Dritte Viertelstunde
Höhere Würdigung des deutschen Vielschreibens

[496] Ich weiß eigentlich kein Volk, das so viel schreiben sollte als das deutsche, und wär' es auch nur aus zwei Gründen, wiewohl das Honorar wenigstens ein kleiner bleibt. Erstlich wird ein deutscher Schreiber nicht so oft abgedruckt, geschweige verkauft, wie z.B. ein Londoner, der viertausend Exemplare in wenigen Tagen ab setzt, denn ein deutscher muß Gott für vierhundert danken. Er kann aber vielerlei Bücher schreiben, deren kärglicher Gesamtverkauf[496] so viel ausmacht als der starke eines einzigen. Er könnte sogar – will man nebenher ins Kleine gehen – im Buche selber für dessen Vervielfältigung arbeiten durch Dickmachen, und wär' es oft durch die scheinbar erbärmlichsten Künste; er könnte z.B. durch häufige Absätze den Absatz ersetzen, oder könnt' es durch die zum Glücke uns Deutschen schon geläufige Weitschweifigkeit tun, für die ich fast einen elenden Kunstgriff empfehlen möchte. Man sage nämlich häufig »wie gedacht« oder »wie gesagt« oder »die Wahrheit zu sagen«: so kann man es sogleich wieder sagen; es ist doch etwas.

Zweitens – erstlich sagt' ich schon oben – sind wir Deutsche ein Volk, das, die Wahrheit zu sagen, für seine Ehre zu sorgen hat und, da es die ganzen Arme nicht mehr politisch bewegen kann, wenigstens die Finger daran regen soll zum Schreiben. Wir gleichen nämlich der herrlichen Bildsäule Laokoons, die ihre Arme sich an der Zeit zerbrochen hat, aber so trefflich ergänzte vom Meister Michael Angelo erhalten, daß man sie ihr immer zu Füßen legt; denn die Stummeln davon, womit die Feder statt der Waffen zu führen ist, sitzen ja noch an den Achseln fest. Jener große Redner gab dreimal die actio (die Handlung und Bewegung) als die eigentliche Beredsamkeit an; wir kehren es ebensoleicht um und sagen dreimal: Reden oder Schreiben ist das höchste Handeln. – Und wenn wundärztlich nichts so gut verbrannte Finger heilt als Dinte: so haben wir, dünkt mich, ja beides. Und wenn es in Norwegen ganze christliche Tempel279 von Papier mache gibt: so haben wir zu unsern Ehrentempeln und Janustempeln ja Papier genug, wenigstens die Lumpen dazu.

279

In Hoop, unweit Bergen; sogar das Dach ist papiern. Allg. Anzeiger Nro. 115. 1807.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 496-497.
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