die Ängstlichkeit des Glücklichen gegen die Angst des Unglücklichen. Im Verhöre sagt' er, er habe an heiliger Stätte und an anderer auf die Klubs so gut als einer geschmälet und sich deswegen den Girtanner gekauft. Auf die Frage: ob Flamin sein Sohn sei? versetzte er traurig: er hoffe, seine Frau breche seine und ihre Ehe nie. – Als er wieder nach Hause kam, nahm er, um nur nicht in der Angst der Verhaftung zu sein, einen Bündel alter Predigtmanuskripte in einen Steinbruch hinein und lernte sie da auf drei bis vier Sonntage vorher auswendig.

2) An demselben Tage stattete der Minister von Schleunes (aus Gefälligkeit gegen die Fürstin) einen Besuch in Le Bauts Hause ab und teilte der Lady und Klotilden aufrichtig die laufenden Gerüchte über Flamins Abkunft mit. Beide Damen mußten glauben, Viktor habe die letzte dem Fürsten entdeckt, um den Unglücklichen zu retten. Wie hätten sie ihm nicht nachahmen sollen, da ihnen die eiserne Birn des Schwurs von der Zunge und aus dem Munde genommen war, und da man ein Geheimnis verletzen darf, wenn man sonst die Wahrheit verletzen müßte, und da die zarten Seelen sich nun so herzlich über diese offne Jubeljahrtür im Gefängnis ihres Lieblings freueten? – Mit einem Wort: der Minister brachte nichts zurück als Bekräftigungen der Hypothesen seines Sohnes.

3) An demselben Tage wurde der Kaufmann Tostato vom Grafen O über seinen Buden-Mitarbeiter und Viktor vom Pater über den Verfasser des Hirten- oder Schäferbriefes in der Uhr[1200] erforscht und dann vernommen. Auch hier hatte Matthieu, wie zu erwarten, die Wahrheit ganz auf seiner Seite; Viktor war jetzt zu stolz, zu fromm, zu resigniert, um zu verhehlen.

4) Alle Sünden-Kerbhölzer in Kussewitz und überall griffen ineinander ein; sogar aus Viktors vorigem Mittleramt, das er sonst beim Fürsten für Agnola versah, aus seinen kleinen Unbesonnenheiten, aus seinen Satiren, aus seiner Hosen-Einkleidung der Soldatenjungen, aus seiner Reise mit dem Fürsten wurde nun lauter Zugwerk und Grundstriche einer gegen den Thron entworfenen Schlachtordnung zusammenbuchstabiert. Überhaupt wars notwendig, Jenner mußte, je mehre Sehröhre er auf diese Lufterscheinung der Lüge richtete, sie nur desto größer erblicken. –

Ich habe die Fürstin vergessen, die sich bei Jenner über das Billet sehr beleidigt und unwissend anstellte und kaum mit der Strafe zufrieden war, daß dem Helden der Hundposttage der Hof verboten wurde. – Der Hof- dir, guter Viktor! der du bald die Erde dir verbieten willst!

Jenner übersah leicht vergangne Beleidigungen, aber er rügte streng zukünftige. Und da noch dazu Matz wie eine Klapperschlange so arg klapperte, nicht um zu warnen, sondern um, wie auch die Nevern an der andern fanden, den Raub steif und scheu zu machen: so war der Lord so über alle Thronstufen aus Jenners Herzen herabgepurzelt, daß es ihm nicht einmal etwas helfen konnte, wenn er sogleich aus der Luft herausgetreten wäre. Flamin war ohne ihn gefunden. – Den drei Engländern schickte man die Erlaubnis in das Haus, nach ihrer Insel (England) abzusegeln, wenn sie wollten. Sie ließen zurücksagen, sie brauchten nur einen Tag, um auf ihrer Insel anzukommen, und warteten nur auf ihren Reisegefährten. Unter der Insel meinten sie aber die Insel der Vereinigung – und unter dem Reisegefährten den gefesselten Flamin, den sie mit bereden wollten.

Es gefällt mir, daß meinem Viktor der Hof verboten wurde. Das Hof-Verbot ist sonst eine Wohltat – diesen Namen verdient nun wohl eine Befreiung von den Hofdiensten –, die sonst nicht immer an den Würdigsten erteilt wird, sondern oft einem Teufel[1201] wie Louvois so gut als einem Apostel wie Tessin. Heißet aber das nicht einer vorzüglichen Gnade, einem Orden pour le mérite allen Wert benehmen, wenn man sie Schelmen zuwirft, da sie doch nur für den rechtschaffensten, freimütigsten, ältesten Mann am Hofe als die größte und letzte Belohnung, als ein Treff- und Spießfolgedank, als eine Ovation sollte aufgehoben bleiben? –

Im nächsten Kapitel kann man sich auf einen Lärm gefaßt machen, dergleichen man in wenig deutschen Kapiteln hört; die Lärmkanonen der Hofpartei, das Herabpoltern der Bühnen und das Umschmeißen der Stühle nach gehegtem peinlichen Gericht werd' ich bis in meine Insel herüber hören können. Der schwarzhaarige und schwarzherzige Hofjunker wird, wenn er aus dem Arreste los ist, mit seiner ironischen Miene und mit der eignen leisen Stimme – die Ripienstimme seines boshaftesten Hohns, wie sie bei andern die des erhabensten Enthusiasmus ist – überall herumstreichen und sagen: er wünsche, der Lord erschiene, er habe bisher in seinen Sachen nach Vermögen gearbeitet. Am Hofe ist man zuweilen erhaben durch eine vorstehende Bosheit, wie nach Burke kein Geruch erhaben ist als der allerstinkendste und kein Geschmack als der bitterste. Und ebenso verbirgt allda jeder die mitleidige Teilnahme am fallenden Günstling leicht, ähnlich dem weisen Vater, der beim Fall eines Kindes das mitleidige Gesicht unter ein lustiges versteckt.

Den 21. Oktober kommt Matthieu los und darf zu Flamin gehen – er hat sichs ausgebeten – und ihm die Freiheit und die Standerhöhung miteinander ansagen In wenig Tagen könnten die Begebenheiten und mein Protokoll derselben aus einem Zeit-Stundenglase rinnen, wenn der Hund ordentlich käme; aber er kommt, wenn er will.[1202]

123

So heißet die von Bouguer bestimmte Erhebung über das Meer, auf der die Berge in allen Zonen beschneiet sind.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 1, München 1959–1963, S. 1193-1203.
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