78. Zykel

[432] Am schönsten Abende, als der Himmel bis auf den Boden aller Sterne durchsichtig war, ließ der Fürst die müde Versammlung nach Lilar fahren, um besser mit seinen beiden Unsichtbarkeiten, mit der Illumination und mit Lianens Rolle, zu trügen. Wie schlug dem redlichen Albano das weiche Herz banger und sanfter, als er unter dem Herabrollen von der Waldbrücke ins wartende Volksgetümmel sich dachte: Sie ist auch diesen Weg in das Lilar gegangen, das ihr sonst so lieb gewesen. Sein ganzes Ideenreich wurde ein Abendregen dessen eine Hälfte vor der Sonn glänzend zittert und dessen andere grau verschwindet. Ach, vor Lianen hatt' es ohne Sonnenschein geregnet, als sie heute verborgen bloß in den Tempel des Treums herüberfuhr, um nur ein geliebtes Wesen zu spielen, aber keines zu sein.

Noch brannte keine Lampe. Albano blickte in jede grüne Vertiefung nach seinem Engel des Lichts. Sogar der Fürst selber, der die plötzliche Peterskuppel-Entzündung noch mit seinen Winken zurückhielt, sah dem an Höfen so seltenen Vergnügen entgegen, zweifach zu überraschen. Die Fürstin hatte dem Minister die Verlegenheit der Lüge oder Antwort erspart, denn sie hatte gar nicht nach der künftigen Hofdame Liane gefragt, gleich dieser ganzen starken Weiberklasse gegen ihr Geschlecht gleichgültig,[432] aber desto fester an einer Auserwählten hangend. Albano erblickte im treibenden, verdunkelten Getümmel seine Pflegeeltern und Rabette, aber in diesem Taumel des Bodens und der Seele konnt' er wie andere seine Augen nur auf den selber verhangnen Vorhang richten, hinter dem er mehr als alle andere zu finden und zu verlieren hatte. Doch in Jugendjahren hängt kein schwarzer, nur ein bunter herab, und an allen ihren Schmerzen sind noch Hoffnungen!

Das Volk wartete auf den Glanz und auf die Musik. Der Fürst führte endlich seine Braut dem Tempel des Traumes entgegen; Karl, heute blind gegen, nicht für seine Rabette, nahm den brennenden Grafen mit. Am äußern Tempel ließ sich nichts erraten, was seinem magischen Namen entsprach; bloß die Fenster gingen vom Dache dieses Pavillons bis auf den Boden nieder und waren, statt von Rahmen und Fenstersteinen, in Zweige und Blätter gefasset. Aber als die Fürstin durch eine Glas-Türe eingetreten war, schien ihr der Pavillon verschwunden; man stand, schien es, auf einem einsamen, von einigen Baumstämmen bewachten freien Platz, welchen alle Perspektiven des Gartens durchkreuzten. Wunderbar, wie von spielenden Träumen, waren Lilars Gegenden untereinandergeworfen und die entgegengesetzten zusammengerückt – neben dem Berg mit dem Donnerhäuschen stand der mit dem Altare, und hart neben dem Zauberwald bäumte sich der hohe, schwarze Tartarus auf – Ferne und Nähe verschlangen sich ineinander – ein frischer Regenbogen von Gartenfarben und ein entfärbter Nebenregenbogen liefen nebeneinander fort, wie im Erwachen der Schatten des Traumbilds noch sichtbar vor der blitzenden Gegenwart entläuft. Indes die Fürstin noch in das träumerische Blendwerk versank137: so trat wie aus der Luft Liane durch eine gläserne Seiten-Türe in Idoinens Lieblingsanzug, im weißen Kleide mit Silberblumen und in ungeschmücktem Haar mit einem Schleier, der nur angesteckt an der linken Seite lang[433] niederfloß, wankend hervor und lispelte, als die Fürstin getäuscht »Idoine!« ausrief, zitternd und kaum hörbar: »Je ne suis qu'un songe.«138 – Sie sollte mehr sagen und eine Blume reichen; aber als die bewegte Fürstin fortrief: »Soeur cherie!« und sie heftig in die Arme schloß, so vergaß sie alles und weinte nur ihr Herz an einem andern Herzen aus, weil ihr das fremde, vergebliche Schmachten nach einer Schwester so rührend war. – Albano stand nahe an der erhebenden Szene; der Verband von allen Wunden wurd' ihm abgerissen, und ihr Blut floß warm aus allen nieder. O, nie war sie oder irgendeine Gestalt so ätherisch-schön, so himmlisch-blühend und so demütig gewesen!

Als sie die Augen aus der Umarmung aufhob, fielen sie auf Albanos bleiches Gesicht. Es war bleich nicht vor Krankheit, sondern vor Bewegung. Sie fuhr zuckend zurück, umarmte die Fürstin wieder; der bleiche Mensch hatte ihr bewegtes Herz in eine Träne nach der andern zerrissen; aber beide grüßten sich nicht und so fing ihr Abend an.

Während der Täuschung und Umarmung waren auf einen Wink des Fürsten alle Zweige und Tore des Gartens in einen glänzenden Brand gesteckt – alle Wasserwerke des Zauberwaldes flatterten mit goldnen Flügeln aufgeschreckt hoch empor – im umgekehrten Regen spielte eine weiße, grüne, goldne und finstere Welt, und die Wasser und die Flammenstrahlen flogen wie Silber- und Goldfasanen mutwillig gegeneinander an. – Und der Glanz des brennenden Edens umfing den Tempel des Traums, und der Widerschein legte sich in sein inneres grünes Laubwerk vergoldend.

Liane trat an der Hand der ehrenden Fürstin mit niedergeschlagnen, verschämten Augen in die helle, rege Sonnenstadt heraus, ins Getümmel der Musik und der frohen Zuschauer. Auf Albano schoß die stürmische Gegenwart wie ein Strom; die entgegengesetzten verworrenen Rollen vor entgegengesetzten Menschen – der Freudenglanz des Abends – und die nächtliche Verwirrung in seiner Brust machten seinen festen Gang durch diesen Abend schwer.[434]

Die Fürstin zog ihn bald in ihren Wirbeln weiter; Lianen ließ sie nicht von sich. Der Minister färbte und steifte mit alten Galanterien den erotischen Sklaven auf; aber jedem schien er, da die Fürstin den Kredit nach dem Tode des Fürsten bestimmt, nur die Sitte der Minister nachzumachen, deren Geist gern vom Vater und Dauphin – filioque – zugleich ausgeht, um sich nicht zwischen, sondern auf zwei Fürsten-Stühle zu setzen. Sie schien indes seit seiner Maschinerie mit Lianen ihn stolzer aufzunehmen. Hinlänglich beglückte ihn das Glück der Tochter, wie seinen Schwiegersohn Bouverot die Nähe derselben genug, und das Schelmen-Paar lag tief und ganz in Blumen weidend. Albano erriet weiter nichts, als daß sogar ein kalter Drache, ein Seelenurangutang die Reize dieses Engels dunkel spüre.

Die Ministerin und der Lektor teilten sich leicht wechselnd in die Bewachung Lianens vor jedem Worte – Albanos. Die Fürstin ließ sich durch die funkelnden Lustgänge, durch den in nassen Blitzen stehenden Zauberwald und zuletzt an das Donnerhäuschen führen, um den brennenden Garten aus allen Punkten in ihr malerisches Auge zu nehmen; Liane und Albano begleiteten sie durch alle Gänge ihres welken, kahlen Arkadiens und hielten ihre zertrümmerten Herzen stumm und fest zusammen. Sie gab, treu ihrem Wort gegen die Eltern, ihm keinen wärmern Blick und Anklang wie jedem, aber auch keinen kältern; denn ihre Seele wollte ja nicht quälen, sondern nur leiden und gehorchen. Er machte glaubt' er – alle Blicke und Laute sanft; auch rächte sich der edle Mensch durch keinen Schein der Kälte oder gar einer untreuen Befreundung mit der fürstlichen Kron- und Herzenswerberin.

Die Fürstin fing an, ihm unverständlich zu werden. Man kam vom Romantischen auf Roman, dann auf die Frage, warum er die Ehe nicht male; »weil er« (versetzte sie) »ohne den Amor nicht sein kann.« – »Und die Ehe?« fragte unhöflich Albano. – »Nicht ohne einen Freund;« (sagte sie) »aber Amor ist ein Gott, nec deus intersit nisi dignus vindice nodus inciderit139 – - «, setzte sie dazu, weil sie Latein der Dichter wegen gelernt hatte.[435]

Bouverot sagte den Vers gar aus, um den Sinn doppelsinnig zu machen:


»– nec quarta loqui persona laboret.«140


Niemand verstand das letztere als der Lektor und die Fürstin.

»Warum sind an jenem Hause« (fragte sie) »keine Lampen, wer wohnt da?« Sie meinte Speners Haus. Liane beantwortete nur das letztere und schloß das warme Bild mit den Worten: »Er lebt für die Unsterblichkeit.« – »Was schreibt er?« fragte die mißverstehende Fürstin; und Liane mußte eine christliche Erklärung geben, worüber die Ungläubige lächelte. Es erhob sich sogar für und gegen den ewigen Schlaf ein Streit, der nicht viel weniger Zeit wegnahm, als sie brauchten, um das Donnerhäuschen zu umkreisen. Die Fürstin fing an: »Wir würden gegen unsern täglichen Schlaf ebensoviel, wenn er nicht da wäre, einzuwenden wissen wie gegen den ewigen.« – »Noch mehr aber gegen das Erwachen daraus«, griff Albano ein und kürzte die Religionsunruhen ab.

Die Fürstin kam auf den ihr durch die lange Trauer über ihren verstorbnen Schwiegervater auffallenden Spener wieder nachfragend zurück; und Liane, des mütterlichen Beifalls gewiß, ergoß sich in einen Strom der Rede und Rührung – ihren Augen war einer verboten –, der ein erhabenes Bild ihres Lehrers vorübertrug. Wie erschütterte die Erhabenheit dieser so weichen, zarten Seele ihren Freund! So richten sich im blassen, kleinen Mond und Abendsterne höhere Gebürge als auf der größern Erde auf! – »Sie war auch einmal für dich begeistert, aber nun nicht mehr«, sagte Albano zu sich und blieb hinter allen zurück, weil seine Seele schon längst voll Schmerzen war und weil ihm jetzt die Fürstin zu mißfallen anfing.

Er stellte sich allein und sah dem rauschenden, leuchtenden Waffentanze der Freude zu. Die Kinder liefen beglänzt durch den Lärm und im hellgrünen Laub. Die Töne schwebten, zu einem Kranze ineinandergeschlungen, hoch in ihrem Äther über den[436] lauten Menschen fest und sangen ihnen ihre Himmelslieder herab. Nur in mir, sagt' er sich, wälzen die Töne und die Lichter den Schmerz hin und her, in niemand weiter, in Ihr gar nicht; sie hat für alle das alte erfreuende Liebesherz mitgebracht, für mich nicht; sie hat bisher nicht gelitten, sie blüht genesen. Er bedachte aber nicht, daß ja auch seine Kämpfe keinen Tropfen Wasser in das dunkle Rot seiner Jugend gegossen; in Lianen konnten Wunden aus solchen Kämpfen nur wie jene der geritzten Aphrodite die weißen Rosen zu roten färben.

Aber er nahm sich vor, ein Mann zu bleiben vor so vielen Augen und die Entscheidung und Lianens Einsamkeit abzuwarten. Er wechselte daher mit seinen Pflege-Verwandten aus Blumenbühl mehrere verständige Worte; – er sagte zu Rabetten: »Nicht wahr, es gefällt dir?« – er schreckte ohne Willen den um einige neue Gesichter aus Haarhaar schwebenden Hauptmann mit der nichtsmeinenden Frage auf: »Warum lässest du meine Schwester so allein?«

Aber sooft er hinübersah zu Lianen, die heute in ihrem langen Schleier als die einzige ohne schwere dicke Gala-Hülse, gleichsam als eine junge, atmende, weiche Gestalt unter steinernen angestrichnen Statuen ging, so verschämt-beschämend, wie eine Zitternadel glänzend und bebend, so oft wälzten sich Flammenklumpen in ihm los. Die Leidenschaft wirft uns, wie die Epilepsie oft ihre Elenden, gerade an gefährliche Stellen des Lebens, an Ufer und Klüfte hin. Er lehnte den Kopf an einen Baum, ein wenig gebückt; da kam Karl aus seinen Freuden-Walzern daher und fragte ihn erschrocken, was ihn so erzürne; denn das Niederbücken hatte auf sein straffes, markiges Gesicht düstere, wilde Schatten geworfen; »nichts«, sagt' er, und das Gesicht leuchtete mild, da ers emporhob. Jetzt kam auch die unbedachtsame Rabette und wollte ihn in die Freude ziehen und sagte: »Dir fehlt was!« – »Du«, versetzt' er und sah sie sehr zornig an.

»Geh in den finstern Eichenhain an Gaspards Felsen!« (rief sein Herz) »dein Vater beugte sich nie; sei sein Sohn!« Er schritt durch die Glanz-Welt darauf hin; aber als er innen in der Finsternis mit dem Kopfe am Felsen lehnte und die Töne neckend hereinspielten[437] und er sich dachte, wie er eine so edle Seele geliebet hätte, o wie sehr: so war es, als sag' etwas in ihm: »Jetzt hast du deinen ersten Schmerz: auf der Welt!«

Wie bei dem Erdbeben Türen springen und Glocken schlagen: so riß bei dem Gedanken »erster Schmerz« seine Seele auseinander, und harte Tränen schlugen nieder. Aber er wunderte sich, daß er sich weinen hörte, und trocknete erzürnt das Gesicht am kalten Moose ab.

Schwächer, nicht härter trat er in das zauberische, mit glimmenden Edelsteinen beworfene Land heraus und unter die trunkener entgegenhüpfenden Töne, die die Seele wegreißen und aufheben und auf Höhen stellen wollten, damit sie in weite Frühlinge des Lebens hinunterschauete! Hier auf diesem sonst seligen Boden sah er die zerrissene, zertretene Perlenschnur seiner künftigen Tage liegen. »O, wie wir an diesem Abende hätten selig sein können!« dacht' er und sah ins helle Laubhüttenfest, in das vergoldete, aber lebendige Laubwerk – in den grünen umherirrenden Widerschein, vom Nachtwinde gewiegt – und in das Lauffeuer brennender Gebüsche in den fließenden Wassern – auf den bogigen Triumphtoren standen Lichter wie herabgezogne Himmelswagen – und hinter ihm die schwarze Klostermauer des Tartarus, der erhaben in seinen Gipfeln nur einzelne Lichtchen zeigte – und drüben die stillen, schlafenden Berge in der Nacht und hier das laute Leben der Menschen, mit den Nachtschmetterlingen um die Lampen spielend!

So erschafft sich in uns das Feuer selber den Sturmwind, der es noch höher jagt. Neben ihm liefen die Töne und sagten ihm jeden Gedanken, den er töten wollte. Wie der Mensch sich selber sieht, so hört er sich selber oft vor dem Tone.

Jetzt ging Liane in einiger Ferne von der Menge mit Augusti »Ich will mit ihr reden, so ists aus«, sagt' er zu sich. Als er neben ihr kämpfend und ringend ging: merkt' er wohl, daß sie wieder unter fremde Zuhörer zurückwollte. »Liane, was hab' ich dir denn getan?« sagte er mit dem Seelentone eines zärtlichen Herzens, bitter des Lektors Gegenwart und Kräfte verachtend. »Verlangen Sie nur heute keine Antwort, lieber Graf«, sagte sie zurückkehrend[438] und nahm eilig Augustis Arm; aber er merkte nicht, daß sie es tat, um nicht zu sinken. Hier warf er auf diesen einen Flammenblick, hoffend, beleidigt und dann gerächt zu werden verließ sie hastig und stumm – den süßesten Liebes-Wein hatte ein heißer Strahl zu Essig geschärft – und er verlief sich, ohn' es zu wissen, in den Traum-Tempel.

Er ging darin auf und ab, murmelte: »Je ne suis qu'un songe«; wurde aber bald vom Hasse der mitlaufenden Spiegel-Ichs hinausgetrieben in den Tartarus und von dem nachfliegenden ewigen Frühling der Töne, der ihm jetzt neben dem umgeackerten Blumenbeete des Lebens so unerträglich war.

Im Tartarus fand er alle Anstalten des Schreckens sehr kleinlich und lächerlich. Da kamen ihm unweit des Katakombenganges Roquairol und Rabette entgegen. Roquairols flammendes Gesicht erlosch, und Rabetten ihres kehrte sich rückwärts, da Albano heftig gegen sie hinschritt und, durch die Erinnerung gleichzeitiger Himmel mehr erbittert und durch das Anwehen in seine glühenden Ruinen aufflammend, den Hauptmann anpackte: »Bist du ein Freund? – Bist du kein Teufel? – – Du hast mich auf diesen Abend verwiesen; nie, nie red ein Wort mehr von ihm!« – Beide zitterten bestürzt und entfärbt; Albano schrieb das Erbleichen und Abwenden, ohne weiter nachzudenken, ihrem Anteile an seiner Marter zu. Welche verwirrende, feindselige Nacht!

Er schweifte immer weiter, ihn peinigte das nachleckende Freudenfeuer der Töne unsäglich – lügende entgegenflatternde Tropikvögel der schönern wärmern Zone waren sie ihm – »Ich will ja bloß in mein Bette, sobald es nur still wird drinnen!« – Er war eine halbe Meile weit, als das Lilarsche Tönen ihm noch immer nachzog; er drückte grimmig die Ohren zu, aber Lilar spielte darin noch fort – da merkte er, daß er nur sich höre. Aber immer war ihm, als müßte sich das lustige Geklingle wie im Don Juan auflösen in das Zetergetöne von Geistern.

Fürchterlich spitz lief ihm die Allee der künftigen Tage zu, da er nun aus ihnen den Mond seines Himmels, der schon über sein kindisches Herz und über die Blumenbühler Pfade geleuchtet,[439] herausriß. Der blühende, hüpfende Genius seiner Vergangenheit schlich ungesehen, den Freudenkranz bloß in der Hand, hinter ihm weg, indes er mit dem vor ihm gehenden schwarzen Engel der Zukunft kämpfte, der ihn nachschleppte durch brausende Waldungen – durch schläfrige Dörfer – durch nasse, triefende Täler. – Endlich sah Albano gen Himmel unter die ewigen, unzähligen Sterne, zu dem hängenden Blüten-Garten Gottes: »Ich schäme mich vor euch nicht,« sagt' er, »weil ich auf dieser Kugel weine und gepresset bin vor eurer Unermeßlichkeit – droben steht ihr alle weit auseinander – und auf allen großen Welten hat jeder arme Geist doch nur eine kleine Stelle unter seinen Füßen, wo er glücklich oder elend wird. – Ist nur diese Nacht vorbei und ich ins Bette: morgen bin ich gewiß ein Mann und fest!«

Plötzlich hört' er mehrmals einen fast erbitterten Klageschrei. Endlich erblickt' er neben einem Flusse ausgestreckte weiße Ärmel oder Arme; er ging an die weibliche Gestalt. »Ich bin leider Gottes blind«, sagte sie; »ich war auch mit bei der Illumination und bin irre gelaufen – ich kenne sonst Weg und Steg, drüben liegt unser Dorf, ich höre den Hirtenhund – aber ich kann den Steg übers Wasser nicht finden.« Es war die erwachsene Blinde von der Sennenhütte. »Gehts noch lustig da zu?« fragt' er unter dem Führen. »Alles aus«, sagte sie. Am Rosanastege ließ sie sich aus Eitelkeit nicht weiter zurechtweisen.

Er kehrte durch die schönen, schon vom Morgen tauenden Gebüsche auf eine Höhe vor Lilar – alles war still drunten – wenige zerstreuete Lampen flackerten im Flötental, und noch am Tartarus das Paar wie Todes-Tigeraugen – er ging in das leere Land hinunter über das stumme, platte Grab hinweg – seinen finstern, sinkend-steigenden Höhlengang hinauf – und in sein Bette hinein. »Morgen!« sagt' er kräftig und meinte seine Standhaftigkeit.[440]

137

Zwischen zwei Fenstern stand immer ein Pfeilerspiegel und mengte seine zurückgespiegelte ferne Perspektive unter die der Fenster. Jedem Spiegel stand nur ein Fenster gegenüber; den Zwischenraum zwischen beiden verbarg und erfüllte Laubwerk.

138

Ich bin nur ein Traum.

139

Es braucht eben keinen Gott, wenn nicht ein Knoten daliegt, der nicht anders zu lösen ist.

140

Und ein Vierter (wenn nämlich die Eheleute und der Freund da sind) braucht nicht mit in die Sache zu reden.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 3, München 1959–1963, S. 432-441.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Titan
Sämtliche Werke, 10 Bde., Bd.3, Titan
Titan (insel taschenbuch)
Titan. Bd. 1/2
Titan: A Romance from the German (German Edition)
Titan, Volumes 1-2 (German Edition)

Buchempfehlung

Hoffmannswaldau, Christian Hoffmann von

Gedichte

Gedichte

»Was soll ich von deinen augen/ und den weissen brüsten sagen?/ Jene sind der Venus führer/ diese sind ihr sieges-wagen.«

224 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon