Die letzte oder vierte Kautel der Köpfe,
das Indifferenzieren von deren Gehirnen

[414] betreffend, frag' ich bloß: haben viele unter Ihnen es schon untersucht, warum die meisten Poetiker einander so ähnlich sehen als sich (nach Archenholz) die Gesichter der Kalmücken? Ich habe halb im Scherz die Züge gezählt: ungemeines Lob der sinnlichen Liebe – der frechen Kraft- der Poesie – Goethens – Shakespeares – Calderons – der Griechen im allgemeinen – der Weiber – und entweder Fichtens oder Schellings (denn es kommt auf das Alter des Schreibers an) – dann ungemeiner Tadel der Menschenliebe – der Empfindsamkeit – des Geschäftlebens – Kotzebuens – des von Sokrates und Longin gelobten Euripides – Bouterweks – selber der Moral. Dies ist ein schwacher gedrängter Auszug aus ein paar tausend teils gedruckten, teils zu hoffenden Werken. So daß man jetzo fast in vielen Büchern die süß-seltsame Empfindung hat, immer Gegenden zu begegnen, die man schon einmal gesehen zu haben schwören wollte, was Psychologen aus Vorträumen herleiten, ich hier aber mehr aus Nachträumen. Der alte wahre Grundsatz, den Sulzer von Künstlern anführt, daß man erst nach dem siebenten Kopieren ein Kunstwerk mit allen Schönheiten innenhabe, wurde auf die schönste Weise auf Dichter angewandt, besonders auf Goethe; da die Schönheiten dieses Ur-Dichters, so wie Raffaels seine, so schwer das rechte Auge finden: so ist es ein Glück für die Literatur, daß man sie unaufhörlich kopiert, um sie einigermaßen zu entschleiern. Ist dies geschehen, dann braucht man ein oder ein paar hundert Nachahmer weniger; daher auch die Zeit ein wahrer Pombal ist, welcher die 22 000 Kopisten im Finanzdepartement auf 32 herabsetzte.

Was die Philosophie anlangt: so wird aus Selbstständigkeit keinen Philosophen nachgesprochen als solchen, die eben nicht nachsprechen, woraus wieder Indifferenzieren der Köpfe entsteht; so wie auf hohen Bergen selber der Schall dünn und kurz ausfällt, indes eben die niedern Berge umher das stärkste Echo geben. Wenn Platon in seiner Republik ein gutes Gedächtnis unter die Erfordernisse eines Weltweisen zählt: so hat, dünkt mich, unsere[414] Zeit mehr Philosophen als eine gegeben, da wohl die meisten, die schreiben, durch die treueste Wiederholung dessen, was sie von einem einzigen teils gelesen, teils gehört, am besten zeigen, wie viel sie zu behalten vermögen.

Eine ebenso erlaubte als nützliche Weise, einen fremden Gedanken vom Lehrstuhle oder auch vom Musenberg zu holen, um ihn zu einem eignen aufzufüttern, ist schon vorbildlich in der Schweiz bei den Wildsennen gewöhnlich, welche das Weide-Vieh jung wegstehlen und erst groß gewachsen, bis zur Unkenntlichkeit, zu Markte treiben.252

Aber eben durch dieses Nachahmen, Absehen und Abstehlen wurde dem gelehrten Gemeinwesen jene unteilbare Einheit, Festigkeit und Unveränderlichkeit verschafft, welche sonst nur ein Vorzug der Ewigkeit schien; denn immerhin sukzediere Messe der Messe: die Werke, die darin erscheinen, bleiben sich gleich und behaupten und malen sämtlich dasselbe, so daß nur Verleger und Jahrzahl einen unwesentlichen Unterschied machen. Jede Messe ist eine neue, aber verbesserte Auflage der vorigen, desgleichen ein solcher Nachdruck.

Wenn nach 4 Kautelen des Kopfes 4 Kautelen des Herzens kommen: so mach' ich am liebsten mit der kürzesten, d.h. mit

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Bronners Leben. 2. B.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 414-415.
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