66. Zykel

[341] Der Wagen flog durchs Dorf mit den vier jungen Menschen wie tut unserm Jüngling die Weite des Himmels und der Erde wohl! Das Portal des Lebens, die Jugend, war mit Blumen und Lichtern behangen. Sie rollten unten am Berge vor der Vogelstange vorbei, der Zeigerstange eines Knaben-Arkadiens, vor der Wiege, wo er kindlich-schlaftrunken nach dem hohen Himmel langte mit dem Knaben-Arm – und durch das ihm jetzt nur zu Gebüsch gesunkne Birkenwäldchen, das er an jenem goldnen Morgen so breit und lang gefunden – und vorbei vor den östlichen offnen Triumphbogen, hinter denen das Meer des vielgestaltigen Lilars seine Reize wogen ließ – und hinter der Bergmauer des Flötentals schickten sie den Wagen zurück.

Sie gingen auf einer herrlichen Erde unter einem herrlichen Himmel. Rein und weiß schwamm die Sonne wie ein Schwan durch die blaue Flut – Fluren und Dörfer drängten sich dichter an die fernen niedrigen Gebürge – ein sanfter Wind trieb die grünen Ähren-Wogen auf der Ebene umher – an den Hügeln ruhten Schatten unter den Schwingen weißer Wölkchen fest – und hinter den Gipfeln der Anhöhe zogen die Mastbäume der Rheinschiffe majestätisch weg.

Wie Albano so nahe neben der Geliebten ging, fiel das unter seinem Eden brennende Fegfeuer immer tiefer in den Erdkern zurück; voll Unruhe und Hoffnung warf er das feurige Auge bald auf den Sommer, bald auf den milden Hesperus-Stern, der so nahe an ihm aus dem Frühlingsäther schimmerte. Die Gute schien heute stiller, ernster und unruhiger als sonst. Als sie durch ein überall offnes Laubwäldchen am Hügelrücken, der das[341] Flötental umzog, hingingen: sagte Liane plötzlich zum Grafen, sie höre Flöten. Kaum konnt' er sagen, er höre nur ferne Turteltauben: als sie auf einmal sich wie zu etwas Wunderbarem sammlete – ihr Auge in den Himmel heftete – lächelte – und plötzlich sich nach Albano umsah und rot wurde. Sie redete ihn an: »Ich will aufrichtig sein, ich höre jetzt in mir Musik114 – sehen Sie mir heute meine Schwäche und Weichheit nach; es kommt von gestern.« – »Ich – Ihnen?« sagt' er heftig; denn er, um welchen in Krankheiten nur brennende Bilder stürmten, wurde zur Verehrung eines Wesens begeistert, zu welchem gleichsam aus einer höhern Welt in seinen Schmerzen wie goldne Sonnenstrahlen leise Töne reichen, die verhüllt durch die rauhe Tiefe gehen.

Aber Liane, wie um sein Feuer abzuwenden, kam auf ihre Freundin Karoline und sagte: wie sie ihr an solchen Tagen und zumal auf diesem Spaziergange immer vorschwebe. »Anfangs sucht' ich sie auf,« (sagte Liane) »weil sie meiner Linda glich. Sie war meine Lehrerin, ob sie gleich nur einige Wochen älter war als ich. Ihr frommer, strenger, unerschrockner Charakter und ihre Willigkeit, sich freudig und stumm aufzuopfern, machte sie sogar, wenn ich es so sagen darf, in den Augen ihrer Mutter verehrungswürdig. Man sah sie niemals weinen, so weich sie auch war, bloß um ihre Mutter immer heiter zu machen. Wir wollten miteinander den Schleier nehmen, um beisammen zu bleiben; ich würde nicht alt werden, sagte sie, und ich müßte mein kurzes Leben froh und ohne Sorgen, aber auch in Zubereitung auf das andere verbringen. Ach sie ging selber voran! Die Nachtwachen am Krankenbette ihrer Mutter und der Schmerz über den Tod nahmen sie dahin. Sie empfing das heilige Nachtmahl, auf das wir uns miteinander zubereiteten, im Sterben allein. – Da gab mir der Engel diesen Schleier, worin ich ihr einst folgen soll. – O, gute, gute Karoline!« – Sie weinte unverhohlen und drückte bewegt Albanos Hand. »O ich hätte nicht davon anfangen sollen![342]

– Dort kommt schon unser Freund; wir wollen recht heiter sein.« –

Sie waren jetzt durch ein hohes Gebüsche, das neckend die umherschweifenden Landschaften auf- und zudeckte, nahe an die über das Flötental hereinschauende Turmspitze gelangt, neben welcher eine einsame Kirche und Speners Wohnung lag und unten in der Ebene das offne Dorf. Spener ging seiner Schülerin – nach Greisen-Sitte um andere unbekümmert – entgegen, und ein junges Reh lief ihm nach. Eine schöne Stelle! Kleine weiße Pfauen – freie Turteltauben – eine Bienenstadt mitten in ihrer Bienenflora – alles sagte den ruhigen Alten an, dem nun die ehrende Erde dient und der, gleichgültig gegen sie, nur in Gott lebt. Er kam gegen die Erwartung eines kirchlichen Ernstes mit einem leichten Scherz über die bunte Reihe an und legte die segnenden Finger auf Lianens Stirn, die seine Enkelin zu sein schien, gleichsam eine zweite Baum-Blüte im Spätherbst des Lebens. Sie steckte ihm töchterlich den Strauß der Zwerg-Röschen an die Brust und gab sehr acht, ob es ihn besonders freue. Sie lächelte ganz heiter, und alle ihre Tränen schienen verweht; aber sie glich dem beregneten Baum unter der wiederlachenden Sonne: die kleinste Erschütterung wirft den alten Regen vom stillen Laub.

Der alte Mann erfreuete sich über die Teilnahme der jungen Leute und blieb mit ihnen auf der blühenden und lärmenden Anhöhe, welche zwischen einer weiten Landschaft und zwischen den reichbeladen ins Elysium hineinlaufenden Bergrücken thronte. Sie ließen ihn, da zu ihm wie zu einem, der im Luftschiff aufsteigt, die Töne der Erde nicht so weit nachreichten als die Gestalten, mehr reden als hören, wie man Alte schonet.

Er sprach bald von dem, worin sein Herz atmete und lebte; aber in einer sonderbaren, halb theologischen, halb französischen, Wolffianischen und poetischen Sprache. Man sollte von manches Schwärmers Poesie und Philosophie statt der VerbalRealübersetzungen geben, damit man sähe, wie die gold-reine Wahrheit unter allen Hüllen glühe. Spener sagt in meiner Übersetzung: »er habe sich sonst, eh' er das Rechte gefunden, in jeder menschlichen[343] Freundschaft und Liebe gemartert. Er habe, wenn er inbrünstig geliebt wurde, zu sich gesagt, daß er sich selber ja nie so ansehen oder lieben könne; und ebenso könne ja das geliebte Wesen nicht so von sich denken wie das liebende, und wär' es noch so vollkommen oder so eigenliebig. Sähe jeder den andern an wie er sich: so gäb' es keine feurige Liebe. Aber jede fordere einen unendlichen Wert und sterbe an jedem unauflöslichen, deutlich erkannten Fehl; sie hebe ihren Gegenstand aus allen heraus und über alle und verlange eine Gegenliebe ohne Grenze, ohne allen Eigennutz, ohne Teilung, ohne Stillstand, ohn' Ende. Das sei ja das göttliche Wesen, aber nicht der flüchtige, sündige, wechselnde Mensch. Daher müsse sich das liebekranke Herz in den Geber dieser und jeder Liebe selber, in die Fülle alles Guten und Schönen, in die uneigennützige, unbegrenzte All-Liebe senken und darin zergehen und aufleben, selig im Wechsel des Zusammenziehens und Ausdehnens. Dann sieht es zurück auf die Welt und findet überall Gott und seinen Widerschein – die Welten sind seine Taten – jeder fromme Mensch ist ein Wort, ein Blick des All-Liebenden; denn die Liebe zu Gott ist das Göttliche, und ihn meint das Herz in jedem Herz.« – –

»Aber« – (sagte Albano, dessen frisches energisches Leben aller mystischen Vernichtung widersträubte) – »wie liebt uns denn Gott?« – »Wie ein Vater sein Kind, nicht weil es das beste ist, sondern weil es ihn braucht. 115« – »Und woher« (fragt' er weiter) »kommt denn das Böse im Menschen und der Schmerz?« – »Vom Teufel«, sagte der Greis und malte ununterbrochen mit verklärter Freude den Himmel seines Herzens aus, wie es immer umgeben sei vom all-geliebten All-Liebenden, wie es gar kein Glück und keine Gaben von ihm begehre (die man nicht einmal in der irdischen Liebe wünsche), sondern nur immer höhere Liebe gegen ihn selber, und wie es, indem der Abendnebel des Alters immer dichter um seine Sinne ziehe, sich im Lebens-Dunkel immer fester von den unsichtbaren Armen umschlungen fühle. »Ich bin bald bei Gott!« sagt' er mit einem Glanze der Liebe auf dem[344] vom Leben erkälteten und unter den Jahren einbrechenden Gesicht. Man hätt' es ausgehalten, ihn sterben zu sehen. So steht der Montblanc vor dem aufgehenden Mond; die Nacht verhüllt seinen Fuß und seine Brust, aber der lichte Gipfel hängt hoch im dunkeln Himmel, als ein Stern unter den Sternen.

Liane hatte wie eine Tochter das Auge und die Hand nicht von ihm gelassen und jeden Laut schmachtend eingesogen; ihr Bruder hatt' ihn mit mehr Freude als Alban gehört, aber bloß um den mystischen Heros ganz in den mimischen Berg Athos seiner Nachbildung reiner abzuformen; und Rabette hatt' ihn wie in einer Kirche unter gläubigen – Nebengedanken angeschauet.

Er entfernte sich jetzt ohne Umstände, um für seine Tiere zu sorgen, die er wie alles Unwillkürliche, z.B. die Kinder, wie aus der ersten Hand Gottes kommend liebte; alles sei göttlich, sagt' er, und nichts irdisch als das Unmoralische. Er konnte keine Bienen schwefeln, keine Blumen im Scherben-Käfig verdursten lassen, kein abgetriebnes, wundes Pferd ertragen und ging vor einer Fleischbank nur mit schaudernden Gliedern vorüber.

»Wollen wir« (sagte der Freund Karl) »den herrlichen Abend auf der prächtigen Bergstraße einnehmen und dein Donnerhäuschen besehen und jeden Leidens-Kelch herunterwerfen in die Täler hinein?« – Welche magische Nachbarschaft durchzogen sie nun auf dem gebognen Gebirge zum Donnerhäuschen! Zur Rechten gleichsam den Okzident der Natur, zur Linken ihren Orient – vor ihnen das prangende Lilar in der Abendfeerei – der glänzenden Rosana in den Armen liegend – Ährengold hinter Pappelsilber – und darüber den Himmel, gefüllt mit lebenstrunknen lärmenden Wesen – und der Sonnengott schreitet über seinen Abend weg und bückt sich ein wenig unter der Mitternacht, um in Osten das goldne Haupt zu erheben. Albano ging an Lianens heiliger Hand voraus. »O wie ist alles so schön!« (sagt' er) »Wie rauschet die aufgeblätterte Weltkarte mit langen Flüssen und Wäldern – wie sonnen sich die Morgenberge in fester Ruhe – wie steigen die Haine mit glühenden Stämmen die Hügel hinauf man möchte sich in die rauchenden Täler stürzen und in die kalten glänzenden Wellen – ach Liane, wie ist alles so schön!« –[345] »Und Gott ist auf der Welt«, sagte sie – »und in dir!« sagte er und dachte an das Wort des Greisen, daß die Liebe Gott meine und er im Herzen wohne, das wir ehren.

Jetzt rollten ihm schon die großen Wogen entgegen, welche die Äolsharfe im Donnerhäuschen schlug; und sein Genius flog vor ihm vorbei mit den Worten: sag ihr darin dein ganzes Herz.

Vor der kleinen Hütte der gestrigen Träume ging sein stürmendes Herz auseinander; und die Sonne und die Erde schwankten vor den wilden Tränen. Da er hineintrat mit ihr in den füllenden Rosenglanz der Abendsonne und in das Geistergetümmel der einsam miteinander redenden Töne: so faßte er Lianens Hände und drückte sie wild an seine Brust und sank vor ihr ohne Laut und geblendet nieder – Flammen und Tränen flogen über Augen und Wangen – der Wirbelwind der Töne wehte in seine lodernde Seele – der milde Engel der Unschuld bückte sich weinend und bebend gegen den brennenden Sonnengott – und es schlängelte sich ein Schmerz wie eine bleiche Schlange durch die Rosen des milden Angesichts – und Albano stammelte: »Liane, ich liebe dich –«....

Da kehrte die Schlange um und faßte und bedeckte die süße Rosen-Gestalt. »O guter Mensch, du bist unglücklich, aber ich bin unschuldig.« Sie trat erhaben zurück und zog schnell den weißen Schleier über ihr Gesicht herab und sagte außer sich: »Liebst du die Toten? Das ist mein Leichenschleier; im künftigen Jahre liegt er auf diesem Gesicht.« – »Das ist nicht wahr«, sagte Albano. »Karoline, antworte ihm!« sagte sie und sah starr in die brennende Sonne wie nach einer höhern Erscheinung. Fürchterliche Minute! wie bei dem Erdbeben das Meer wogt und die Luft fürchterlich still ruht- so war seine Lippe neben der Verschleierten stumm und das ganze Herz ein Sturm – auf den Saiten wandelte eine seufzende Geisterwelt vorüber, und der letzte endigte mit einem scharfen Schrei – die Schönheit der Erde verzerrte sich vor ihm, und in das Abendgewölk waren breite Feuerfahnen gepflanzt, und das Sonnenauge schloß sich blutend zu. – –

Auf einmal faltete Liane wie betend die Hände und lächelte und errötete; da hob sie den Schleier von den göttlichen Augen, und[346] die Verklärte, vom Rosen-Widerschein angestrahlt, sah ihn zärtlich an – und schlug das Auge nieder – und hob es wieder auf – und senkt' es nieder – und der Schleier fiel wieder vor, und sie sagte leise: »Ich will dich lieben, guter Albano, wenn ich dich nicht elend mache.« – »Ich sterbe mit dir,« sagt' er, »was ists?« – Und nun verhülle die heilige Wolke den Sonnengott, der flammend durch seine Sterne zieht! – –

Seine Einsamkeit und Lianens Auflösung so vieler Wunder wurden durch den Eintritt Rabettens und Karls verschoben, welche beide mehr gerührt als beglückt schienen, sie durch die tröstende Nähe des Geliebten, er durch die sonderbare Lage und durch den zwingenden Abend; denn gewissen Menschen geht ein Sturm nach, und sie müssen die Schritte, die sie tun, wider Willen schneller machen.

Als Albano wieder mit dem Friedensengel seines Lebens, mit der Geliebten, die mitten im Rauschen der Gefühle doch die Stimme ihrer Freundin hörte, allein vorausging auf den Felsendamm zwischen duftenden Tempetälern in der dämmernden Welt: so war ihm, als habe sich sein Leben wie ein Adler durch eine Sturmwolke durchgearbeitet und der schwarze Sturm laufe unter seinen Flügeln weiter und der ganze Sternenhimmel brenne hell über seinem Haupt. Liane, jungfräulich-edel und fest, gab ihm, eh' er eine Frage getan, die Antwort: »Ihnen muß ich nun ein Geheimnis sagen, was ich jedem und sogar meiner Mutter verbarg, weil es sie beunruhigt hätte. Ich erzählte vorhin von meiner unvergeßlichen Karoline. Am Tage meines Abendmahls, das ich mit ihr empfangen wollen, ging ich nachts von meinem Lehrer zur Mutter zurück, und zwar durch die sonderbare lange Höhle, worin man niederzusteigen glaubt, wenn man aufwärts steigt. Mein Mädchen ging mit der Laterne voraus. In der romantischen Laube, wo ein Hohlspiegel steht, kehr' ich mich gegen den hereinströmenden Vollmond, aus Furcht vor dem wilden Spiegel, der den Menschen zu grausam verzieht. Plötzlich hör' ich ein himmlisches Konzert, wie nachher öfters wieder in Krankheiten – ich denke an meine selige Freundin – und schaue voll Sehnsucht in den Mond. – – Da sah' ich sie mir gegenüber, mit unzähligen[347] Strahlen – in ihren schönen Augen war ein zärtlicher Blick, aber doch etwas Auflösendes; der zarte, fast allein lebendige Mund glich einer roten, aber durchsichtigen Frucht, und alle ihre Farben schienen nur Licht zu sein. Doch nur im blauen Auge und roten Munde schien der Engel Karolinen ähnlich. Ich könnt' ihn zeichnen, wenn man mit Licht malen könnte. Ich wurde gefährlich krank; da erschien sie mir öfter und erquickte mich mit unsäglich-süßen Lauten – es waren keine rechte Worte –, worauf ich immer in einen sanften Schlaf wie in einen süßen Tod versank. Einmal fragt' ich sie – mehr mit innern Worten –, ob ich denn bald zu ihr ziehe ins Reich des Lichts. Sie antwortete, ich stürbe jetzt nicht, sondern etwas später, und sie nannte recht deutlich das künftige Jahr und sogar den Tag, den ich aber vergessen.... O lieber Albano! vergeben Sie mir nur einige Worte! Ich genas bald und trauerte über die lange schleppende Zeit«

»Nein« – (unterbrach Albano sie, dessen Gefühle wie Schwerter gegeneinanderschlugen) – »ich ehre, aber hasse Ihr gefährliches Schreckbild. Phantasie und Krankheit sind die Eltern des luftigen Würgengels, der wie ein taubes Wetterleuchten sengend über alle Blüten der Jugend fliegt.«

Sie antwortete gerührt: »O du guter, frommer Geist! du hast mich nie betrübt, du hast mich stets getröstet, geleitet, froh und fromm gemacht. – Ein Schreckbild ist er, Albano? – Eben gegen alle Schreckbilder, gegen alle Geisterfurcht bewahrt er mich, weil er immer um mich ist. Warum, wenn er nur ein Traumbild ist, erscheint er mir nie in meinen Träumen?116 Warum kommt er nicht, wenn ich will? Sondern bloß in wichtigen Fällen; dann frag' ich ihn und gehorche sehr gern. Er ist mir heute, Albano,« (setzte sie leiser und blöder hinzu) »schon zweimal erschienen, unterwegs, als ich die innere Musik hörte, und vorhin im Donnerhäuschen, als die Sonne unterging, und hat mir liebreich geantwortet.«[348]

»Und was sagt' er, Himmlische?« fragte Albano unschuldig. – »Ich sah ihn unterwegs nur an und fragte nichts«, versetzte die Kindliche errötend; und hier stand auf einmal ihre heilige Seele unwissend ohne Flor vor ihm; denn sie hatte im Donnerhäuschen von der unsichtbaren Karoline das Ja zu ihrer Liebe empfangen, weil jene ihr Geschöpf war und dieses ihre – Eingebung. Jawohl, Himmlische! du stehst vor dem Spiegel mit dem jungfräulichen Schleier über deiner Gestalt, und wenn dein Bild seinen leise hebt, glaubst du dich noch verhüllt! –

Kein Wort spricht Albanos Verehrung eines so geheiligten Herzens aus, das verklärte Wesen so helle träumte – dessen goldne Blumen auf dem Gedanken des Todes, wie irdische auf Gottesäckern, nur höher wuchsen – das zugleich mit ihm unsichtbare Hände in zwei ähnliche Träume117 gezogen – dem man sich schämte, gemeine Wahrheiten zu geben für seine heiligen Irrtümer. – – »Du bist vom Himmel« – (sagt' er begeistert, und seine Freude wurde die im Auge zerschmolzene Perle, die den Durst des Menschenherzens löscht) »darum willst du wieder dahin!« – »O ich weihe dir, mein Freund,« (sagte sie lächelnd-weinend und drückte seine Hand an ihr frommes Herz) »das ganze kleine Leben, das ich habe, jede Stunde bis zur letzten, und vorher will ich dich auf alles zubereiten, was Gott schickt.«

Eh sie in des frommen Vaters Hütte traten, griff Albano nach des Freundes Hand, und die Schwestern vereinigten sich. Die Freunde gingen eine Zeitlang stumm voraus; Karl blickte Albano an und fand den Frieden der Seligkeit auf seinem Angesicht. Als dieser sah, wie Liane das überfüllte Herz an das schwesterliche drückte: so wurde die Aufrichtigkeit und Freude in ihm zu stark, und er fiel ohn' ein Wort dem lieben Bruder der ewigen Braut ans Herz und ließ ihn stumm alles erraten aus den Tränen der Seligkeit. O er hätt' es doch erraten aus dem bräutlichen Blick der Liebe, den seine Schwester von seinem Freunde seltener wegzog, und aus der Innigkeit, womit sie Rabetten – gleichsam als würden beide bald einander verwandt, als würde selber[349] der Bruder bald schöner sprechen, da er sie lange nicht mehr die kleine Linda hieß – an ihrem Herzen einweihte für das brüderliche. Bei dem frommen Vater versteckte sich der entzückte Blick wenig, den Albano, gleichsam unter dem Tore der Ewigkeit stehend, in die Himmel warf, die wie Welten hintereinander schimmerten; er war still, sanft, und in seinem Herzen wohnten alle Herzen. O liebe eines rein und warm, so liebst du alle nach, und das Herz in seinem Himmel sieht wie die wandelnde Sonne vom Tau bis zum Meere nichts als Spiegel, die es wärmt und füllt.

Aber in Roquairol fuhr sogleich, als er das himmlische Glück so nahe sah, der aufrührerische Geist seiner Vergangenheit und schlug epileptisch die Glieder des innern Menschen blutig – die unsterblichen Seufzer nach dem ewig fliehenden Frieden quälten ihn wieder, seine Fehltritte und Irrtümer und sogar die Stunden, wo er unschuldig litt, wurden ihm schmerzlich vorgerechnet und da sprach er (und rührte jedes Herz, am meisten aber das der armen Rabette, das er, sich zu erwärmen, an sich preßte, wie nach der Sage der Adler die Taube, der dann sie nicht zerreißet) – da sprach er edel von der Wüstenei des Lebens und vom Schicksal, das den Menschen wie den Vesuv zum Krater ausbrenne und dann wieder kühle Auen darein säe und ihn wieder mit Feuer fülle – und vom einzigen Glück des hohlen Lebens, von der Liebe, und von der Verletzung, wenn das Geschick mit seinen Winden eine Blume118 reibend hin- und herbewege und dadurch die grüne Rinde an der Erde durchschneide. – –

Aber indem er so sprach, sah er die glühende Rabette an und wollte durch diese Erwärmungen gleich sam die feste Blumenknospe seiner Liebe gewaltsam sprengen und die Blätter unter die Sonne breiten – o ganz glücklich war doch der Verworrene und Sehnsüchtige auch heute nicht, und er wollte weniger andere rühren als sich.

Wie selig-ahnend traten sie wieder heraus vor die Sphinx der Nacht, welche lächelnd mit sanften Sternenblicken vor ihnen lag. Gingen sie nicht durch eine stille, dämmernde Unterwelt, leicht und frei ohne die schwere, klebende Erde an den Füßen, und im[350] weiten Elysium flattert nur der warme Äther, weil ihn unsichtbare Psychen mit ihren Flügeln schlagen? Und aus dem Flötentale sendet ihnen der Greis seine Töne als süße Liebespfeile nach, damit das schwellende Herz an ihren Wunden selig blute. – Albano und Liane kamen vor eine Aussicht, wo die weite Morgenlandschaft mit den Lichtstreifen von blühenden Mohnfeldern und mit dunkeln Dörfern an die sanften Gebirge hinanstieg, wo der Mond aufwachte und der Glanz seines Gewandes schon wie der eines Geistes durch den Himmel streifte – hier blieben sie, auf die Luna wartend, stehen. Albano hielt ihre Hand. Alle Gebirge seines Lebens standen im glühenden Morgenrot. »Liane,« (sagt' er) »so unzählige Frühlinge sind jetzt droben auf den Welten, die herunterhängen; aber dieser ist der schönste.« – »Ach das Leben ist lieblich, und heute wird es mir zu lieb. – Albano,« (setzte sie leise dazu, und ihr ganzes Angesicht wurde eine erhabne tränenlose Liebe, und die Sterne webten und stickten ihr Brautkleid) »wenn mich Gott fodert, so lass' er mich dir immer erscheinen wie mir Karoline; o wenn ich dich nur so durch dein ganzes liebes Leben begleiten und trösten und warnen könnte, ich wünschte gern keinen andern Himmel.«

Aber als er die Fülle seiner Liebe und den zürnenden Schmerz über den Todeswahn aussprechen wollte, so kam sein wilder Freund, der, wie ein Vesuv Lava- und Regenströme zugleich über die gläubige Rabette ausgießend, ihr und sich das Herz nur voller, nicht leichter gemacht; da sah Karl die verherrlichten Menschen an und den blauen Horizont, wo schon der Mond seinen Schimmer zwischen den festen Mastspitzen und Gipfeln vorauswarf, und blickte wieder in den Glanz der heiligen Liebe. – Da konnt'er sich nicht länger halten, sein qualvolles Herz stieg wie zu Gott auf zu einem ewigen Entschluß, und er umfaßte Albano und Rabette und sagte: »Geliebter! – Geliebte! – behaltet mein unglückliches Herz!« –

Rabette umklammerte ihn mitleidig wie eine Mutter das Kind und gab ihm heiß-weinend ihre ganze Seele hin. – Albano umschloß staunend den Liebesbund. – Liane wurde vom Strudel der Wonne an die geliebten Herzen gezogen. – Ungehört riefen die[351] Flöten fort, ungesehen wehten die weißen Fahnen der Sterne darüber. – Karl sprach wahnsinnige Worte der Liebe und wilde Wünsche des Freuden-Todes. – Albano berührte bebend Lianens Blumenlippe, wie Johannes Christum küßte, und die schwere Milchstraße bog sich wie eine Wünschelrute hernieder zu seinem goldnen Glück. – Liane seufzete: »O Mutter, wie sind deine Kinder glücklich.« – Der Mond war schon wie ein weißer Engel des Friedens in das Blau geflogen und verklärte die große Umarmung; aber die Seligen merkten es nicht. Wie ein Wasserfall überdeckte sie brausend das reiche Leben, und sie wußten es nicht, daß die Flöten schwiegen und alle Hügel glänzten.


Ende des zweiten Bandes[352]

114

Dieses Selbst-Ertönen – wie die Riesenharfe bei verändertem Wetter unberührt anklingt – ist in Migräne und andern Krankheiten der Schwäche häufig; daher im Sterben; z.B. in Jakob Böhme schlug das Leben wie eine Konzertuhr seine Stunde von Harmonien umrungen aus.

115

Irgendeine uneigennützige Liebe muß ewig gewesen sein. Wie es ewige Wahrheiten gibt, so muß es auch eine ewige Liebe geben.

116

Darum vielleicht, warum der Dichter seine so bestimmt und oft angeschaueten Geschöpfe nicht in seinen Träumen unter den Bildern des Tages gehen sieht.

117

Denn an seinem und ihrem Abendmahlstage hatt' er an ihren Tod durch das Gewitter geglaubt.

118

z.B. die Winterlevkoje.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 3, München 1959–1963, S. 341-353.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Titan
Sämtliche Werke, 10 Bde., Bd.3, Titan
Titan (insel taschenbuch)
Titan. Bd. 1/2
Titan: A Romance from the German (German Edition)
Titan, Volumes 1-2 (German Edition)

Buchempfehlung

Jean Paul

Vorschule der Ästhetik

Vorschule der Ästhetik

Jean Pauls - in der ihm eigenen Metaphorik verfasste - Poetologie widmet sich unter anderem seinen zwei Kernthemen, dem literarischen Humor und der Romantheorie. Der Autor betont den propädeutischen Charakter seines Textes, in dem er schreibt: »Wollte ich denn in der Vorschule etwas anderes sein als ein ästhetischer Vorschulmeister, welcher die Kunstjünger leidlich einübt und schulet für die eigentlichen Geschmacklehrer selber?«

418 Seiten, 19.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon