67. Zykel

[355] Vor der Bühne hab' ich die frohe Erfahrung gemacht, daß ich an den Schmerzen, die darauf sofort nach dem Aufzuge des Vorhanges erschienen, nur geringen Anteil, hingegen an Freuden, die sogleich hinter der Musik auftraten mit ihrer eignen, den größten nahm; der Mensch will mehr, daß die Klage, als daß die Entzückung sich motiviere und entschuldige. Ohne Bedenken fang' ich daher einen dritten Band mit Seligkeiten an, die ohnehin das vorhergehende Paar überflüssig vorbereitete.

Jetzt in dieser Minute muß unter allen Adamsenkeln, welche ein freudiges Gesicht zum Himmel aufhoben und ihm einen noch schönern darauf nachspiegelten, irgendeiner gewesen sein, der den größten hatte, ein Allerseligster. – Ach freilich muß auch unter allen tragenden Wesen auf dieser Kugel, die unser kurzer Lauf zur Ebene macht, eines das unglücklichste gewesen sein, und möge der Arme schon im Schlafe liegen unter, nicht auf seinem steinigen Wege! – Ob ichs gleich wünschte, daß Albano nicht jener Allerglücklichste gewesen wäre – damit es noch einen höheren Himmel über seinem gäbe –, so ist doch wahrscheinlich, daß er am Morgen nach der heiligsten Nacht, im jetzigen Traume vom reichsten Traume, tief in den dreifachen Blüten der Jugend, der Natur und der Zukunft stehend, den weitesten Himmel in sich trug, den die enge Menschenbrust umspannen kann.

Er sah aus seinem Donnerhäuschen, diesem kleinen Tempel, an dessen Wänden noch der Schimmer der Göttin stand, die ihm darin sichtbar geworden, auf die neugestalteten Berge und Gärten Lilars hinaus, und es war ihm, als säh' er hinein in seine weiß und rot blühende, mit Berg- und Fruchtgipfeln aufgeschmückte Zukunft, ein volles Paradies, in die nackte Erde gebauet. Er sah sich in seiner Zukunft nach Freuden-Räubern um, die seinen Triumphwagen anfallen könnten; – er fand sie alle[355] sichtbar zu schwach gegen seine Arme und Waffen. Er stellte Lianens Eltern und seinen eignen Vater und das bisherige in der Luft arbeitende Geister-Heer mitten auf seinen Weg zur Geliebten hin; – in seinen Muskeln glühte überflüssige Kraft, sich leicht zu ihr durchzuschlagen und sie in sein Leben mitzunehmen durch Arbeit und Gewalt. »Ja,« (sagt' er) »ich bin ganz glücklich und brauche nichts mehr, kein Schicksal, nur mein und ihr Herz!« Albano, möge dein böser Genius diesen gefährlichen Gedanken nicht gehöret haben, damit er ihn nicht zur Nemesis trage! O in diesem wildverwachsenen Leben ist kein Schritt, sogar in den blühenden Lustgängen, ganz sicher, und mitten in der Fülle dieses Kunstgartens erwartet dich ein fremder finsterer Giftbaum und hauchet kalte Gifte in das Leben! – Daher war es sonst besser, da die Menschen noch demütig waren und zu Gott beteten in der großen Entzückung; denn neben dem Unendlichen senkt sich das feurige Auge und weinet, aber nur aus Dankbarkeit.

Kein kleinliches Kalendermaß werde an die schöne Ewigkeit gelegt, die er nun lebte, da er die Geliebte jeden Abend, jeden Morgen in ihrem Dörfchen sah. Als Abendstern ging sie vor seinen Träumen, als Morgenstern vor seinem Tage her. Den Zwischenraum füllten beide mit Briefen aus, die sie einander selber brachten. Wenn sie abends schieden, nicht weit vom Wiedersehen, und dann in Norden unten am Himmel schon die Rosenknospen-Zweige hinliefen, die unter dem Menschenschlafe schnell nach Osten hinwuchsen, um mit tausend aufgeblühten Rosen vom Himmel herabzuhängen, eh' die Sonne wiederkam und die Liebe – und wenn sein Freund Karl nachts bei ihm blieb und er nach einer Stunde fragte, woher das Licht komme, ob vom Morgen oder vom Mond – und wenn er aufbrach, da noch Mond und Morgen in den tauenden Lustwäldern zusammenschienen, und wenn ihm der Weg, vor einigen Stunden zurückgelegt, ganz neu vorkam und die Abwesenheit zu lange (weil Amors Pfeil halb ein Sekundenzeiger ist, der den Monatstag, und halb ein Monatszeiger, der die Sekunde weiset, und weil in der Nähe der Geliebten die kleinste Abwesenheit länger dauert als[356] in ihrer Ferne die große) – und wenn er sie wiederfand: so war die Erde ein Sonnenkörper, aus welchem Strahlen fuhren, sein Herz stand in lauter Licht, und wie ein Mensch, der an einem Frühlingsmorgen von dem Frühlingsmorgen träumt, ihn noch heller um sich findet, wenn er erwacht, so schlug er nach dem seligen Jugendtraum von der Geliebten die Augen auf vor ihr und verlangte den schönsten Traum nicht mehr.

Zuweilen sahen sie sich, wenn der lange Sommertag zu lang wurde, auf entfernten Bergen, wo sie der Abrede gemäß der Ernte zusahen; zuweilen kam Rabette allein nach Lilar zum Bruder, damit er einiges von Lianen hörte. Wenn Liane ein Buch gelesen: las ers nach; oft las ers zuerst und sie zuletzt. Was die schönsten, unschuldigsten Seelen einander Göttliches zeigen können, wenn sie sich auftun, ein heiliges Herz, das noch heiliger, ein glühendes, das noch glühender macht: das zeigten sie sich. Albano wurde gegen alle Wesen mild, und der Glanz einer höhern Schönheit und Jugend füllte sein Angesicht. Die schönen Gebiete der Natur oder seiner Kindheit wurden durch die Liebe geschmückt, nicht diese durch jene; er war von dem blassen, leisen Mondwagen der Hoffnung auf den rauschenden, glänzenden Sonnenwagen der lebendigen Entzückung gestiegen. Sogar auf den Ruderschiffen hölzerner Wissenschaften schlugen jetzt, wie von Bacchus' Wunderhand belebt, Maste und Taue zu Weinstöcken und Trauben aus. – Ging er ins Froulaysche Haus: so kam er, weil er voll Toleranz hineinging, ohne Kosten derselben daraus zurück; der Minister, der mit einem Flore von heitern, blühenden Ideen auf dem Gesichte von Haarhaar zurückgekehrt, gab ihm reizende Aussichten auf den Jubel mit, womit Stadt und Land das nahe Vermählungsfest des Fürsten und den Gewinn der schönsten Braut begehen werde.

Und hatt' er nicht zu allem noch seinen Freund dazu? Wenn man so nahe vor der Flamme der Freude steht, so flieht man zwar Menschen – weil sie leicht zwischen uns und die schöne Wärme treten –, aber man sucht sie auch; ein herzlicher Freund ist unser Wunsch und Glück, welcher den frohen Traum, worin wir schlafen und sprechen, leise weiterleitet, ohne ihn fortzujagen. Karl[357] spielte sanft in des Freundes Traum; er hätt' es aber auch schon aus inniger Liebe gegen die Schwester getan.

In der Tat mit so viel Jugend – Sommerwetter – Unschuld – Freiheit – schöner Gegend – und hoher Liebe und Freundschaft lässet sich wohl schon unten auf der Erde etwas dem Ähnliches zusammensetzen, was man oben im Himmel einen Himmel nennt; und eine Himmelskarte, ein Elysiums-Atlas, den man davon mappierte, würde wohl nicht anders aussehen als so: vorne ein langes Hirtenland mit zerstreueten Lustschlössern und Sommerhäusern – ein Philanthropistenwäldchen in der Mitte – die Taborsberge oben mit Sennen – lange Kampanertäler – darauf der weite Archipelagus mit Peters-Inseln – drüben die Ufer eines neuen festen Hirtenlandes, ganz bedeckt mit Daphnischen Hainen und Alkinous-Gärten – dahinter wieder das weit hineinlaufende Arkadien u.s.w.

Alles, was nun Albano von Philosophie und Stoizismus in sich hatte – denn er hielt das, was ihm der Arm aus den Wolken gab, für Ausbeute des eignen –, wandte er an, um durch sie seiner Entzückung das Maß, das sie geben, zu nehmen. Mäßigen, sagt' er, sei nur für Patienten und Zwerge; und alle jene bekümmerten, gleichschwebenden Temperaturisten und Taktmesser hätten, es sei in der Ausbildung einer Freude oder eines Talents, mehr sich als der Welt genützt, hingegen ihre Antipoden mehr der Welt als sich.119

Er brachte sich sehr gute Grundsätze vor das Auge: der Mensch, sagt' er, ist frei und ohne Grenze nicht in dem, was er[358] machen oder genießen, sondern in dem, was er entbehren will; alles kann er, wenn er will, entbehren wollen. Überhaupt, fuhr er fort, hat man bloß die Wahl, entweder immer oder nie zu fürchten; denn dein Lebenszelt steht auf einer geladenen Mine, und rings umher halten die Stunden offne Geschosse auf dich. – Nur das tausendste120 trifft; und in jedem Fall fall' ich doch lieber stehend als feig gebückt. Allein – beschloß er, um sogar sich darüber zu entschuldigen – ist denn die Standhaftigkeit zu nichts Besserm gemacht als zu einer Wundärztin und Magd, und nicht vielmehr zu unserer Muse und Göttin? denn sie ist ja nicht ein Gut, weil sie ein verlornes entbehren hilft, sondern sie ist selber eines, und ein größeres als das ersetzte; auch der Seligste muß sie erwerben, sogar ohne Gelegenheit und Gabe von außen; ja es ist desto besser, wenn sie früher besessen wird als angewandt.

Zum Teil waren diese Täuschungen oder Rechtfertigungen Not und Schutzwehr gegen den tragischen Roquairol, der jede Freude und auch die seines Freundes mit düstern Kontrasten heben wollte; zum Teil muß auf jene ein edler Mann, der bisher sich in den Schmerz warf, ohne dessen Tiefe zu messen, und der immer seine Kraft, durch das Leben zu schwimmen, fühlen wollte, notwendig geraten, wenn er innen wird, daß sich der Schwerpunkt seiner Seligkeit und seiner Hölle verrückt und aus seinem Ich in ein fremdes begeben habe. »O wenn sie stürbe?« fragt' er[359] sich. Er hatt' es nicht gewohnt, vor irgendeinem Tode so zu erschrecken wie vor diesem. Daher faßte er diese Disteln der Phantasie recht scharf in die Hand, um sie zu zerdrücken. Am Ende, da die reine Landluft der Liebe und der Schäfertanz in diesem Arkadien immer mehr Rosen auf Lianens Wangen brachten, so hörten seine Disteln zu wachsen auf.

Allen übrigen Ottern des Lebens – sobald sie nur keinen Durchgang durch Lianens Herz sich machen konnten – war er unzugänglich. Um jeden Preis – und sollte er alles verlassen, entbehren, erzürnen, unternehmen – wollt' er Lianen erkaufen Die Schreckgespenster, die ihm aus zwei Häusern, Froulays und Gaspards, drohend entgegenliefen, ließ er heran und lösete sie auf: steht der Feind einmal da, dacht' er, so bin ich seiner auch.

Oft stand er im Tartarus und fand in diesem Stilleben des Todes von erhobner Arbeit Seelenstille. Die Gegenwart nimmt schneller unsern Widerschein als wir ihren an; auch hier gewann er sanfte, weite, das Leben lichtende Hoffnungen und süße Tränen, die ihm über Lianens Sterbe-Glauben entflossen, nicht weil er die Wahrscheinlichkeit, sondern weil er die Unwahrscheinlichkeit desselben sich dachte, die durch Liebe und Freude und Genesung täglich größer wurde.

Nur ein Unglück gabs für ihn, woran jede Waffe zersprang, dessen Möglichkeit er aber für einen sündigen Gedanken hielt, daß nämlich er und Liane durch Schuld, Zeit oder Menschen aufhören könnten, einander zu lieben; hier, auf zwei Herzen vertrauend, trotzt' er kühn der Zukunft; – O, wer sagte nicht, wenn er im Vertrauen auf eine warme Ewigkeit seine Entzückung ausdrückte: die Parze kann unser Leben zerschneiden, aber sie komme und öffne die Schere gegen das Band unserer Liebe! Den Tag darauf stand die Parze vor ihm und drückte die Schere zu.

119

Jede partiale Ausbildung wirkt freilich für das Ganze gut, aber nur darum, weil dessen entgegengesetzte partiale sie in einer höheren Gleichung und Summe aufhebt, so daß aus allen einzelnen Menschen nur die Glieder eines einzigen Riesen werden, wie der Schwedenborgische ist. Aber insofern in dem einen Individuum ein Mangel entsteht, der einem entgegengesetzten in dem andern abhilft – so daß der Weg der Menschheit gleich sehr plagt und stößet durch Vertiefung und durch Erhöhung –, so sieht man, daß jede einseitige Fülle nur Kur der Zeit ist, nicht Gesundheit derselben; und daß das höhere Gesetz zwar langsamere individuelle, aber harmonische Ausbildung bleibt; zwar kleinere, aber allseitige und dadurch in der spätern Zeit sogar schnellere. Wir vergessen immer, daß – wie in der Mechanik sich Kraft und Zeit gegenseitig ergänzen – die Ewigkeit die unendliche Kraft sei.

120

Nach dem Ingenieur Borreux trifft wörtlich nur der 1 000te Schuß des kleinen Gewehrs. – So ists überall, fürchte den Tod, so stehen fallende Blumentöpfe der Fenster, Blitze aus blauem Himmel, losgehende Windbüchsenschüsse, Herzpolypen, wütige Hunde, Räuber, jede Fingerwunde, aqua toffana, Schwamm-Leckerei etc., kurz die ganze Natur – diese immer fortgehende zerquetschende Kochenillen- Mühle – steht mit unzähligen geöffneten Parzenscheren rings um dich, und du hast keinen Trost, als daß dem ungeachtet die Leute achtzig Jahre alt werden. – Fürchte die Verarmung: so fassen dich Feuers-, Wasser-, Teurungs- und Kriegsnöten, eine Diebs-Vendee, Revolutionen mit gierigen Krallen und Fängen ein, und doch, du Reicher. Wird der Arme – unter denselben Stoßvögeln hinkriechend – am Ende so reich wie du. Geh also kühn durch die schlummernde Löwenherde rechts und links liegender Gefahren zum Brunnen hindurch, nur wecke sie nicht mutwillig auf. – Freilich zieht einzelne ein Höllengott hinab, die nichts fürchteten; aber auch einzelne ein oberer Gott hinauf, die nichts erwarteten; und Furcht und Hoffnung gehen hier unter in einer gemeinschaftlichen Nacht.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 3, München 1959–1963, S. 355-360.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Titan
Sämtliche Werke, 10 Bde., Bd.3, Titan
Titan (insel taschenbuch)
Titan. Bd. 1/2
Titan: A Romance from the German (German Edition)
Titan, Volumes 1-2 (German Edition)

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.

106 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon